SG Düsseldorf – Urteil vom 23.12.2002 – Az.: S 31 SB 197/02 |
1. Die in Punkt 33 der AHP aufgeführten Personen, denen der Nachteilsausgleich RF ohne weitere Prüfung gewährt wird, sind nicht grundsätzlich gehindert an jeder Art von öffentlicher Veranstaltung teilzunehmen. Einem Behinderten der nicht zu der in Punkt 33 aufgeführten Personengruppe gehört ist daher der Nachteilsausgleich "RF" zu gewähren, wenn er in vergleichbarer Weise von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist, wie der in Punkt 33 der AHP aufgeführte Personenkreis.
2. Dass ein Behinderter mit einem Rollstuhl von einer dritten Person zu einer öffentlichen Veranstaltung transportiert werden kann bedeutet noch nicht, dass ihm deshalb der Nachteilsausgleich "RF" zu versagen ist.
T a t b e s t a n d :
Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX - um den Nachteilsausgleich "Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht" - RF -.
Die Klägerin ist 1934 geboren. Im Oktober 2001 stellte sie bei dem Beklagten einen Antrag nach dem SGB IX auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung und auf Feststellung von Nachteilsausgleichen.
Der Beklagte holte daraufhin Befundberichte von den Ärzten der Klägerin ein und erteilte unter dem 17.12.2001 einen Bescheid, wonach es bei der Klägerin bei dem bereits früher festgestellten GdB von 80 und der Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "erheblich Beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr", "außergewöhnlich gehbehindert", und "bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf ständige Begleitung angewiesen" verbleibt. Der von der Klägerin begehrte Nachteilsausgleich "RF" wurde mit dem Bescheid versagt. Als Behinderung legte der Beklagte seinem Bescheid
1. Hirninfarkt, spastische Halbseitenlähmung rechts, Sprachstörung,
2. hirnorganisches Psychosyndrom
zugrunde.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein mit dem sie vortrug, sie sei seit Juni 2000 nach einem Schlaganfall schwerbehindert. Ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein seien gelähmt. Außerdem sei ihr Sprachzentrum gestört und sie lebe in ihrer Wohnung allein und könne diese ohne fremde Hilfe nicht verlassen.
Der Beklagte holte daraufhin ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch über die Klägerin ein. Mit Bescheid vom 02.05.2002 wies der Beklagte den Widerspruch als sachlich unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, die Voraussetzungen für die Gebührenbefreiung seien auch dann zu verneinen, wenn ein behinderter Mensch öffentliche Veranstaltungen mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z. B. Rollstuhl) noch in zumutbarer Weise besuchen könne.
Hiergegen richtet sich die am 14.05.2002 bei Gericht eingegangene Klage mit der die Klägerin erneut darauf hinweist, dass sie sich nicht verständlich machen könne. Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin ein Gutachten der Psychiaterin G. das im Auftrag des Amtsgerichts Düsseldorf erstellt worden ist, zur Akte gereicht.
Die Klägerin ist zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen. Sie hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt:
den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides
vom 17.12. 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
02.05.02 den Nachteilsausgleich "RF" festzustellen.
Der Beklagte beantragt:
die Klage abzuweisen
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der einseitigen mündlichen Verhandlung.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die form- und fristgerecht erhobene und daher zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.
Das Gericht verweist hinsichtlich der Rechtsgrundlagen nach denen der Nachteilsausgleich "RF" gewährt wird, auf die insoweit zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 02.05.2002. Nach Maßgabe dieser Vorschriften ist die Klägerin nicht mehr in der Lage, in zumutbarer Weise an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Kammer folgert dies aus dem Gutachten der Sachverständigen G. Diese hat festgestellt, dass die Klägerin sich wegen ihrer Sprachstörung nicht mehr verständlich machen kann. Außerdem ist die Klägerin auf einen Rollstuhl angewiesen und bedarf bei zahlreichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens fremder Hilfe. Bei diesem Sachverhalt ist es der Klägerin nicht mehr zuzumuten, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Insoweit beruft sich der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 02.05.2002 zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 03.06.1987 - 9a RVs 27/85 -. Zwar hat das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung festgestellt, dass es einem Behinderten zuzumuten ist, die Hilfe Dritter bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Anspruch zu nehmen und dass daher ein Behinderter der von einer dritten Person in einem Rollstuhl geschoben werden muss, nicht grundsätzlich von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Allerdings darf diese Entscheidung nicht so ausgelegt werden, dass damit praktisch jeder Behinderte noch als fähig angesehen wird, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Beschränkt man nämlich die Feststellung des Bundessozialgerichts allein auf die Tatsache, dass ein Behinderter noch zu einer öffentlichten Veranstaltung hingeschoben werden kann, so ist der Besuch von öffentlichen Veranstaltungen praktisch jedermann möglich, denn nur in seltenen Ausnahmefällen und bei schwersten akuten Erkrankungen wird es nicht möglich sein, einen behinderten Menschen in einen Rollstuhl zu setzen und zu einer öffentlichen Veranstaltung zu transportieren.
Entscheidendes Kriterium für die Beurteilung, ob jemand noch an öffentlichen Veranstaltungen in zumutbarer Weise teilnehmen kann, ist daher nicht die Frage, ob dieser Behinderte in einem Rollstuhl zu einer öffentlichen Veranstaltung hin- und zurücktransportiert werden kann, sondern entscheidend kann nur die Frage sein, ob der behinderte Mensch in ähnlichem Umfang von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen ist, wie der in der Punkt 33 der "Anhaltspunkte" aufgeführte Personenkreis, dem der Nachteilsausgleich "RF" grundsätzlich, ohne weitere Prüfung, gewährt wird.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der in Punkt 33 der Anhaltspunkte aufgeführte Kreis von Behinderten auch ohne weiteres in der Lage wäre, mit Hilfe von Begleitpersonen an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen. Sowohl hochgradig Sehbehinderte (Punkt 33 (2) a) wie auch Behinderte mit schweren Bewegungsstörungen (Punkt 33 (2) c), können grundsätzlich unproblematisch an verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Für Hörgeschädigte (Punkt 33 (2) b) gibt es sogar spezielle öffentliche Veranstaltungen. Gleichwohl schreiben die "Anhaltspunkte" vor, dass ab einem GdB von 50, das entspricht "lediglich" einer beiderseitigen hochgradigen Schwerhörigkeit (gemessen ohne Hörhilfe) der Nachteilsausgleich "RF" in der Regel zu gewähren ist, obwohl keineswegs ersichtlich ist, warum diese Behinderten nicht z.B. an einer Sportveranstaltung oder ähnlichem teilnehmen könnten.
Der in Punkt 33 der "Anhaltspunkte" aufgeführte Personenkreis wird häufig besser gestellt sein und eher in der Lage sein an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, als die Klägerin, die wegen ihrer Halbseitenlähmung ständig auf einen Rollstuhl angewiesen ist und deshalb an schwersten Bewegungsstörungen leidet.
Nach alledem ist festzuhalten, dass die "Anhaltspunkte" eine Reihe von Behinderungen vorgeben, bei denen der Nachteilsausgleich "RF" gewährt wird obwohl offensichtlich kein dauerhafter Ausschluss von jeglicher Form von öffentlichen Veranstaltungen vorliegt. Um hier eine Gleichbehandlung mit anderen Behinderten zu gewährleisten, dürfen die Voraussetzungen für die Gewährung des Nachteilsausgleichs RF, bei den anderen Behinderten, die nicht einer Fallgruppe von Punkt 33 unterfallen, nicht zu hoch angesetzt werden. Maßgeblich kann daher nur sein, dass eine Behinderung vorliegt, die, was den Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen betrifft, im vergleichbar ist, mit den Behinderungen, bei denen der Nachteilsausgleich "RF" nach den "Anhaltspunkten" gewährt wird. Dies ist bei der Klägerin der Fall, denn die Klägerin ist in ihrer Bewegungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt und zusätzlich nicht in der Lage, sich zu artikulieren. Diese Behinderung ist in ihrem Ausmaß vergleichbar mit den Behinderungen, die unter Punkte 33 der "Anhaltspunkte" aufgeführt sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.