Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 13 (10) VG 49/09 - Urteil vom 12.11.2010
Die Beweiserleichterung des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) kann nicht greifen, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, zwischen Realität und Vorstellungswelt zu unterscheiden. Flash-Backs sind nach dem gegenwärtigen Stand der psychologischen Gedächtnisforschung keineswegs immer präziser Widerhall tatsächlicher Erlebnisse im Sinne automatisch aktivierter Erinnerungsbilder, sondern stellen häufig eine Mischung aus realen und befürchteten oder vorgestellten Ereignissen dar.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG -) im Rahmen einer Überprüfung nach § 44 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X).
Die am 21.09.1968 geborene Klägerin beantragte erstmals am 07.04.2000 die Gewährung von Beschädigten-Versorgung nach dem OEG und gab an, mehrmals zwischen 1969 und 1973 in einer Pflegefamilie im Raum K. vergewaltigt und sexuell mißbraucht worden zu sein. Zum Täter und zur Pflegefamilie könne sie keine näheren Angaben machen.
Das zuständige Versorgungsamt F., Außensteile R., lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2001 mit der Begründung ab, der Nachweis von Gewalttaten sei nicht erbracht. Die Staatsanwaltschaft K. habe das etwa zeitgleich eingeleitete Verfahren wegen Verjährung eingestellt.
Am 23.03.2001 stellte die Klägerin einen weiteren Antrag auf Leistungen nach dem OEG beim Versorgungsamt E. und gab an, sie sei ab 1973/1974 in M. in ihrem Kinderzimmer von ihrem Pflegevater Walter K. wiederholt sexuell mißbraucht und später, als sie 9 oder 10 Jahre alt gewesen sei, mehrfach vergewaltigt worden. Aus begründeter Angst vor Rache des Täters habe sie keine Strafanzeige erstattet. Die Klägerin legte mehrere ärztliche Bescheinigungen der Ärztin für Psychiatrie E. D. vor, wonach sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung bei emotional instabiler Persönlichkeit mit dissoziativen Zuständen leide.
Das Versorgungsamt E. zog diverse medizinische Unterlagen bei und lehnte den Antrag der Klägerin sodann mit Bescheid vom 11.10.2001 ab. Die Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass nach so vielen Jahren keine Gesundheitsstörungen mehr feststellbar seien, die auf die von der Klägerin geltend gemachten Ereignisse zurückzuführen seien.
Ihren rechtzeitig erhobenen Widerspruch wies die Bezirksregierung M. mit Widerspruchsbescheid· vom 30.01.2002 als unbegründet zurück. Die Aussagen der Klägerin seien zu vage, um sie als alleiniges Beweismittel zu werten. Zwar sei es möglich, dass die Klägerin Opfer eines sexuellen Mißbrauchs geworden sein könne, jedoch reiche dies für eine Anerkennung nach dem OEG nicht aus. Die von der Klägerin geltend gemachten psychischen Störungen könnten auch aufgetreten seien, ohne dass die vom Gesetz geforderten Voraussetzungen vorgelegen hätten. Aus den ärztlichen Unterlagen ergebe sich der geforderte Nachweis der anspruchsbegründenden Tatsachen jedenfalls nicht. Am 15.06.2005 stellte die Klägerin beim Versorgungsamt E. einen Antrag nach § 44 SGB X und wiederholte, sie habe in ihrer Kindheit und Jugend erhebliche traumatische Erlebnisse gehabt, die zu schweren posttraumatischen Verhaltensstörungen geführt hätten. Bei genauerer Betrachtung ergebe sich dieses sowohl aus der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Arztlichen Dienstes R. vom 23.01.2001 als auch aus der Bescheinigung des E. J.-Krankenhauses vom 06.09.2001.
Das Versorgungsamt E. holte einen Befundbericht der Fachärztin für psychotherapeutische Medizin H.M. vom 03.02.2006 ein und lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 13.06.2006 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, es seien keine neuen Tatsachen im Sinne der dreistufigen Prüfung von § 44 SGB X vorgetragen worden. Denn die angesprochenen Unterlagen hätten bereits vorgelegen. In der Bescheinigung des E. J.-Krankenhauses werde in unzulässiger Weise von einem bestehendem Krankheitsbild auf die Ursache geschlossen. Auch aus dem Bericht von Frau M. ergäben sich keine neuen entscheidungsrelevanten Erkenntnisse. An der Bindungswirkung des Ursprungsbescheides sei daher festzuhalten. Gegen den Bescheid erhob die Klägerin am 07.07.2006 Widerspruch und berief sich auf § 15 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG). Ihre psychische Erkrankung sei auf den in der Kindheit erlittenen sexuellen Mißbrauch/die Vergewaltigungen zurückzuführen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2006 wies die Bezirksregierung M. den Widerspruch der Klägerin zurück. Sie teilte mit, die Voraussetzungen von § 44 SGB X seien nicht erfüllt. Die Überprüfung der angefochtenen Bescheide habe ergeben, dass ihre Unrichtigkeit nicht festgestellt werden könne. An der Bindungswirkung der Bescheide werde festgehalten.
Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Klage hat die Klägerin betont, sie könne sich an die Tatvorgänge sehr wohl erinnern. Ihre psychische Erkrankung sei im Wesentlichen auf den sexuellen Mißbrauch zurückzuführen, und dies werde auch in der Bescheinigung des E. J.-Krankenhauses sowie in den Bescheinigungen ihrer behandelnden Psychotherapeutinnen so bestätigt. Eine ausführliche Anhörung habe bisher nicht stattgefunden.
Zur Aufklärung des Sachverhaltes hat das Gericht versucht, die Akten des Jugendamtes M. über die Pflege-Unterbringung der Klägerin beizuziehen; dort sind jedoch keinerlei Akten mehr vorhanden, auch nicht bei der Caritas M. und der Arbeiterwohlfahrt M..
Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes Unterlagen der Hamburg-Münchener Krankenkasse der Klägerin beigezogen sowie sämtliche Behandlungsunterlagen der von der Klägerin benannten Therapeuten, soweit diese noch in der Lage waren, Unterlagen vorzulegen.
Sodann hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens der Dipl.-Psychologln und Sachverständigen für Forensische Psychologie Dr. M.M: vom 07.04.2008. Die Klägerin hat der Gutachterin eine Reihe von Vorfällen mit konkreten Missbrauchshandlungen geschildert, durch ihren Pflegevater, durch dessen Schwager sowie durch Unbekannte. An einem Vorfall seien drei Männer in einer apostolischen Kirche beteiligt gewesen, darunter ein Priester. Die Vorfälle seien erst in ihrem 28. Lebensjahr wie in einem Film in die Erinnerung zurückgekommen. Konkretere Erinnerungen hätten sich erst im Laufe der Therapien ergeben. Nachdem ein erstes Bild hochgekommen sei, habe sie sich den Rest "zusammengepuzzelt".
Die Gutachterin hat zusammenfassend ausgeführt, die Angaben der Klägerin zum Tathergang könnte nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als widerspruchsfrei und erlebnisorientiert sowie glaubhaft eingestuft werden. Die Aussagekompetenz der Klägerin sei entscheidend eingeschränkt sowohl durch die psychiatrische Vorgeschichte als auch den auffälligen psychopathologischen Befund in der aktuellen Exploration. Die Klägerin leide neben anderen diagnostischen Zuordnungen vor allem unter einer tief greifenden Persönlichkeitsstörung mit wechselnden dissoziativen Symptomen. Eine Vielzahl an Anhaltspunkten deute auf das Vorliegen psychischer Störungen hin, durch die der Realitätsbezug zumindest insoweit einschränkt sei, dass dieser nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gewährleistet zu werten sei. Die Fähigkeit der Klägerin, zwischen Erlebtem und womöglich nachträglichen Interpretationen und Reflexionen zu unterscheiden, sei fraglich. Es gebe ebenfalls Hinweise auf Beeinträchtigung der zentralen Gedächtnisinhalte durch die Wirkung maßgeblicher therapeutischer Einflüsse. Bei der Klägerin sei eine Bereitschaft feststellbar, suggestivem Druck nachzugeben, Falschinformationen zu übernehmen, eine Tendenz zu Quellenverwechslungsfehlern und die Fähigkeit zur Rekonstruktion nicht stattgefundener Ereignisse. Besonders problematisch müsse auch der Umstand angesehen werden, dass die Klägerin zu Beginn des behaupteten Missbrauchs erst circa zwei Jahre alt gewesen sein wolle. Aktuell sei nicht mehr zu klären, ob es sich tatsächlich um induzierte oder real erlebte Erinnerungen handele.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Sozialgericht die auf Anerkennung der vorliegenden Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolge nach dem OEG und Gewährung entsprechender Versorgungsleistungen gerichtete Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X lägen nicht vor. Soweit die Klägerin die Anwendung von § 15 KOV-VfG beanspruche und sich auf ihre handschriftliche Darstellung der Mißbrauchs-/ Vergewaltigungs-Vorfälle beziehe, habe das aussagepsychologische Gutachten von Frau Dr. M.M: vom 07.04.2008 die Aussagetüchtigkeit der Klägerin verneint und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen als nicht hinreichend bewertet. Die Sachverständige halte die Wahrscheinlichkeit für eine Wiederentdeckung von tatsächlich erlebten Vorfällen aus früher Kindheit nach mehr als 20 Jahren für sehr gering und nehme hohe suggestive und autosuggestive Einflüsse an. Da die Klägerin die Erinnerungen an den Mißbrauch/die Vergewaltigungen erst im Rahmen der Psychotherapien (ab 1996) wiedergefunden habe, und sich im Gespräch mit der Sachverständigen nicht durchgängig in der Lage gezeigt habe, zwischen Realität und ihrer. Vorstellungswelt zu unterscheiden, sogar selbst Unsicherheit geäußert habe im Hinblick auf ihre Unterscheidungsfähigkeit und Erinnerungskritik, habe die Sachverständige unter aussagepsychologischen Gesichtspunkten die Angaben der Klägerin nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als erlebnisbegründet und daher als nicht glaubhaft angesehen. Vor diesem Hintergrund bestehe für die Anwendung von § 15 KOV-VfG kein Raum. Es sei deshalb nach dem Gutachten von Dr. M.M: festzustellen, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise.
Zur Begründung ihrer rechtzeitig eingelegten Berufung hat sich die Klägerin weiterhin auf die - bereits erstinstanzlich vorgelegten - Bescheinigungen der sie behandelnden Therapeutinnen berufen. Die Exploration durch die Sachverständige sei eine Vernehmung und ein Verhör gewesen. Ein Vertrauen zur Gutachterin habe sich nicht entwickeln können. Weiter wurde eine nicht datierte, handschriftliche Aufstellung der Klägerin über Erinnerungen an die Missbrauchsfälle vorgelegte sowie Bescheinigungen der behandelnden Therapeutinnen vorgelegt.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 8. 10. 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 13.6.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides 30. 11. 2006 zu verurteilen, den Bescheid vom 11.10.2001 in Gestalt Widerspruchsbescheid vom 30.1.2002 aufzuheben und die bei der Klägerin vorliegen psychischer Störungen als Schädigungsfolge anzuerkennen sowie der Klägerin Versorgungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten und die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich nach § 124 Abs. 2 SGG damit einverstanden erklärt haben.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Es sind weiterhin keine neuen Tatsachen ersichtlich, die ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 44 SGB X rechtfertigen könnten. Das gilt insbesondere für die Aussage der Klägerin über ihre vermeintlichen Missbrauchserinnerungen. Wie das Sozialgericht, auf dessen Ausführungen der Senat nach § 153 Abs. 2 SGG im einzelnen Bezug nimmt, zutreffend ausgeführt hat, können die von der Klägerin geschilderten Misshandlungen beziehungsweise Vergewaltigungen auf der Grundlage des Gutachtens der Sachverständigen Frau Dr. M.M. nicht einmal als überwiegend wahrscheinlich (glaubhaft) im Sinne des § 15 KOV-VfG, geschweige denn als bewiesen angesehen werden. Nach den methodisch und inhaltlich überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen fehlt es aktuell bereits an einer ausreichenden Aussagetüchtigkeit der Klägerin, weil sie nicht zuverlässig zwischen Wahrheit und Einbildung unterscheiden kann. Aus diesem Grund hat das Sozialgericht auch zu Recht ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt. Denn bei begründeten Zweifeln an der Aussagetüchtigkeit gerade aufgrund psychischer Erkrankungen wie der dissoziativen Persönlichkeitsstörung, die die integrative Funktion des Bewusstseins infrage stellt, sind weder Juristen noch Ärzte bzw. Psychologen ohne entsprechende Zusatzausbildung und Erfahrung in der Lage, die Zuverlässigkeit selbst detailreicher und auf den ersten Blick überzeugender Schilderungen Betroffener zu beurteilen (vgl. BGH, B. v. 28.10.2009 - 5 StR 419/09, Juris m.w.Nw.; Mohrbach, Zur Frage der Aussagetüchtigkeit bei der Diagnose "Dissoziative Identitätsstörung", Praxis der Rechtspsychologie 2003, S. 354 ff.; Daber, Die Beurteilung der Aussagetüchtigkeit erwachsener Zeugen, Praxis der Rechtspsychologie 2003, 122, 123).
Die Sachverständige hat darüber hinaus im Einzelnen überzeugend dargelegt, warum angesichts der für Suggestionen empfänglichen Persönlichkeitsstruktur der Klägerin und der stückweisen Rekonstruktion ihrer vermeintlichen Erinnerungen im Rahmen zahlreicher Therapien diesen Erinnerungen keine hinreichende Zuverlässigkeit mehr beigemessen werden kann. Aus diesem Grund kann sich auch die gerichtliche Überzeugungsbildung darauf nicht stützen.
Die Klägerin hat in der Berufungsinstanz keine neuen Gesichtspunkte in das Verfahren eingeführt, sondern lediglich ihre bereits in der ersten Instanz geäußerte Kritik an der Begutachtung wiederholt. Diese vermag das sorgfältige und ausgewogene Gutachten der Sachverständigen indes nicht in Frage zu stellen. Insbesondere das ausführliche Wortprotokoll der Exploration sowie die zahlreichen Aktenzitate belegen, dass die Gutachterin sich eingehend und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit mit dem aktuellen Zustand der Erinnerung der Klägerin sowie deren Entstehung auseinandergesetzt und sich darüber ein fundiertes Urteil gebildet hat.
Soweit die Klägerin erneut schriftliche Äußerungen der sie behandelnden Therapeutinnen ins Feld führt, welche die Missbrauchsschilderungen der Klägerin für glaubhaft halten, weist der Senat darauf hin, dass die objektive Richtigkeit (vermeintlich) zu Tage geförderter Erinnerungen für eine auf Schonung und Heilung angelegten Therapie oft kein entscheidendes Kriterium darstellt. Den Bescheinigungen lässt sich zudem nicht entnehmen, ob die Ausstellerinnen über die erforderlichen Kenntnisse der Aussagepsychologie verfügen, um die Aussage der Klägerin überhaupt fachkundig bewerten zu können.
Der Hinweis der behandelnden Therapeutinnen auf so genannte "Flash Backs" der Klägerin, also sich aufdrängende, durch bestimmte Schlüsselreize ausgelöste emotionale oder sensorische Erinnerungen, führt ebenfalls nicht weiter. Solche Flash-Backs sind nach dem gegenwärtigen Stand der psychologischen Gedächtnisforschung (vgl. Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 100) keineswegs immer präziser Widerhall tatsächlicher Erlebnisse im Sinne automatisch aktivierter Erinnerungsbilder, sondern stellen häufig eine Mischung aus realen und befürchteten oder vorgestellten Ereignissen dar. Ebenso wie Erinnerungen des expliziten Gedächtnisses sind sie sie daher komplexe (Re)Konstruktionen, die gerade bei der Erinnerung an lange zurückliegende, zwischenzeitlich vergessene Ereignisse ebenso anfällig für Fehler sein können wie das explizite Gedächtnis.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Gründe zur Revisionszulassung sind nicht ersichtlich.