LSG NRW - L 7 VG 7/05 - Urteil vom 01.06.2006
Jahrelanger sexueller Missbrauch eines Minderjährigen kann bei diesem nicht nur für eine posttraumatische Belastungsstörung und sexuelle Funktionsstörungen, sondern auch für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, bei der grundsätzlich von einer multifaktoriellen Genese auszugehen ist, ursächlich sein.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i. V. m.
dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1963 geborene Kläger beantragte im April 2000 Versorgung nach dem OEG und
gab an, in der Zeit von 1973 bis 1978 Opfer sexuellen Missbrauchs durch den
Vater geworden zu sein.
Der Beklagte zog eine Aufstellung der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers von
der B.Kasse sowie die Akten der Staatsanwaltschaft M. (34 Js 266/86) bei. Aus
diesen ergibt sich, dass der Vater des Klägers, Herr H. K, mit Urteil des
Landgerichts M. vom 21.08.1987 wegen fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von
Kindern zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden ist. Dabei
wurden bis zum 14. Lebensjahr mindestens 36 Fälle zum Nachteil des Bruders des
Klägers und mindestens 30 Vorfälle zum Nachteil des Klägers bis Mitte 1977 als
nachgewiesen angesehen.
Der Beklagte holte Befundberichte von dem Internisten Dr. M., der Psychiaterin
Dr. N. und dem Allgemeinmediziner Dr. S. ein, denen der Entlassungsbericht der
W.-Klinik für Psychiatrie M. über den Aufenthalt des Klägers vom 29.01.1996 bis
zum 17.06.1996 beigefügt war. Sodann ließ er den Kläger durch den Psychiater Dr.
W. begutachten. Dieser diagnostizierte eine Persönlichkeitsstörung und eine
posttraumatische Belastungsstörung. Für die posttraumatische Belastungsstörung
hielt er eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert (v. H.)
für angemessen. Die Persönlichkeitsstörung, die er als schädigungsunabhängig
beurteilte, schätzte er mit einer MdE um 60 v. H. ein.
Nach versorgungsärztlicher Auswertung erkannte der Beklagte mit Bescheid vom
18.09.2000 eine posttraumatische Belastungsstörung durch schädigende
Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG hervorgerufen an. Eine Rente könne nicht
gewährt werden, weil die Schädigungsfolge keine MdE von wenigstens 25 v. H.
erreiche. Ein besonderes berufliches Betroffensein wurde verneint.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte im Wesentlichen geltend,
es sei eine MdE von mehr als 25 v. H. anzunehmen. Zur Begründung verwies auf das
Parallelverfahren seiner Schwester. Bei dieser habe ebenfalls ein sexueller
Missbrauch durch den Vater zwischen 1974 bis 1977 stattgefunden. Als Nachweis
legte er den Bewilligungsbescheid vor. Danach hatte der Beklagte bei der
Schwester des Klägers eine posttraumatische Belastungsstörung mit einer MdE um
50 v. H. unter Hinweis auf § 10a OEG anerkannt. Des Weiteren reichte der Kläger
einen Bericht der behandelnden Ärztin Dr. N. sowie ein Gutachten der
Diplom-Psychologin Frau R. zu den Akten.
Nachdem der Beklagte den Reha-Entlassungsbericht der G.-Klinik, Psychosomatische
Fachklinik, über den Aufenthalt des Klägers vom 11.09.2000 bis zum 07.10.2000
beigezogen und die medizinischen Unterlagen versorgungsärztlich ausgewertet
hatte, wies er den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom
12.04.2001, zugegangen am 20.04.2001, zurück. Er führte aus, eine MdE um 25 v.
H. werde nicht erreicht; bei dem Vergleich der Angelegenheit des Klägers mit der
seiner Schwester sei zu berücksichtigen, dass jeder Fall individuell zu bewerten
sei.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 21.05.2001 (Montag) vor dem
Sozialgericht (SG) Münster Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, bei
ihm und seiner Schwester handele es sich um vergleichbare Fälle. Jedenfalls sei
die MdE zu gering bewertet worden, weil er unter erheblichen Beeinträchtigungen
sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich leide. In diesem Zusammenhang
hat er auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung durch Bescheid der
LVA W. vom 19.06.2001 hingewiesen.
Das SG hat die Akte der LVA W. beigezogen und einen Befundbericht der Ärztin für
Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. eingeholt.
Einen Vorschlag des Beklagten, in dem dieser sich bereit erklärte, eine MdE um
25 v. H. festzustellen, hat der Kläger unter Hinweis, vergleichsweise den
Rechtsstreit bei Anerkennung einer MdE um 40 v. H. zu beendigen, nicht
angenommen.
Des Weiteren hat das SG ein Gutachten von dem Psychiater Dr. H. eingeholt. Der
Sachverständige hat ausgeführt, beim Kläger bestehen weitreichende und
tiefgreifende psychische Symptome, die ursächlich auf den sexuellen Missbrauch
durch den Vater in den Jahren 1973 bis 1977 zurückzuführen seien. Als psychische
Störungen seien eine chronische posttraumatische Belastungsstörung, eine
Borderline Persönlichkeitsstörung und eine sexuelle Funktionsstörung zu
diagnostizieren. Die Höhe der schädigungsbedingten MdE sei für die chronische
posttraumatische Belastungsstörung um 50 v. H., für die Borderline
Persönlichkeitsstörung um 40 v. H. und die sexuelle Funktionsstörung um 10 v. H.
zu bemessen. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die
chronische posttraumatische Belastungsstörung verursacht werden, seien im
Vergleich mit den anderen diagnostizierten Störungsbildern im Falle des Klägers
als die weitreichendsten und komplexesten zu werten und in großen Teilbereichen
mit den Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung identisch. Da durch das
zusätzliche Vorliegen der Borderline Persönlichkeitsstörung und der sexuellen
Funktionsstörung insgesamt das Ausmaß der Behinderung jedoch nicht relevant
erhöht werde, sei die MdE um 50 v. H. zu bewerten. In zwei weiteren
Stellungnahmen ist Dr. H. bei seiner Auffassung verblieben.
Den Ausführungen des Sachverständigen hat sich der Beklagte unter Beifügung
zahlreicher Stellungnahmen von Dr. M. nicht angeschlossen.
Das SG hat mit Urteil vom 16.12.2004 den Beklagten verurteilt, mit Wirkung ab
April 2000 bei dem Kläger eine MdE um 50 v. H. nach dem OEG i. V. m. dem BVG
anzuerkennen und demgemäß Versorgungsleistungen an den Kläger zu erbringen. Auf
die Entscheidung wird Bezug genommen.
Gegen das ihm am 18.01.2005 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 17.02.2005
Berufung eingelegt. Eine rentenberechtigende MdE von mindestens 25 v. H. sei
nicht feststellbar. Vorsorglich hat er darauf hingewiesen, dass die schädigenden
Vorgänge zeitlich überwiegend vor Inkrafttreten des OEG (15.05.1976) lägen. Ob
damit in rechtlicher Hinsicht § 10a OEG einschlägig wäre, etwa weil ggf. auf den
zeitlichen Beginn der Fortsetzungstat abzustellen wäre, könne letztlich im
Hinblick auf die Höhe der schädigungsbedingten MdE dahinstehen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Münster vom 16.12.2004 abzuändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. F.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat mit Beschluss vom 30.05.2005 dem Kläger Prozesskostenhilfe
bewilligt. Mit weiterem Beschluss vom 04.05.2005 wurde die Vollstreckung aus dem
Urteil des Sozialgerichts Münster vom 16.12.2004 bis zur Erledigung des
Rechtsstreits in der Berufungsinstanz gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG ausgesetzt.
Der Senat hat ein psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. K. und ein
testpsychologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. S. eingeholt. Prof. Dr. K. hat
die sexuellen Missbrauchsfälle als psychische Traumen angesehen. Als
Schädigungsfolgen lägen eine chronische posttraumatische Belastungsstörung, eine
emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ sowie eine
sexuelle Funktionsstörung ohne organische Ursache vor. Die Gesundheitsstörungen
seien mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den sexuellen Missbrauch durch den Vater
zurückzuführen. Mit den Ausführungen von Dr. H. bestehe Übereinstimmung. Die
Gesamtheit aller Schädigungsfolgen bedinge eine MdE um 50 v. H, wobei er
dieselben Einzel-MdE-Werte wie der Sachverständige Dr. H. zugrunde legte.
In einer ergänzenden Stellungnahme hat Prof. Dr. K. seine Auffassung bekräftigt,
die posttraumatische Belastungsstörung und die sexuelle Funktionsstörung seien
als Folge des sexuellen Missbrauchs anzusehen. Das Verhältnis zur Mutter habe
sich nach dem 16. Lebensjahr konflikthaft entwickelt, in diesem Zusammenhang
seien auch die zeitweiligen Aufenthalte bei dem Vater, wie in der
Urteilsbegründung des Landgerichts erwähnt, zu sehen. Sie seien aber nicht als
Ausdruck einer tiefgreifenden Beziehungsstörung zur Mutter zu werten. Die
Borderline Persönlichkeitsstörung sei durch den sexuellen Missbrauch zumindest
maßgebend verschlimmert worden. Die zusammengefasste schädigungsbedingte
Minderung der Erwerbsfähigkeit schätze er weiterhin um 50 v. H. ein.
Der Bewertung des Sachverständigen hat der Beklagte unter Bezugnahme auf
versorgungsärztliche Stellungnahmen von der Psychiaterin Dr. S. widersprochen.
Diese ist der Auffassung, es sei eine partielle posttraumatische
Belastungsstörung gegeben, die allenfalls eine MdE um 25 v. H. begründe. Der
sexuelle Missbrauch habe sicherlich zur Entwicklung der jetzt vorliegenden
Persönlichkeitsstörung beigetragen, könne aber nicht als zumindest wesentliche
Teilursache gewertet werden. Es hätten zahlreiche andere, als
schädigungsunabhängig zu wertende Faktoren bestanden. In diesem Zusammenhang hat
sie auf den Inhalt des Urteils des Landgerichts Münster vom 21.08.1987
hingewiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen
Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Das SG hat den Beklagten zu Recht verurteilt, Versorgung nach einer MdE um 50 v.
H. zu gewähren. Zwar lässt sich dem Urteilstenor nicht entnehmen, aufgrund
welcher Schädigungsfolgen Versorgungsleistungen an den Kläger zu gewähren sind.
Der Urteilstenor ist jedoch durch die Heranziehung des sonstigen Urteilsinhalts,
insbesondere der Entscheidungsgründe, auszulegen (BSG, Beschluss vom 01.03.1993,
11/9b BAr 7/92; BSG, Urteil vom 09.02.1978, 9 RV 28/77; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Kommentar zum SGG, 8. Auflage, § 136 Rn. 5c). Aus den Entscheidungsgründen geht
eindeutig hervor, dass sich die Leistungsverpflichtigung des Beklagten auf die
Schädigungsfolgen posttraumatische Belastungsstörung, Borderline
Persönlichkeitsstörung und sexuelle Funktionsstörung erstreckt.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch
dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen
der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in
entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Nach § 1 Abs. 3 BVG genügt
zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge der Schädigung die
Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Nach der Rechtsprechung des
BSG ist die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht ausreichend. Für
einen Anspruch nach dem OEG müssen der schädigende Vorgang nachgewiesen und die
gesundheitliche Schädigung ursächlich auf diesen Vorgang zurückzuführen sein.
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger ist anspruchsberechtigt. Er ist
Opfer einer vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Der
Kläger wurde von seinem Vater langjährig sexuell missbraucht. Es liegt insofern
eine Gewalttat vor. Unter Berücksichtigung der staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungen und des Urteils des Landgerichts M. vom 21.08.1987 steht fest, dass
zum Nachteil des Klägers der Tatbestand des fortgesetzten sexuellen Missbrauchs
von Kindern gemäß §§ 176, 52 des Strafgesetzbuches (StGB) gegeben ist.
Die tatsächlichen Voraussetzungen, die bei einer Anerkennung einer psychischen
Erkrankung im Einzelnen erfüllt sein müssen, ergeben sich zunächst aus den
Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AP 2004), denen im
Interesse einer objektiven Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten
Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist. Des Weiteren sind die die
Anhaltspunkte ergänzenden Ausführungen des ärztlichen Sachverständigenbeirats
beim ehemaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
(Sachverständigenbeirat) vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1., die im Wesentlichen
die von der Weltgesundheitsorganisation zusammengestellten ICD 10
zusammenfassen, heranzuziehen.
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien liegen nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme neben der bereits im Bescheid vom 18.09.2000 anerkannten
posttraumatischen Belastungsstörung als weitere Schädigungsfolgen eine
Borderline Persönlichkeitsstörung und eine sexuelle Funktionsstörung vor. So
bestehen Ängste vor dem Verlassenwerden, eine Neigung zu intensiven, aber wenig
stabilen Beziehungen, eine tiefgreifende Identitätsstörung sowie wiederholte
Suizidhandlungen und selbstverletzende Verhaltensweisen. Die Einschätzung von
Prof. Dr. K. und Dr. H. wird durch das testpsychologische Gutachten von Prof.
Dr. S. bestätigt. Danach sind bei dem Kläger mannigfache Störungen des Erlebens
und Verhaltens gegeben, die aus einer Persönlichkeitsentwicklung resultieren,
die die prototypischen Merkmale einer Borderline-Störung aufweisen.
Die sexuelle Funktionsstörung äußert sich nach den Feststellungen der
Sachverständigen Dr. H. und Prof. Dr. K. im mangelnden sexuellen Interesse,
einer zeitweiligen Aversion gegen genitalen Kontakt und damit verbundenen
Errektionsstörungen.
Neben der bereits durch den Beklagten anerkannten posttraumatischen
Belastungsstörung sind auch die Borderline Persönlichkeitsstörung und die
sexuelle Funktionsstörung als schädigungsbedingt anzusehen. Für die Annahme,
dass eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung ist, genügt
versorgungsrechtlich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Sie
ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung
mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (Nr. 38 Abs. 1 AP
2004). Nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97
R; BSG, Urteil vom 18.10.1995, 9/9a RVg 4/92) ist im Falle einer seelischen
Krankheit bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs zu berücksichtigen, dass sich
der Einfluss eines seelisch belastenden Vorgangs, wie etwa die Auswirkung von
Sexualdelikten, auf die Entstehung eines seelischen Dauerleidens nicht
sachgerecht gewichten lässt, da sich immer Veranlagungen, Umwelteinflüsse,
Lebensführung und andere Vorgänge als mehr oder weniger wirkende Mitursachen
feststellen lassen. Die so bestehende Ungewissheit bezüglich der mitwirkenden
Faktoren darf aber nicht zu Lasten des Beschädigten gehen. Daher ist im Wege der
Beweiserleichterung die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs bei einer
seelischen Krankheit anzunehmen, wenn nach der herrschenden Meinung in der
medizinischen Wissenschaft ein bestimmter seelisch belastender Vorgang allgemein
geeignet ist, die bei dem Beschädigten bestehende seelische Krankheit
hervorzurufen. Insoweit seien die Kriterien der Anhaltspunkte zur
Kausalitätsbeurteilung von Folgen psychischer Traumen zu beachten.
Nach Nr. 71 AP 2004 kommen durch psychische Traumen bedingte Störungen sowohl
nach langdauernden psychischen Belastungen (z. B. in Kriegsgefangenschaft) als
auch nach relativ kurzdauernden Belastungen (z. B. Geiselnahme, Vergewaltigung)
in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit dem Erleben von Angst und
Ausgeliefertsein verbunden waren. Die Störungen können nach ihrer Art,
Ausprägung, Auswirkung und Dauer verschieden sein; sie können kurzfristigen
reaktiven Störungen mit krankheitswertigen (häufigen depressiven) Beschwerden
entsprechen; bei einer Dauer von mehreren Monaten bis zu ein bis zwei Jahren
sind sie in der Regel durch typische Symptome einer posttraumatischen
Belastungsstörung charakterisiert, ohne diagnostisch auf diese begrenzt zu sein;
sie treten gelegentlich auch nach einer Latenzzeit auf. Anhaltend kann sich eine
Chronifizierung der Störungen mit Misstrauen, Rückzug, Motivationsverlust,
Gefühl der Leere und Entfremdung ergeben. Anhaltende Störungen setzen tief in
das Persönlichkeitsgefüge eingreifende und in der Regel langdauernde Belastungen
voraus. Auch die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter (z. B.
sexueller Missbrauch, häufige Misshandlungen) sind nach Art und Intensität sehr
unterschiedlich. Sie können ebenso zu Neurosen wie zu vorübergehenden oder
chronifizierten Reaktionen führen.
Zur Überzeugung des Senats waren die an dem Kläger in der Kindheit verübten
Gewalttaten in Form sexuellen Missbrauchs geeignet, auch die Borderline
Persönlichkeitsstörung und die sexuelle Funktionsstörung hervorzurufen. Für die
Entwicklung der Borderline Persönlichkeitsstörung sind sie zumindest wesentliche
Teilursache gewesen. So stellt nach den Angaben des Sachverständigen Dr. H. der
langjährige sexuelle Missbrauch durch den Vater für den Kläger ein belastendes
Lebensereignis von außergewöhnlichem Ausmaß dar. Diese Erfahrungen haben bei ihm
starke Ängste und ein Gefühl der Hilflosigkeit nach sich gezogen. Auch Prof. Dr.
K. sieht die sexuellen Missbrauchsfälle als psychische Traumen an. Er hat
betont, die sexuellen Missbrauchsfälle haben einen überwältigenden,
katastrophalen traumatischen Erlebnischarakter mit einer ernsthaften Bedrohung
für die Sicherheit oder körperliche Unversehrtheit des Klägers mit Gefühl von
intensiver Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen. Zudem hat Dr. H. auf die sehr
hohe pathogenetische Bedeutung psychischer Traumatisierungen für die Entstehung
der Persönlichkeitsstörung hingewiesen. Die Ausführungen von Dr. H. und Prof.
Dr. K. stehen im Einklang mit den Feststellungen von Prof. Dr. S. Danach liegt
nach dem Untersuchungsbefund eine Persönlichkeitsentwicklung des Klägers vor,
wie sie als persistierende Erlebnis- und Verhaltensstörungen nach schwerer
Traumatisierung im Sinne unverarbeiteter Erlebnisinhalte gesehen werden.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass bei der Entstehung einer Borderline
Persönlichkeitsstörung von einer multifaktoriellen Genese auszugehen ist. Eine
tiefe Beziehungsstörung zur Mutter als klassischer Faktor für die Entstehung
einer Borderline-Störung konnte aber auch Prof. Dr. K. nicht feststellen. Das
Verhältnis zur Mutter hat sich nach dem 16. Lebensjahr konflikthaft entwickelt,
in diesem Zusammenhang sind auch die zeitweiligen Aufenthalte bei dem Vater, wie
in der Urteilsbegründung des Landgerichts erwähnt, zu sehen. Sie sind aber nicht
als Ausdruck einer tiefgreifenden Beziehungsstörung zur Mutter zu werten. Diese
Einschätzung steht auch im Einklang mit dem Inhalt des Urteils des Landgerichts
M. vom 21.08.1987. Danach fühlte sich der Angeklagte während seiner Ehe häufig
so, als stände er allein, während seine Ehefrau und die Kinder eine Gemeinschaft
bildeten. Zwar ist in diesem Urteil auch ausgeführt, die gesamte
Familiensituation sei für die Persönlichkeitsschädigung des Klägers und des
Bruders ursächlich gewesen, da sie durch Spannungen zwischen den Ehepartnern,
durch übermäßiges Prügeln und durch uneinheitliche Erziehungsstile
gekennzeichnet gewesen sei. In einer solchen Familie könnten Kinder nicht zu
einer ausgeglichenen Persönlichkeit heranreifen. Aber auch das Landgericht ist
davon ausgegangen, dass die sexuellen Missbrauchshandlungen des Angeklagten zur
Persönlichkeitsschädigung der Söhne mit beigetragen haben.
Insgesamt spricht zur Überzeugung des Senats mehr für als gegen einen
ursächlichen Zusammenhang zwischen der Borderline Persönlichkeitsstörung und dem
sexuellen Missbrauch. Dabei ist diese Gesundheitsstörung in Übereinstimmung mit
dem Sachverständigen Dr. H. im Sinne der Entstehung auf den langjährigen
sexuellen Missbrauch durch den Vater zurückzuführen.
Schließlich ist nach den zutreffenden Feststellungen der Sachverständigen Dr. H.
und Prof. Dr. K. auch eine Kausalität zwischen der sexuellen Funktionsstörung,
die ohne Organbefund ist, und dem sexuellen Missbrauch des Klägers zu bejahen.
Die Einschätzung der gerichtlich gehörten Sachverständigen, für die
posttraumatische Belastungsstörung eine MdE um 50 v. H. zugrunde zu legen,
entspricht den Vorgaben der Anhaltspunkte. Nach Nr. 26.3 Seite 48 AP 2004 (Nr.
26.3 Seite 61 AP 1996) sind Folgen psychischer Traumen mit schweren Störungen
mit einer MdE von 50 bis 70 zu beurteilen. Es liegen insofern mittelgradige
soziale Anpassungsstörungen bei dem Kläger vor. Sowohl im privaten als auch im
beruflichen Bereich leidet der Kläger unter erheblichen Problemen. Er ist nicht
in der Lage, Konflikte angemessen und konstruktiv auszutragen. Männliche
Autoritätspersonen lösen bei ihm starke Ängste oder deutlich aggressive
Emotionen aus. Von mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten geht auch
Dr. M. in seinen Stellungnahmen aus, sieht diese jedoch im Gegensatz zur Dr. H.
und Prof. Dr. K. unzutreffend als schädigungsunabhängig an.
Ob das SG unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte in Übereinstimmung mit Dr. H.
und Prof. Dr. K. zu Recht für die Borderline Persönlichkeitsstörung eine MdE um
40 v. H. und für die sexuelle Funktionsstörung eine MdE um 10 v. H. zugrunde
gelegt hat, kann dahingestellt bleiben. Zwar ist nach den Anhaltspunkten (Nr. 19
Abs. 3 AP 1996/2004) ausgehend von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung zu
prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen
Funktionsbeeinträchtigungen vergrößert wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen MdE-Grad von 10 bedingen, in der
Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der
Gesundheitsbeeinträchtigungen führen und dass es vielfach bei leichten
Funktionsbeeinträchtigungen mit einem MdE-Grad von 20 nicht gerechtfertigt ist,
eine Erhöhung vorzunehmen. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen
Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehungen zueinander. Gegen das Urteil des SG ist nur von
Seiten des Beklagten Berufung eingelegt worden.
Für die von dem Beklagten hilfsweise beantragte Einholung eines Gutachtens von
Prof. F. hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Unter Berücksichtigung der im
Klage- und Berufungsverfahren durchgeführten Beweiserhebung wurde der
Sachverhalt ausreichend ermittelt. Im Übrigen hat es der Beklagte selbst nicht
für notwendig erachtet, vor Anerkennung der posttraumatischen Belastungsstörung
Prof. Dr. F. zu hören.
Ob vorliegend § 10a OEG einschlägig ist, kann ebenfalls dahingestellt bleiben.
Zweifel hinsichtlich der Anwendung dieser Vorschrift bestehen, weil der Kläger
auch nach dem Inkrafttreten des OEG (15.05.1976) von seinem Vater noch bis Mitte
1997 missbraucht worden ist. Selbst wenn § 10a OEG einschlägig wäre, sind dem
Kläger Versorgungsleistungen zu gewähren.
Nach § 10a Abs. 1 OEG erhalten Personen, die durch in der Zeit vom 23.05.1949
bis 15.05.1976 begangene Taten geschädigt worden sind, auf Antrag nach §§ 1 bis
7 Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und
bedürftig sind sowie im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt haben. Der Kläger ist infolge der oben aufgeführten
Schädigungsfolgen gemäß § 31 Abs. 3 BVG schwerbeschädigt. Eine Bedürftigkeit im
Sinne des § 10a Abs. 2 OEG liegt ebenfalls vor. Nach Überprüfung seiner
Einkommensverhältnisse ist dem Kläger mit Beschluss vom 30.05.2005
Prozesskostenhilfe gewährt worden. Auch im Klageverfahren wurde ihm bereits
Prozesskostenhilfe gewährt (Beschluss vom 19.02.2002). Da er zudem seinen
Wohnsitz im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, liegen auch die Voraussetzungen
des § 10a OEG vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.