Tatbestand:

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1963 geborene Kläger beantragte im April 2000 Versorgung nach dem OEG und gab an, in der Zeit von 1973 bis 1978 Opfer sexuellen Missbrauchs durch den Vater geworden zu sein.

Der Beklagte zog eine Aufstellung der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers von der B.Kasse sowie die Akten der Staatsanwaltschaft M. (34 Js 266/86) bei. Aus diesen ergibt sich, dass der Vater des Klägers, Herr H. K, mit Urteil des Landgerichts M. vom 21.08.1987 wegen fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden ist. Dabei wurden bis zum 14. Lebensjahr mindestens 36 Fälle zum Nachteil des Bruders des Klägers und mindestens 30 Vorfälle zum Nachteil des Klägers bis Mitte 1977 als nachgewiesen angesehen.

Der Beklagte holte Befundberichte von dem Internisten Dr. M., der Psychiaterin Dr. N. und dem Allgemeinmediziner Dr. S. ein, denen der Entlassungsbericht der W.-Klinik für Psychiatrie M. über den Aufenthalt des Klägers vom 29.01.1996 bis zum 17.06.1996 beigefügt war. Sodann ließ er den Kläger durch den Psychiater Dr. W. begutachten. Dieser diagnostizierte eine Persönlichkeitsstörung und eine posttraumatische Belastungsstörung. Für die posttraumatische Belastungsstörung hielt er eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert (v. H.) für angemessen. Die Persönlichkeitsstörung, die er als schädigungsunabhängig beurteilte, schätzte er mit einer MdE um 60 v. H. ein.

Nach versorgungsärztlicher Auswertung erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 18.09.2000 eine posttraumatische Belastungsstörung durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG hervorgerufen an. Eine Rente könne nicht gewährt werden, weil die Schädigungsfolge keine MdE von wenigstens 25 v. H. erreiche. Ein besonderes berufliches Betroffensein wurde verneint.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte im Wesentlichen geltend, es sei eine MdE von mehr als 25 v. H. anzunehmen. Zur Begründung verwies auf das Parallelverfahren seiner Schwester. Bei dieser habe ebenfalls ein sexueller Missbrauch durch den Vater zwischen 1974 bis 1977 stattgefunden. Als Nachweis legte er den Bewilligungsbescheid vor. Danach hatte der Beklagte bei der Schwester des Klägers eine posttraumatische Belastungsstörung mit einer MdE um 50 v. H. unter Hinweis auf § 10a OEG anerkannt. Des Weiteren reichte der Kläger einen Bericht der behandelnden Ärztin Dr. N. sowie ein Gutachten der Diplom-Psychologin Frau R. zu den Akten.

Nachdem der Beklagte den Reha-Entlassungsbericht der G.-Klinik, Psychosomatische Fachklinik, über den Aufenthalt des Klägers vom 11.09.2000 bis zum 07.10.2000 beigezogen und die medizinischen Unterlagen versorgungsärztlich ausgewertet hatte, wies er den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2001, zugegangen am 20.04.2001, zurück. Er führte aus, eine MdE um 25 v. H. werde nicht erreicht; bei dem Vergleich der Angelegenheit des Klägers mit der seiner Schwester sei zu berücksichtigen, dass jeder Fall individuell zu bewerten sei.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 21.05.2001 (Montag) vor dem Sozialgericht (SG) Münster Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, bei ihm und seiner Schwester handele es sich um vergleichbare Fälle. Jedenfalls sei die MdE zu gering bewertet worden, weil er unter erheblichen Beeinträchtigungen sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich leide. In diesem Zusammenhang hat er auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung durch Bescheid der LVA W. vom 19.06.2001 hingewiesen.

Das SG hat die Akte der LVA W. beigezogen und einen Befundbericht der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. eingeholt.

Einen Vorschlag des Beklagten, in dem dieser sich bereit erklärte, eine MdE um 25 v. H. festzustellen, hat der Kläger unter Hinweis, vergleichsweise den Rechtsstreit bei Anerkennung einer MdE um 40 v. H. zu beendigen, nicht angenommen.

Des Weiteren hat das SG ein Gutachten von dem Psychiater Dr. H. eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, beim Kläger bestehen weitreichende und tiefgreifende psychische Symptome, die ursächlich auf den sexuellen Missbrauch durch den Vater in den Jahren 1973 bis 1977 zurückzuführen seien. Als psychische Störungen seien eine chronische posttraumatische Belastungsstörung, eine Borderline Persönlichkeitsstörung und eine sexuelle Funktionsstörung zu diagnostizieren. Die Höhe der schädigungsbedingten MdE sei für die chronische posttraumatische Belastungsstörung um 50 v. H., für die Borderline Persönlichkeitsstörung um 40 v. H. und die sexuelle Funktionsstörung um 10 v. H. zu bemessen. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die chronische posttraumatische Belastungsstörung verursacht werden, seien im Vergleich mit den anderen diagnostizierten Störungsbildern im Falle des Klägers als die weitreichendsten und komplexesten zu werten und in großen Teilbereichen mit den Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung identisch. Da durch das zusätzliche Vorliegen der Borderline Persönlichkeitsstörung und der sexuellen Funktionsstörung insgesamt das Ausmaß der Behinderung jedoch nicht relevant erhöht werde, sei die MdE um 50 v. H. zu bewerten. In zwei weiteren Stellungnahmen ist Dr. H. bei seiner Auffassung verblieben.

Den Ausführungen des Sachverständigen hat sich der Beklagte unter Beifügung zahlreicher Stellungnahmen von Dr. M. nicht angeschlossen.

Das SG hat mit Urteil vom 16.12.2004 den Beklagten verurteilt, mit Wirkung ab April 2000 bei dem Kläger eine MdE um 50 v. H. nach dem OEG i. V. m. dem BVG anzuerkennen und demgemäß Versorgungsleistungen an den Kläger zu erbringen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gegen das ihm am 18.01.2005 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 17.02.2005 Berufung eingelegt. Eine rentenberechtigende MdE von mindestens 25 v. H. sei nicht feststellbar. Vorsorglich hat er darauf hingewiesen, dass die schädigenden Vorgänge zeitlich überwiegend vor Inkrafttreten des OEG (15.05.1976) lägen. Ob damit in rechtlicher Hinsicht § 10a OEG einschlägig wäre, etwa weil ggf. auf den zeitlichen Beginn der Fortsetzungstat abzustellen wäre, könne letztlich im Hinblick auf die Höhe der schädigungsbedingten MdE dahinstehen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Münster vom 16.12.2004 abzuändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. F.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 30.05.2005 dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit weiterem Beschluss vom 04.05.2005 wurde die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Münster vom 16.12.2004 bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG ausgesetzt.

Der Senat hat ein psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. K. und ein testpsychologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. S. eingeholt. Prof. Dr. K. hat die sexuellen Missbrauchsfälle als psychische Traumen angesehen. Als Schädigungsfolgen lägen eine chronische posttraumatische Belastungsstörung, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ sowie eine sexuelle Funktionsstörung ohne organische Ursache vor. Die Gesundheitsstörungen seien mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den sexuellen Missbrauch durch den Vater zurückzuführen. Mit den Ausführungen von Dr. H. bestehe Übereinstimmung. Die Gesamtheit aller Schädigungsfolgen bedinge eine MdE um 50 v. H, wobei er dieselben Einzel-MdE-Werte wie der Sachverständige Dr. H. zugrunde legte.

In einer ergänzenden Stellungnahme hat Prof. Dr. K. seine Auffassung bekräftigt, die posttraumatische Belastungsstörung und die sexuelle Funktionsstörung seien als Folge des sexuellen Missbrauchs anzusehen. Das Verhältnis zur Mutter habe sich nach dem 16. Lebensjahr konflikthaft entwickelt, in diesem Zusammenhang seien auch die zeitweiligen Aufenthalte bei dem Vater, wie in der Urteilsbegründung des Landgerichts erwähnt, zu sehen. Sie seien aber nicht als Ausdruck einer tiefgreifenden Beziehungsstörung zur Mutter zu werten. Die Borderline Persönlichkeitsstörung sei durch den sexuellen Missbrauch zumindest maßgebend verschlimmert worden. Die zusammengefasste schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit schätze er weiterhin um 50 v. H. ein.

Der Bewertung des Sachverständigen hat der Beklagte unter Bezugnahme auf versorgungsärztliche Stellungnahmen von der Psychiaterin Dr. S. widersprochen. Diese ist der Auffassung, es sei eine partielle posttraumatische Belastungsstörung gegeben, die allenfalls eine MdE um 25 v. H. begründe. Der sexuelle Missbrauch habe sicherlich zur Entwicklung der jetzt vorliegenden Persönlichkeitsstörung beigetragen, könne aber nicht als zumindest wesentliche Teilursache gewertet werden. Es hätten zahlreiche andere, als schädigungsunabhängig zu wertende Faktoren bestanden. In diesem Zusammenhang hat sie auf den Inhalt des Urteils des Landgerichts Münster vom 21.08.1987 hingewiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Das SG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, Versorgung nach einer MdE um 50 v. H. zu gewähren. Zwar lässt sich dem Urteilstenor nicht entnehmen, aufgrund welcher Schädigungsfolgen Versorgungsleistungen an den Kläger zu gewähren sind. Der Urteilstenor ist jedoch durch die Heranziehung des sonstigen Urteilsinhalts, insbesondere der Entscheidungsgründe, auszulegen (BSG, Beschluss vom 01.03.1993, 11/9b BAr 7/92; BSG, Urteil vom 09.02.1978, 9 RV 28/77; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 8. Auflage, § 136 Rn. 5c). Aus den Entscheidungsgründen geht eindeutig hervor, dass sich die Leistungsverpflichtigung des Beklagten auf die Schädigungsfolgen posttraumatische Belastungsstörung, Borderline Persönlichkeitsstörung und sexuelle Funktionsstörung erstreckt.

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Nach § 1 Abs. 3 BVG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge der Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht ausreichend. Für einen Anspruch nach dem OEG müssen der schädigende Vorgang nachgewiesen und die gesundheitliche Schädigung ursächlich auf diesen Vorgang zurückzuführen sein.

Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger ist anspruchsberechtigt. Er ist Opfer einer vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Der Kläger wurde von seinem Vater langjährig sexuell missbraucht. Es liegt insofern eine Gewalttat vor. Unter Berücksichtigung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und des Urteils des Landgerichts M. vom 21.08.1987 steht fest, dass zum Nachteil des Klägers der Tatbestand des fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß §§ 176, 52 des Strafgesetzbuches (StGB) gegeben ist.

Die tatsächlichen Voraussetzungen, die bei einer Anerkennung einer psychischen Erkrankung im Einzelnen erfüllt sein müssen, ergeben sich zunächst aus den Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AP 2004), denen im Interesse einer objektiven Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist. Des Weiteren sind die die Anhaltspunkte ergänzenden Ausführungen des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim ehemaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Sachverständigenbeirat) vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1., die im Wesentlichen die von der Weltgesundheitsorganisation zusammengestellten ICD 10 zusammenfassen, heranzuziehen.

Unter Zugrundelegung dieser Kriterien liegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme neben der bereits im Bescheid vom 18.09.2000 anerkannten posttraumatischen Belastungsstörung als weitere Schädigungsfolgen eine Borderline Persönlichkeitsstörung und eine sexuelle Funktionsstörung vor. So bestehen Ängste vor dem Verlassenwerden, eine Neigung zu intensiven, aber wenig stabilen Beziehungen, eine tiefgreifende Identitätsstörung sowie wiederholte Suizidhandlungen und selbstverletzende Verhaltensweisen. Die Einschätzung von Prof. Dr. K. und Dr. H. wird durch das testpsychologische Gutachten von Prof. Dr. S. bestätigt. Danach sind bei dem Kläger mannigfache Störungen des Erlebens und Verhaltens gegeben, die aus einer Persönlichkeitsentwicklung resultieren, die die prototypischen Merkmale einer Borderline-Störung aufweisen.

Die sexuelle Funktionsstörung äußert sich nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. H. und Prof. Dr. K. im mangelnden sexuellen Interesse, einer zeitweiligen Aversion gegen genitalen Kontakt und damit verbundenen Errektionsstörungen.

Neben der bereits durch den Beklagten anerkannten posttraumatischen Belastungsstörung sind auch die Borderline Persönlichkeitsstörung und die sexuelle Funktionsstörung als schädigungsbedingt anzusehen. Für die Annahme, dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (Nr. 38 Abs. 1 AP 2004). Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R; BSG, Urteil vom 18.10.1995, 9/9a RVg 4/92) ist im Falle einer seelischen Krankheit bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs zu berücksichtigen, dass sich der Einfluss eines seelisch belastenden Vorgangs, wie etwa die Auswirkung von Sexualdelikten, auf die Entstehung eines seelischen Dauerleidens nicht sachgerecht gewichten lässt, da sich immer Veranlagungen, Umwelteinflüsse, Lebensführung und andere Vorgänge als mehr oder weniger wirkende Mitursachen feststellen lassen. Die so bestehende Ungewissheit bezüglich der mitwirkenden Faktoren darf aber nicht zu Lasten des Beschädigten gehen. Daher ist im Wege der Beweiserleichterung die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs bei einer seelischen Krankheit anzunehmen, wenn nach der herrschenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft ein bestimmter seelisch belastender Vorgang allgemein geeignet ist, die bei dem Beschädigten bestehende seelische Krankheit hervorzurufen. Insoweit seien die Kriterien der Anhaltspunkte zur Kausalitätsbeurteilung von Folgen psychischer Traumen zu beachten.

Nach Nr. 71 AP 2004 kommen durch psychische Traumen bedingte Störungen sowohl nach langdauernden psychischen Belastungen (z. B. in Kriegsgefangenschaft) als auch nach relativ kurzdauernden Belastungen (z. B. Geiselnahme, Vergewaltigung) in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit dem Erleben von Angst und Ausgeliefertsein verbunden waren. Die Störungen können nach ihrer Art, Ausprägung, Auswirkung und Dauer verschieden sein; sie können kurzfristigen reaktiven Störungen mit krankheitswertigen (häufigen depressiven) Beschwerden entsprechen; bei einer Dauer von mehreren Monaten bis zu ein bis zwei Jahren sind sie in der Regel durch typische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung charakterisiert, ohne diagnostisch auf diese begrenzt zu sein; sie treten gelegentlich auch nach einer Latenzzeit auf. Anhaltend kann sich eine Chronifizierung der Störungen mit Misstrauen, Rückzug, Motivationsverlust, Gefühl der Leere und Entfremdung ergeben. Anhaltende Störungen setzen tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende und in der Regel langdauernde Belastungen voraus. Auch die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter (z. B. sexueller Missbrauch, häufige Misshandlungen) sind nach Art und Intensität sehr unterschiedlich. Sie können ebenso zu Neurosen wie zu vorübergehenden oder chronifizierten Reaktionen führen.

Zur Überzeugung des Senats waren die an dem Kläger in der Kindheit verübten Gewalttaten in Form sexuellen Missbrauchs geeignet, auch die Borderline Persönlichkeitsstörung und die sexuelle Funktionsstörung hervorzurufen. Für die Entwicklung der Borderline Persönlichkeitsstörung sind sie zumindest wesentliche Teilursache gewesen. So stellt nach den Angaben des Sachverständigen Dr. H. der langjährige sexuelle Missbrauch durch den Vater für den Kläger ein belastendes Lebensereignis von außergewöhnlichem Ausmaß dar. Diese Erfahrungen haben bei ihm starke Ängste und ein Gefühl der Hilflosigkeit nach sich gezogen. Auch Prof. Dr. K. sieht die sexuellen Missbrauchsfälle als psychische Traumen an. Er hat betont, die sexuellen Missbrauchsfälle haben einen überwältigenden, katastrophalen traumatischen Erlebnischarakter mit einer ernsthaften Bedrohung für die Sicherheit oder körperliche Unversehrtheit des Klägers mit Gefühl von intensiver Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen. Zudem hat Dr. H. auf die sehr hohe pathogenetische Bedeutung psychischer Traumatisierungen für die Entstehung der Persönlichkeitsstörung hingewiesen. Die Ausführungen von Dr. H. und Prof. Dr. K. stehen im Einklang mit den Feststellungen von Prof. Dr. S. Danach liegt nach dem Untersuchungsbefund eine Persönlichkeitsentwicklung des Klägers vor, wie sie als persistierende Erlebnis- und Verhaltensstörungen nach schwerer Traumatisierung im Sinne unverarbeiteter Erlebnisinhalte gesehen werden.

Dabei verkennt der Senat nicht, dass bei der Entstehung einer Borderline Persönlichkeitsstörung von einer multifaktoriellen Genese auszugehen ist. Eine tiefe Beziehungsstörung zur Mutter als klassischer Faktor für die Entstehung einer Borderline-Störung konnte aber auch Prof. Dr. K. nicht feststellen. Das Verhältnis zur Mutter hat sich nach dem 16. Lebensjahr konflikthaft entwickelt, in diesem Zusammenhang sind auch die zeitweiligen Aufenthalte bei dem Vater, wie in der Urteilsbegründung des Landgerichts erwähnt, zu sehen. Sie sind aber nicht als Ausdruck einer tiefgreifenden Beziehungsstörung zur Mutter zu werten. Diese Einschätzung steht auch im Einklang mit dem Inhalt des Urteils des Landgerichts M. vom 21.08.1987. Danach fühlte sich der Angeklagte während seiner Ehe häufig so, als stände er allein, während seine Ehefrau und die Kinder eine Gemeinschaft bildeten. Zwar ist in diesem Urteil auch ausgeführt, die gesamte Familiensituation sei für die Persönlichkeitsschädigung des Klägers und des Bruders ursächlich gewesen, da sie durch Spannungen zwischen den Ehepartnern, durch übermäßiges Prügeln und durch uneinheitliche Erziehungsstile gekennzeichnet gewesen sei. In einer solchen Familie könnten Kinder nicht zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit heranreifen. Aber auch das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die sexuellen Missbrauchshandlungen des Angeklagten zur Persönlichkeitsschädigung der Söhne mit beigetragen haben.

Insgesamt spricht zur Überzeugung des Senats mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Borderline Persönlichkeitsstörung und dem sexuellen Missbrauch. Dabei ist diese Gesundheitsstörung in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. H. im Sinne der Entstehung auf den langjährigen sexuellen Missbrauch durch den Vater zurückzuführen.

Schließlich ist nach den zutreffenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. H. und Prof. Dr. K. auch eine Kausalität zwischen der sexuellen Funktionsstörung, die ohne Organbefund ist, und dem sexuellen Missbrauch des Klägers zu bejahen.

Die Einschätzung der gerichtlich gehörten Sachverständigen, für die posttraumatische Belastungsstörung eine MdE um 50 v. H. zugrunde zu legen, entspricht den Vorgaben der Anhaltspunkte. Nach Nr. 26.3 Seite 48 AP 2004 (Nr. 26.3 Seite 61 AP 1996) sind Folgen psychischer Traumen mit schweren Störungen mit einer MdE von 50 bis 70 zu beurteilen. Es liegen insofern mittelgradige soziale Anpassungsstörungen bei dem Kläger vor. Sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich leidet der Kläger unter erheblichen Problemen. Er ist nicht in der Lage, Konflikte angemessen und konstruktiv auszutragen. Männliche Autoritätspersonen lösen bei ihm starke Ängste oder deutlich aggressive Emotionen aus. Von mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten geht auch Dr. M. in seinen Stellungnahmen aus, sieht diese jedoch im Gegensatz zur Dr. H. und Prof. Dr. K. unzutreffend als schädigungsunabhängig an.

Ob das SG unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte in Übereinstimmung mit Dr. H. und Prof. Dr. K. zu Recht für die Borderline Persönlichkeitsstörung eine MdE um 40 v. H. und für die sexuelle Funktionsstörung eine MdE um 10 v. H. zugrunde gelegt hat, kann dahingestellt bleiben. Zwar ist nach den Anhaltspunkten (Nr. 19 Abs. 3 AP 1996/2004) ausgehend von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Funktionsbeeinträchtigungen vergrößert wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen MdE-Grad von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesundheitsbeeinträchtigungen führen und dass es vielfach bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem MdE-Grad von 20 nicht gerechtfertigt ist, eine Erhöhung vorzunehmen. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Gegen das Urteil des SG ist nur von Seiten des Beklagten Berufung eingelegt worden.

Für die von dem Beklagten hilfsweise beantragte Einholung eines Gutachtens von Prof. F. hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Unter Berücksichtigung der im Klage- und Berufungsverfahren durchgeführten Beweiserhebung wurde der Sachverhalt ausreichend ermittelt. Im Übrigen hat es der Beklagte selbst nicht für notwendig erachtet, vor Anerkennung der posttraumatischen Belastungsstörung Prof. Dr. F. zu hören.

Ob vorliegend § 10a OEG einschlägig ist, kann ebenfalls dahingestellt bleiben. Zweifel hinsichtlich der Anwendung dieser Vorschrift bestehen, weil der Kläger auch nach dem Inkrafttreten des OEG (15.05.1976) von seinem Vater noch bis Mitte 1997 missbraucht worden ist. Selbst wenn § 10a OEG einschlägig wäre, sind dem Kläger Versorgungsleistungen zu gewähren.

Nach § 10a Abs. 1 OEG erhalten Personen, die durch in der Zeit vom 23.05.1949 bis 15.05.1976 begangene Taten geschädigt worden sind, auf Antrag nach §§ 1 bis 7 Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Der Kläger ist infolge der oben aufgeführten Schädigungsfolgen gemäß § 31 Abs. 3 BVG schwerbeschädigt. Eine Bedürftigkeit im Sinne des § 10a Abs. 2 OEG liegt ebenfalls vor. Nach Überprüfung seiner Einkommensverhältnisse ist dem Kläger mit Beschluss vom 30.05.2005 Prozesskostenhilfe gewährt worden. Auch im Klageverfahren wurde ihm bereits Prozesskostenhilfe gewährt (Beschluss vom 19.02.2002). Da er zudem seinen Wohnsitz im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, liegen auch die Voraussetzungen des § 10a OEG vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.