Gründe:

I

Umstritten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) und die Gewährung von Entschädigungsleistungen.

Der im Jahre 1951 geborene Kläger absolvierte von April 1966 bis zum Ende des Jahres 1968 eine Ausbildung zum Maler und war anschließend bis März 1987 als Maler und Stukkateur versicherungspflichtig beschäftigt. In den Wintermonaten war er häufig arbeitslos oder arbeitete in anderen Berufen. Ab Mai 1987 war er als selbständiger Stukkateur mit zeitweise zwölf Beschäftigten tätig und als Unternehmer bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten freiwillig versichert. Bis zu einem Arbeitsunfall am 12. August 1987, der zu einer Verletzung des rechten Armes führte und aufgrund dessen er eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v.H. bezieht, arbeitete der Kläger voll mit. Seit dem 11. Mai 1998 war er wegen eines Bandscheibenvorfalls im Bereich L 4/L 5 arbeitsunfähig erkrankt und stellte am 6. Juli 1998 bei der Rechtsvorgängerin eine Unternehmeranzeige über eine BK, in der er seine Bandscheibenbeschwerden auf seine berufliche Tätigkeit zurückführte. Nach Einholung mehrerer ärztlicher Stellungnahmen lehnte die Rechtsvorgängerin die Anerkennung der Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers als BK ab (Bescheid vom 13. September 2000, Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2001). Zwar sei nach der Stellungnahme ihres technischen Aufsichtsdienstes (TAD) die berufliche Tätigkeit des Klägers geeignet gewesen, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) zu verursachen, aber aus medizinischer Sicht könne seine Erkrankung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diese Tätigkeit zurückgeführt werden.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen die Rechtsvorgängerin der Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen einer BK Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) zunächst Verletztengeld und anschließend Verletztenrente zu gewähren (Urteil vom 5. Mai 2003). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Rechtsvorgängerin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. Juni 2005). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Eine BK Nr. 2108 liege beim Kläger nicht vor, weil bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen fehlten. Es stütze sich insofern auf die von der - damaligen - Beklagten vorgelegte Berechnung ihres TAD nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) vom 1. April 2004, die auf einem Gespräch mit dem Kläger und dessen Prozessbevollmächtigten beruhe. Das MDD stelle nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zumindest derzeit ein geeignetes Modell dar, um die kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten zu ermitteln (Hinweis auf die Urteile des Senats vom 18. März 2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 1 und vom 19. August 2003 - B 2 U 1/02 R -). Nach der vorgelegten Berechnung erreiche der Kläger nur eine Gesamtdosis von 14,8 x 106 Nh und damit lediglich 59,2 v.H. des Richtwertes von 25 x 106 Nh, sodass das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen ohne weitere Ermittlungen zu verneinen sei. In der Entscheidung vom 19. August 2003 habe das BSG bei einer Gesamtdosis von 12,5 x 106 Nh die Verneinung der arbeitstechnischen Voraussetzungen gebilligt, etwas anderes könne auch bei einer Unterschreitung um 40,8 v.H. nicht gelten. Auf die aufgeworfenen medizinischen Streitfragen komme es nicht an.

Mit der - vom BSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, die Rechtsauffassung des LSG sei unrichtig, dass auch ein Unterschreiten des Richtwertes der Gesamtdosis des MDD um erheblich weniger als 50 v.H. ohne weitere Ermittlungen eine Verneinung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 rechtfertige. Bei einer Unterschreitung der Gesamtdosis um 40,8 v.H. könne nicht auf die fehlende Kausalität zwischen der versicherten schädigenden Einwirkung und der Krankheit geschlossen werden. Im Übrigen sei er einer erheblich höheren Belastung ausgesetzt gewesen, weil er in einer ländlichen Gegend gearbeitet habe und keine entsprechenden Maschinen und Hilfsmittel zur Verfügung gestanden hätten. Zudem habe der TAD der Beklagten in einem früheren Bericht die arbeitstechnischen Voraussetzungen als erfüllt angesehen.

Der Kläger beantragt, 

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juni 2005 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 5. Mai 2003 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, 

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Auf die Fundstelle des mittlerweile im Internet veröffentlichten Abschlussberichts (www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) wurden die Beteiligten hingewiesen.

 

II

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG hinsichtlich der Ablehnung der Anerkennung einer BK Nr. 2108 beim Kläger aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung über die vom Kläger begehrte Anerkennung dieser BK nicht aus (nachfolgend 2.)

Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit das LSG das Urteil des SG hinsichtlich der Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Verletztengeld und Verletztenrente an den Kläger aufgrund einer solchen BK aufgehoben hat. Insofern ist die Klageabweisung zu bestätigen, weil die Klage auf die Gewährung von Verletztengeld und Verletztenrente unzulässig ist (nachfolgend 1.).

1. Über die Gewährung von Sozialleistungen wie Verletztengeld und Verletztenrente ist vor Klageerhebung in einem Verwaltungsverfahren zu befinden, das mit einem Verwaltungsakt abschließt, gegen den die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage oder Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig ist (§ 54 Abs. 1, 2, 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)). Die Voraussetzungen für eine echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG sind bei einem Streit um die genannten Leistungen nicht gegeben (vgl. nur Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl. 2005, IV RdNr. 1 f, 62, 65 f).

Vorliegend hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 13. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2001 eindeutig nur über die Anerkennung der BK Nr. 2108 beim Kläger entschieden und mit keinem Wort ein mögliches Verletztengeld oder eine mögliche Verletztenrente aufgrund einer solchen BK beim Kläger erwähnt.

Zwischen der Anerkennung einer BK und der Gewährung der verschiedenen auf einer anerkannten BK beruhenden Leistungen ist jedoch zu unterscheiden, wie der Senat seit der Entscheidung vom 27. Juli 1989 (- 2 RU 54/88 - SozR 2200 § 551 Nr. 35) wiederholt betont hat (zuletzt: BSG vom 16. November 2005 - B 2 U 28/04 R - § 3-Leistungen als Minus). Die Unterscheidung zwischen Versicherungsfall und Leistungsfall liegt auch dem Siebten Buch des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) zugrunde, wie schon dessen Systematik zu entnehmen ist, mit der Definition der Versicherungsfälle in §§ 7 ff SGB VII und den darauf aufbauenden Regelungen über die Leistungen nach Eintritt des Versicherungsfalles in §§ 26 ff SGB VII. Für diese Unterscheidung sprechen außerdem die je nach Leistungsfall ggf. unterschiedlichen Zeitpunkte für die Berechnung der Leistungen (vgl. § 9 Abs. 5, §§ 48, 84 SGB VII), die Vielfalt des Leistungsrechts des SGB VII und die zum Teil sehr differenzierten Anforderungen an die einzelnen Leistungen, zumal den Unfallversicherungsträgern bei einigen Leistungen ein Ermessen eingeräumt ist.

Auch bei einer Klageänderung nach § 99 Abs. 1 SGG ist diese Voraussetzung zu prüfen (vgl. BSG vom 16. November 2005 - B 2 U 28/04 R).

2. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der im Juli 1998 aufgrund einer wenige Wochen vorher eingetretenen Arbeitsunfähigkeit vom Kläger selbst angezeigten BK ist § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2108 der Anlage zur BKV vom 31. Oktober 1997 (BGBl I 2623), die sich insofern seit dem nicht geändert hat. Diese BK Nr. 2108 lautet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in der extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

Für die Anerkennung einer BK ist ein Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich sowie ggf. ein Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeiten. Für die umstrittene BK Nr. 2108 bedeutet dies, dass der Kläger aufgrund seiner versicherten Tätigkeit als abhängig beschäftigter Maler und Stukkateur von April 1966 bis zum Jahre 1987 sowie anschließend als freiwillig versicherter selbständiger Stukkateur langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben muss, dass sein Bandscheibenvorfall im Bereich L 4/ L 5 eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS sein muss, dass diese Erkrankung durch die geschilderte versicherte Arbeit verursacht wurde und er deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt.

Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen. Von daher ist es dem Grunde nach nicht zu beanstanden, dass das LSG seine Klageabweisung darauf gestützt hat, dass die von ihm als "arbeitstechnische Voraussetzungen" bezeichneten Einwirkungen durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw. Arbeit in Rumpfbeugehaltung nicht gegeben seien. Zur Begründung hat das LSG sich auf das MDD (vgl. dazu die grundlegende Veröffentlichung von Jäger u.a., ASUMed 1999, 101 ff, 112 ff) und eine Berechnung des TAD der Beklagten nach einem Gespräch mit dem Kläger gestützt, nach der bei diesem eine Gesamtdosis von 14,8 x 106 Nh und damit lediglich 59,2 v.H. des Richtwertes von 25 x 106 Nh nach dem MDD vorliege, so dass die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen ohne weitere Ermittlungen zu verneinen seien.

Mit der Heranziehung des MDD zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis folgt das LSG der Rechtsprechung des erkennenden Senats, der in den Urteilen vom 18. März 2003 - B 2 U 13/02 R - (BSGE 91, 23 = SozR 3-2700 § 9 Nr. 1 RdNr. 10) und vom 19. August 2003 - B 2 U 1/02 R - (USK 2003-219 RdNr. 15) dieses Modell als eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der Nr. 2108 Anl. BKV mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur ungenau umschriebenen Einwirkungen angesehen hat. Allerdings legt das MDD selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder - so der Titel der Veröffentlichung in ASUMed 1999, 101 ff - ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis, werden von seinen Verfassern nicht als Grenz-, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge bezeichnet (ASUMed 1999, 101, 109). Auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur BK Nr. 2108 Anl. BKV, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist, geht von bloßen Orientierungswerten aus (BArbBl 2006, Heft 10, S 30 ff). Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK Nr. 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden (ASUMed 1999, 112, 119); umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus.

Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 RdNr. 19). Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das durch sie beschriebene Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf. Der Senat hat deshalb in den zitierten Entscheidungen, ohne sich auf eine bestimmte Mindestbelastungsdosis festzulegen, jeweils das Vorliegen einer BK verneint, weil in den zugrunde liegenden Fällen entweder die Einwirkungen durch Heben und Tragen weit weniger als die Hälfte des arbeitstäglichen Dosisrichtwertes nach dem MDD ausmachten (Urteil vom 18. März 2003, a.a.O. RdNr. 15) oder die Gesamtdosis an beruflichen Einwirkungen lediglich die Hälfte der nach dem MDD erforderlichen Gesamtdosis erreicht hatte und deswegen als nicht einmal grenzwertig angesehen wurde (Urteil vom 19. August 2003, a.a.O. RdNr. 16). Hierauf bezieht sich das LSG, wenn es ausführt, dass bei einer Unterschreitung des nach dem MDD erforderlichen Richtwertes von 25 x106 Nh um mehr als 40 Prozent keine Größenordnung erreicht sei, bei der ein Ursachenzusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Wirbelsäulenerkrankung in Betracht zu ziehen sei.

Das angefochtene Urteil kann gleichwohl nicht aufrecht erhalten werden, weil die vom MDD vorgegebenen Orientierungswerte im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse modifiziert werden müssen. Welches Maß an belastenden Einwirkungen mindestens erforderlich ist, um eine BK - ggf. unter Einbeziehung weiterer Kriterien - anzuerkennen oder umgekehrt, wo die Mindestgrenze liegt, bis zu der ein rechtlich relevanter Ursachenzusammenhang ohne weitere Prüfung ausgeschlossen werden kann, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu entscheiden (Urteile des Senats vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 und vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 RdNr. 18). Bezüglich der BK Nr. 2108 Anl. BKV hat der Senat bereits in seinen früheren Urteilen darauf hingewiesen, dass das MDD im Hinblick auf die an seinen wissenschaftlichen Grundlagen und seinem Berechnungsmodus geäußerte Kritik der weiteren Überprüfung bedarf. Er hat in diesem Zusammenhang insbesondere auf die damals laufende, aber noch nicht abgeschlossene "Deutsche Wirbelsäulenstudie", eine vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften initiierte Fallkontrollstudie zur besseren epidemiologischen Klärung der Dosis-Wirkungsbeziehungen zwischen beruflichen Belastungen und der Entstehung von bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankungen, verwiesen.

Die mittlerweile vorliegenden Ergebnisse dieser Untersuchung deuten darauf hin, dass auch unterhalb der Orientierungswerte nach dem MDD ein erhöhtes Risiko für bandscheiben-bedingte Erkrankungen der LWS bestehen kann. Nach dem im Internet (www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) veröffentlichten Abschlussbericht hat die Studie, in der verschiedene Dosismodelle verglichen und bewertet wurden, gezeigt, dass mehrere der geprüften Modelle an sich besser geeignet sind als das MDD, um Dosis-Wirkungsbeziehungen bei bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankungen abzubilden. Danach zeichnen sich die am besten angepassten Modelle dadurch aus, dass die Schwellenwerte für die Bandscheibendruckkraft bei Lastenhandhabung und für die Rumpfvorneigung im Vergleich zum MDD abgesenkt sind, dass auf die Einführung eines Schwellenwertes für die Tagesdosis verzichtet wird und dass neben dem Heben und Tragen zusätzliche Formen der Lastenhandhabung wie Ziehen, Schieben, Werfen und Fangen von Lasten berücksichtigt werden. Diese Modelle gehen allerdings über die geltende Legaldefinition der BK Nr. 2108 Anl. BKV hinaus, da sie auch Tätigkeiten außerhalb der rechtlich vorgegebenen Kriterien "schweres Heben und Tragen" und "extreme Rumpfbeugehaltung" berücksichtigen. Sie können deshalb das MDD in seiner Funktion als Zusammenfassung des für eine Konkretisierung der bestehenden BK benötigten medizinischen Erfahrungswissens nicht unmittelbar ersetzen.

Die durch die Deutsche Wirbelsäulenstudie gewonnenen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen jedenfalls in Teilen die Einwände, die schon früher in allgemeiner Form gegen das MDD erhoben worden sind (siehe dazu BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 1 RdNr. 14). Dennoch muss im Grundsatz am MDD als Maßstab zur Ermittlung der kritischen Belastungsdosis beim Heben und Tragen sowie bei Arbeiten in Rumpfbeugehaltung zunächst festgehalten werden, weil aus den genannten Gründen derzeit kein den Vorgaben der BK Nr. 2108 gerecht werdendes Alternativmodell zur Verfügung steht. Die Weiterentwicklung des medizinischen Forschungsstandes und die dabei sichtbar gewordenen Mängel des MDD erfordern aber Modifikationen in zweierlei Hinsicht: Zum einen müssen bei der Dosisberechnung auch Belastungen berücksichtigt werden, die in die Berechnungen nach dem MDD keinen Eingang finden. Gleichzeitig müssen die Grenzwerte, ab denen von einem erhöhten Krankheitsrisiko durch die in der Nr. 2108 Anl. BKV genannten Einwirkungen auszugehen ist, deutlich niedriger als bisher angesetzt werden. Im Einzelnen ist von Folgendem auszugehen:

Die dem MDD zugrunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang von 3.200 N bei Männern wurde aus der Belastung beim beidhändigen Heben von 20 kg abgeleitet (ASUMed 1999, 101, 109, 116). Da bei der BK Nr. 2108 aber als Einwirkungen nicht nur das Heben, sondern auch das Tragen schwerer Lasten in Rechnung zu stellen sind und die Druckkraft beim Tragen von 20 kg nach den Bestimmungsgleichungen des MDD 2.700 N beträgt (vgl. ASUMed 1999, 101, 116), ist es angesichts der von der Deutschen Wirbelsäulenstudie geforderten Absenkung der Schwellenwerte angezeigt, zukünftig diesen Wert von 2.700 N als Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang anzusetzen.

Auf eine Mindesttagesdosis ist entsprechend dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten, zumal es für die geforderte Mindesttagesdosis von 5.500 Nh für Männer keine gesicherte Ableitung gibt und in der Begründung zum MDD diesbezüglich nur von einem "Vorschlag" gesprochen wird (Jäger et al, ASUMed 1999, 101, 109). Da sich nach jetzigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Forderung nach einer bestimmten Mindesttagesdosis nicht begründen lässt, vielmehr ein Verzicht auf sie angeraten wird, hält es der Senat für sachgerecht, alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2.700 N bei Männern erreichen, entsprechend dem quadratischen Ansatz zu berechnen und aufzuaddieren.

Schließlich ist der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 106 Nh herabzusetzen. Damit wird den Ergebnissen der Deutschen Wirbelsäulenstudie Rechnung getragen, die zur Empfehlung einer Absenkung der Schwellenwerte geführt und zugleich durch die Aufdeckung von Schwächen des MDD allgemein dessen Aussagewert als wissenschaftliche Basis für eine Quantifizierung der potentiell gesundheitsschädlichen Hebe- und Tragebelastungen gegenüber früheren Annahmen gemindert haben. Beides zusammen muss zu einer deutlichen Reduzierung der maßgebenden Mindestbelastungsdosis führen.

Im Schrifttum ist darauf hingewiesen worden, dass die richtig verstandene Funktion von Dosismodellen nicht darin bestehen kann, möglichst frühzeitig möglichst viele Versicherte von der Anerkennung einer BK auszuschließen, sondern nur darin, das Ausmaß der Einwirkungen, denen sie durch ihre versicherte Tätigkeit ausgesetzt waren, möglichst genau zu erfassen und in Beziehung zu einem Krankheitsrisiko zu setzen, um so eine Grundlage für die richtige und umfassende Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen diesen Einwirkungen und später auftretenden Erkrankungen zu erhalten (P. Becker in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 2007, § 9 RdNr. 60 ff). Grenzwerte, die aus solchen Modellen abgeleitet werden, müssen deshalb so bemessen werden, dass im Falle ihrer Unterschreitung auch in besonders gelagerten Fällen und unter Berücksichtigung der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS, ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen ist (Senatsurteil vom 27. Juni 2006 – BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7 RdNr. 19). Des weiteren muss bei ihrer Festlegung berücksichtigt werden, welcher Aussagewert den Modellberechnungen nach dem jeweils aktuellen Forschungsstand zukommt. Sind wie im Fall des MDD in dieser Hinsicht Abstriche zu machen, so bedarf es eines ausreichenden Sicherheitsabschlags, der gewährleistet, dass auch bei Berücksichtigung der bestehenden Defizite unterhalb der festgelegten Mindestbelastungsdosis ein durch die versicherte Berufstätigkeit erhöhtes Krankheitsrisiko sicher ausgeschlossen werden kann.

Die erforderliche Neubewertung durch Berücksichtigung weiterer Belastungen und Absenkung der Grenzwerte hat zur Folge, dass weit mehr Versicherte als bisher zu dem Personenkreis gehören, bei dem aufgrund der beruflichen Belastung durch Heben und Tragen sowie Arbeiten in Rumpfbeugehaltung eine Anerkennung von Wirbelsäulenschäden als BK in Betracht kommt. Das beruht, wie dargestellt, nur zu einem Teil auf einer Weiterentwicklung des medizinischen Forschungsstandes, zum anderen Teil darauf, dass das zur Verfügung stehende Dosismodell mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist und nur unpräzise Aussagen zu den in Rede stehenden Dosis-Wirkungsbeziehungen zulässt. Dass bei dieser Sachlage als Grenzwert für das Vorliegen schädlicher Einwirkungen im Sinne der Nr. 2108 Anl. BKV ein möglicherweise zu niedrig bemessener Auffangwert dienen muss, mag unbefriedigend sein, ist aber der Begrenztheit richterlicher Erkenntnismöglichkeiten geschuldet.

Die Probleme bei der Konkretisierung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 geben Veranlassung, erneut mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass es Sache des Gesetz- und Verordnungsgebers ist, diese Voraussetzungen wie allgemein die Bedingungen für die Anerkennung einer BK in dem für einen rational begründbaren und berechenbaren Gesetzesvollzug notwendigen Umfang selbst festzulegen. Das folgt schon daraus, dass die Fassung der BK-Tatbestände dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügen muss (siehe dazu Senatsurteil vom 18. März 2003 - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 1 RdNr. 8 ff). Eine gleichmäßige Rechtsanwendung ist nur gewährleistet, wenn sich die zur Definition einer BK verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe mit Hilfe des von den Gerichten feststellbaren wissenschaftlichen Erkenntnisstandes hinreichend konkretisieren lassen. Das setzt zum einen voraus, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Verursachung einer Krankheit durch Einwirkungen am Arbeitsplatz überhaupt existieren, zum anderen, dass diese Forschungsergebnisse hinreichend konsolidiert und anerkannt sind. Eine rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende Handhabung der BK-Tatbestände ist nicht mehr möglich, wenn sich eine tragfähige wissenschaftliche Grundlage für die Beurteilung der jeweils zu untersuchenden Ursachenzusammenhänge im Prozess nicht ermitteln lässt, sei es, weil einschlägige Forschungsergebnisse überhaupt fehlen oder weil sie keine verwertbaren Erkenntnisse zulassen.

Unabhängig davon sind präzisere Vorgaben durch den Vorschriftengeber auch deshalb zu fordern, weil Verwaltung und Gerichte mit der Feststellung des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes zu Ursache- und Wirkungsbeziehungen bei der Vielzahl von BKen oftmals überfordert sind. Wann bestimmte berufliche Einwirkungen nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, eine bestimmte Erkrankung hervorzurufen, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht nur besonderes Fachwissen auf medizinischem und technischem Gebiet, sondern zugleich eine umfassende und genaue Kenntnis des jeweils aktuellen Forschungsstandes zu der betreffenden Fragestellung sowie die Fähigkeit zu dessen kritischer Bewertung voraussetzt. Die Möglichkeiten der Gerichte, sich die benötigten Informationen mit den ihnen zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln zu verschaffen, sind begrenzt, da sie auf die Wissensvermittlung durch Sachverständige angewiesen sind, deren Ergebnisse und Einschätzungen aber mangels eigener Sachkunde in der Regel nicht selbst bewerten können.

Demgegenüber kann die Bundesregierung mittels Fachgremien, wie z.B. den Ärztlichen Sachverständigenbeirat - Sektion Berufskrankheiten - beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, oder Dienststellen, wie der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz, den wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Ursachenzusammenhänge zwischen beruflichen Einwirkungen und der Entstehung von Krankheiten sehr viel umfassender und besser ermitteln. Gutachten und Stellungnahmen solcher Stellen können ggf. in Verbindung mit einem Beteiligungsverfahren, das es ermöglicht, den vorhandenen wissenschaftlich-technischen Sachverstand auszuschöpfen, für die Konkretisierung der als gesundheitsschädlich einzustufenden Einwirkungen eine weitaus verlässlichere Basis abgeben als ein für den Einzelfall im Gerichtsverfahren eingeholtes Gutachten. Hinzu kommt, dass der Verordnungsgeber freier ist als die Gerichte, wenn es darum geht, im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung generell-abstrakte Standards festzulegen, nach denen BK-Tatbestände auszulegen sind.

Wie die gebotene Präzisierung erreicht wird, ist Sache des Verordnungsgebers und vom Senat nicht zu entscheiden.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.