1 BVerfG 2320/98 Bundesverfassungsgericht - Beschluss vom 10. Dezember 2004

 


Gr�nde:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gew�hrung einer Waisenversorgung nach dem Opferentsch�digungsgesetz. Speziell geht es um F�lle, in denen der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, der das in dieser Gemeinschaft lebende, nicht mit ihm verwandte Kind des anderen Partners ("faktisches Stiefkind") mit betreut und unterhalten hat, Opfer einer Gewalttat geworden ist.

I.

1. Nach � 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes �ber die Entsch�digung f�r Opfer von Gewalttaten (Opferentsch�digungsgesetz - OEG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Januar 1985 (BGBl I S. 1) erh�lt, wer in Folge eines vors�tzlichen, rechtswidrigen t�tlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtm��ige Abwehr eine gesundheitliche Sch�digung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Dies gilt auch f�r die Hinterbliebenen eines Gesch�digten (� 1 Abs. 8 Satz 1 OEG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur �nderung des OEG vom 21. Juli 1993,BGBl I S. 1262).

Hinterbliebene in diesem Sinne sind nach � 38 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes �ber die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 (BGBl I S. 21) die Witwe, die Waisen und die Verwandten der aufsteigenden Linie. Zu den Waisen geh�ren nach � 45 Abs. 1 und 2 Nrn. 1 und 2 BVG in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung rechtlicher Vorschriften an das Adoptionsgesetz vom 24. Juni 1985 (BGBl I S. 1144) neben den eigenen (leiblichen oder adoptierten) Kindern des Besch�digten seine Stiefkinder sowie seine Pflegekinder im Sinne des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Nach � 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG in der f�r den vorliegenden Fall ma�geblichen Fassung des Zw�lften Gesetzes zur �nderung des Bundeskindergeldgesetzes vom 30. Juni 1989 (BGBl I S. 1294; im Folgenden: 12. BKGG-�nderungsgesetz) sind Pflegekinder Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familien�hnliches, auf l�ngere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und ein Obhuts- und Pflegeverh�ltnis zwischen diesen Personen und ihren Eltern nicht mehr besteht. Nach der zuvor geltenden Fassung der Vorschrift war es f�r den Begriff des Pflegekindes nicht erforderlich, dass das Obhuts- und Pflegeverh�ltnis zu den Eltern beendet war.

2. Der Beschwerdef�hrer ist 1976 geboren. Sein leiblicher Vater war schon zuvor gestorben. Ab 1986 lebte der Beschwerdef�hrer mit seiner Mutter und ihrem nichtehelichen Lebenspartner zusammen. Nach eigenen Angaben entwickelte er zu diesem eine Vater-Sohn-Beziehung und wurde von ihm weitgehend unterhalten. 1994 wurde der Lebenspartner von einem Attent�ter in einem Gerichtssaal erschossen. Der Beschwerdef�hrer beantragte eine Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentsch�digungsgesetz, hatte damit aber keinen Erfolg. Seiner Klage wurde nicht stattgegeben. Das Bundessozialgericht vertrat in seinem Urteil vom 21. Oktober 1998 (BSG SozR 3-3300 � 45 Nr. 3) die Auffassung, der Beschwerdef�hrer sei seit der �nderung des Pflegekindbegriffs durch das 12. BKGG-�nderungsgesetz anders als zuvor (vgl. BSGE 20, 26 <27>) nicht mehr als Pflegekind einzustufen, da er im Zeitpunkt des Todes des Lebenspartners auch mit seiner Mutter zusammengelebt habe.

3. Mit seiner gegen das Urteil des Bundessozialgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdef�hrer einen Versto� gegen Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und - wegen der Einschr�nkung des Pflegekindbegriffs durch das 12. BKGG-�nderungsgesetz - gegen das rechtsstaatliche R�ckwirkungsverbot (Art. 20 Abs. 3 GG) geltend.

4. Zu der Verfassungsbeschwerde hat das Bundesministerium f�r Gesundheit und Soziale Sicherung namens der Bundesregierung Stellung genommen. Es h�lt die Verfassungsbeschwerde f�r unbegr�ndet.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (� 93 a Abs. 2 BVerfGG). Sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Das Urteil des Bundessozialgerichts verletzt den Beschwerdef�hrer nicht in seinen Grundrechten.

1. Der Beschwerdef�hrer wird in seinem Anspruch auf Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 109, 96 <123>; stRspr) nicht dadurch verletzt, dass ihm ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nicht einger�umt ist.

a) Dies gilt zum einen im Verh�ltnis zu den eigenen Kindern eines Gesch�digten nach � 45 Abs. 1 BVG.

Die Hinterbliebenenrente soll grunds�tzlich einen b�rgerlichrechtlichen Unterhaltsanspruch ersetzen, den der Hinterbliebene gegen den Gesch�digten besessen hat und der durch dessen Tod erlischt. Versorgung und Unterhaltsrecht sind im Opferentsch�digungsrecht eng verkn�pft. Die Renten nach �� 38 ff. BVG stehen grunds�tzlich nur Unterhaltsberechtigten zu. Dem entspricht es, dass eigene Kinder eines Gesch�digten, die nach � 1601 BGB unterhaltsberechtigt sind, eine Hinterbliebenenversorgung erhalten (� 45 Abs. 1 BVG). Dieses im Versorgungsrecht verwirklichte gesetzliche Konzept der Hinterbliebenenrente als Ersatz f�r einen erloschenen Unterhaltsanspruch ist verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, DVBl 2004, S. 36 f.).

Im Vergleich zu den versorgungsberechtigten Hinterbliebenen, denen der Gesch�digte unterhaltspflichtig war, ist der Beschwerdef�hrer nicht verfassungswidrig benachteiligt, da ihm kein Unterhaltsanspruch gegen den Get�teten zu dessen Lebzeiten zustand. Die blo� faktische Unterhaltsgew�hrung ist im Versorgungsrecht einem Rechtsanspruch auf Unterhalt nicht gleichzustellen. Wer nur faktisch unterhalten wird, kann auf den Fortbestand dieser Leistungen nicht in rechtlich gesch�tzter Weise vertrauen (BVerfG, a.a.O., S. 36).

b) Auch im Verh�ltnis zu den nach � 45 Abs. 2 BVG versorgungsberechtigten Stief- und Pflegekindern eines Gesch�digten besteht keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung.

aa) Allerdings stellt die Einbeziehung dieser Kinder in den Kreis der Versorgungsberechtigten eine Ausnahme von dem dargestellten gesetzlichen Konzept dar, weil Stief- und Pflegekinder, von bestimmten F�llen der Adoptionspflege (� 1751 Abs. 4 Satz 1 BGB) abgesehen, ebenso wenig wie der Beschwerdef�hrer unterhaltsberechtigt sind.

bb) Auch die Ungleichbehandlung gegen�ber diesen Kindern ist jedoch hinreichend gerechtfertigt.

Die hier nach der Lebenssituation des Beschwerdef�hrers im Vordergrund stehende Stiefkindbeziehung ist in der Rechtsordnung anders als die Beziehung des Beschwerdef�hrers zum Partner seiner Mutter anerkannt und gesch�tzt. Stiefkinder sind mit dem Stiefelternteil verschw�gert (� 1590 Abs. 1 Satz 1 BGB). Hieraus folgen unter anderem Zeugnisverweigerung und Anh�rungsrechte (vgl. etwa � 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO; � 1847 Abs. 1 BGB, � 57 Abs. 1 Nr. 1 FGG) sowie steuerrechtliche Vorteile (vgl. � 15 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG). Vor allem aber ist die Stiefkindbeziehung familienrechtlich gesch�tzt. So steht dem Stiefelternteil das so genannte kleine Sorgerecht zu (� 1687 b Abs. 1 und 2 BGB). Gegen�ber dem leiblichen Elternteil des Kindes kann der Stiefelternteil nach � 1682 Satz 1 BGB eine Verbleibensanordnung erwirken; jedenfalls steht ihm nach � 1685 Abs. 2 BGB auch nach dem Ende der Ehe ein Umgangsrecht mit dem Stiefkind zu. Auch ist eine tats�chliche Unterhaltsgew�hrung durch den Stiefelternteil zumindest besser gesichert als beim Beschwerdef�hrer. Stiefkinder partizipieren faktisch an dem Anspruch auf Familienunterhalt, der ihrem Elternteil in rechtlich gesicherter Form aus �� 1360, 1360 a BGB gegen dem anderen Partner zusteht.

Demgegen�ber war die Beziehung des Beschwerdef�hrers zum Partner seiner Mutter rechtlich in keiner Weise gesichert. Seine Mutter h�tte die Lebensgemeinschaft jederzeit aufl�sen und damit die Beziehung zwischen ihrem Partner und dem Beschwerdef�hrer beenden k�nnen. Erst seit kurzem steht dem Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nach der Trennung unter bestimmten Voraussetzungen ein Umgangsrecht mit den Kindern des Partners zu (� 1685 Abs. 2 BGB i.d.F. des Gesetzes zur �nderung der Vorschriften �ber [...] das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes [...] vom 23. April 2004,BGBl I S. 598).

Stiefkinder k�nnen demnach eher als "faktische" Stiefkinder darauf vertrauen, dass ihre Beziehung zum Stiefelternteil andauert und ihre Lebenssituation gesichert ist. Der Gesetzgeber durfte an diese unterschiedliche Situation ankn�pfen (vgl.BVerfGE 107, 205 <216 f.>) und eine Hinterbliebenenrente nur "echten" Stiefkindern gew�hren, ohne Art. 3 Abs. 1 GG zu verletzen.

2. Auch Art. 6 Abs. 1 GG, der die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, ist nicht verletzt.

a) Hierbei kann offen bleiben, ob der Beschwerdef�hrer auf Grund der sozial-famili�ren Beziehung mit dem Get�teten eine Familie im Sinne des Grundgesetzes bildete (vgl.BVerfGE 108, 82 <109> sowie � 1685 Abs. 2 BGB n.F.). Jedenfalls bestand eine solche Beziehung vor und nach der Tat zwischen ihm und seiner Mutter (vgl.BVerfGE 79, 203 <211>).

b) Der Gesetzgeber hat die ihm aus Art. 6 Abs. 1 GG erwachsende Schutzpflicht nicht dadurch verletzt, dass er eine Hinterbliebenenrente f�r den Beschwerdef�hrer nicht vorsieht.

aa) Art. 6 Abs. 1 GG verlangt zwar, dass der Staat die Familie f�rdert, insbesondere ihren wirtschaftlichen Zusammenhalt zu erhalten hilft (vgl.BVerfGE 75, 382 <392>) und familienbedingte Lasten ausgleicht (vgl. BVerfGE 103, 242 <259>). Allerdings ist der Staat nicht verpflichtet, jegliche finanzielle Belastung auszugleichen, die eine Familie trifft (vgl. BVerfGE 103, 242 <259> ; stRspr). Die staatliche Familienf�rderung steht unter dem Vorbehalt des M�glichen im Sinne dessen, was der Einzelne vern�nftigerweise von der Gesellschaft verlangen kann, wenn er sich f�r Kinder entscheidet (BVerfG, a.a.O.). Au�erdem darf der Staat eine unterschiedliche F�rderungsbed�rftigkeit ber�cksichtigen (vgl.BVerfGE 43, 108 <121>). Aus diesen Gr�nden besteht ein weiter Spielraum f�r die Art und Weise des Familienlastenausgleichs (vgl. BVerfGE 103, 242 <260>).

bb) Diesen Spielraum hat der Gesetzgeber im vorliegenden Fall nicht �berschritten. Zwar ist zugunsten des Beschwerdef�hrers davon auszugehen, dass der Partner der Mutter die Gemeinschaft �berwiegend unterhalten hat. Auf den Fortbestand dieser Leistungen konnten jedoch weder der Beschwerdef�hrer noch seine Mutter vertrauen. Nach dem Tode des Partners war ihre Situation nicht anders als bei einem allein erziehenden Elternteil. Die Mutter des Beschwerdef�hrers konnte f�r diesen Kindergeld beziehen. F�r seine Ausbildung standen ihm die Leistungen nach dem Bundesausbildungsf�rderungsgesetz zur Verf�gung. Der Gesetzgeber war nicht durch Art. 6 Abs. 1 GG gehalten, eine zus�tzliche finanzielle Absicherung vorzusehen. Dabei ist auch zu ber�cksichtigen, dass Kindern in der Situation des Beschwerdef�hrers grunds�tzlich Unterhaltsanspr�che gegen beide Elternteile und auch gegen die Gro�eltern dann zustehen, wenn ein Elternteil vorverstorben ist (�� 1601, 1606 Abs. 2 BGB). Die Gew�hrung einer Hinterbliebenenrente nach dem Tod eines faktischen Stiefelternteils w�rde dem Kind eine weitere unterhaltsrechtliche Absicherung verschaffen, die eigene Kinder eines Get�teten nicht besitzen.

3. Ein Versto� gegen das rechtsstaatliche R�ckwirkungsverbot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) liegt nicht vor. Dies hat das Bundessozialgericht in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil �berzeugend dargelegt. Die �nderung des Pflegekindbegriffs in � 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG durch das 12. BKGG-�nderungsgesetz bewirkte f�r den Beschwerdef�hrer allenfalls eine unechte R�ckwirkung. Er lebte zwar zum Zeitpunkt dieser Gesetzes�nderung mit dem sp�ter Get�teten zusammen. Die Beseitigung seiner rechtlichen Stellung als Pflegekind im Sinne des Kindergeldrechts als Folge dieser Gesetzes�nderung verletzte aber kein schutzw�rdiges Vertrauen des Beschwerdef�hrers. Er hatte noch keine Anspr�che aus dem Opferentsch�digungsgesetz erworben. Das bis 1989 geltende Recht begr�ndete nur die Aussicht, eine Hinterbliebenenrente zu erhalten. Sie hing von einer Reihe von Unw�gbarkeiten ab, insbesondere davon, dass die nichteheliche Lebensgemeinschaft seiner Mutter mit ihrem Partner fortbestehen w�rde.

4. Auf eine weitere Begr�ndung wird gem�� � 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG verzichtet.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.