BSG - Urteil vom 17.3.2005 - B 3 P 2/04 R


Tatbestand

Der 1993 geborene, bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger ist seit seiner Geburt erheblich körperlich behindert und allgemein in seiner Entwicklung gestört. Er bezog Pflegegeld zunächst nach der Pflegestufe I und ab Februar 1997 nach der Pflegestufe II. Einen im Februar 2001 gestellten Antrag auf Eingruppierung in die Pflegestufe III lehnte die Beklagte nach Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Bayern (MDK-Gutachten vom 6. Juni 2001 und 29. Oktober 2001) ab, weil der durchschnittliche tägliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nicht den hierfür erforderlichen Mindestumfang von 240 Minuten erreichte (Bescheid vom 13. Juli 2001, Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2002).

Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, in den MDK-Gutachten sei der maßgebliche Pflegebedarf teilweise zu niedrig angesetzt worden. Er hat dabei sein Begehren auf Höherstufung auf die Zeit von Februar bis August 2001 beschränkt, weil seit seiner Einschulung im September 2001 der Hilfebedarf durch Begleitung zur Krankengymnastik und Ergotherapie (wöchentlich insgesamt dreieinhalb Stunden) weggefallen sei; beide Heilmittel erhalte er nun im Rahmen des Schulbesuchs. Ab September 2001 sei daher die Einstufung in die Pflegestufe II wieder zutreffend.

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage für die Monate Februar bis April 2001 stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 11. Dezember 2002). Es hat nach Würdigung der MDK-Gutachten und diverser ärztlicher Befundberichte festgestellt, dass der durchschnittliche tägliche Grundpflegebedarf nach Abzug des bei gesunden gleichaltrigen Kindern ohnehin anfallenden Hilfebedarfs bis April 2001 mehr als 240 Minuten (einschließlich des nächtlichen Hilfebedarfs) und der hauswirtschaftliche Hilfebedarf durchgehend mindestens 60 Minuten betragen habe. Ab Mai 2001 sei der tägliche Grundpflegebedarf aber auf unter 240 Minuten gesunken, weil der Hilfebedarf durch die zu dieser Zeit plötzlich und unvorhersehbar behobene Inkontinenz deutlich verringert worden sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die allein von der Beklagten eingelegte Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 5. September 2003). Nachdem die Beklagte Einwendungen gegen die Feststellungen des SG zum zeitlichen und sachlichen Umfang des Pflegebedarfs nicht erhoben hatte, ist es auf Grundlage dieser Feststellungen zu dem Ergebnis gelangt, die Klage sei bis April 2001 begründet. Dem stehe nicht entgegen, dass die Höherstufung nur für einen Zeitraum von drei Monaten erfolge. Der Einwand der Beklagten, bei in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalten sei eine Höherstufung ausgeschlossen, wenn der erhöhte Pflegebedarf nicht wenigstens sechs Monate vorgelegen habe, sei unzutreffend. Maßgeblich sei auch in solchen Fällen eine Prognoseentscheidung über dessen voraussichtliche Dauer von mindestens sechs Monaten, wobei diese Frist mit dem Eintritt des erhöhten Pflegebedarfs beginne.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 14 und 15 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Sie hält bei in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalten nicht die vom LSG befürwortete Prognoseentscheidung, sondern eine im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vorzunehmende rückwirkende Betrachtung für maßgeblich. Beschränke sich danach der erhöhte Pflegebedarf auf einen Zeitraum von weniger als sechs Monaten, scheide eine Höherstufung nach § 14 Abs. 1 SGB XI aus.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 5. September 2003 und des SG Augsburg vom 11. Dezember 2002 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben der Klage auf Gewährung von Pflegegeld nach der Pflegestufe III für die Monate Februar bis April 2001 zu Recht stattgegeben. Der Umstand, dass der erhöhte Pflegebedarf nur drei Monate lang bestand, schloss die (befristete) Gewährung des erhöhten Pflegegeldes nicht aus.

Nach § 14 Abs. 1 SGB XI sind Personen pflegebedürftig, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Die Zuordnung zu einer der Pflegestufen erfolgt dann nach Maßgabe der Voraussetzungen des § 15 SGB XI, wobei zwischen erheblicher Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I), Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegestufe II) und Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) unterschieden wird. In allen drei Tatbeständen des § 15 SGB XI wird über die erforderliche Dauer des jeweiligen Pflegebedarfs nichts gesagt. Da aber § 15 SGB XI auf der generellen Regelung der Pflegebedürftigkeit in § 14 SGB XI aufbaut, gilt die Zeitgrenze von "voraussichtlich mindestens sechs Monaten" (§ 14 Abs. 1 SGB XI) für alle drei Pflegestufen gleichermaßen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine erstmalige Einstufung oder um eine Höherstufung aus einer niedrigeren Pflegestufe handelt, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 19. Februar 1998 - B 3 P 7/97 R - SozR 3-3300 § 15 Nr. 1 = NZS 1998, 479; stRspr).

Nach den von der Beklagten im Revisionsverfahren nicht in Zweifel gezogenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) Feststellungen des LSG, die auf den im Berufungsverfahren nicht angegriffenen Feststellungen des SG beruhen, hatte der Kläger im fraglichen Zeitraum einen im Vergleich zu gesunden gleichaltrigen Kindern erhöhten Hilfebedarf (Mehrbedarf, vgl. § 15 Abs. 2 SGB XI) im Bereich der Grundpflege (einschließlich nächtlicher Pflege) von mehr als 240 Minuten und einen hauswirtschaftlichen Mehrbedarf von 60 Minuten. Damit waren die zeitlichen und sachlichen Voraussetzungen der Pflegestufe III (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm Abs. 3 Nr. 3 SGB XI) erfüllt.

Entgegen der Ansicht der Beklagten war aber auch die allgemeine Tatbestandsvoraussetzung der "Pflegebedürftigkeit auf Dauer" des § 14 Abs. 1 SGB XI zu bejahen, obgleich der erhöhte Pflegebedarf nur drei Monate lang bestanden hat. Das Gesetz verlangt nach seinem eindeutigen Wortlaut nicht eine tatsächliche Dauer der erheblichen Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I), der Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegestufe II) bzw. der Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) von "mindestens sechs Monaten", sondern nur "voraussichtlich für mindestens sechs Monate". Der MDK hat nach § 18 SGB XI in einem Gutachten den tatsächlichen Krankheits- bzw. Behinderungszustand und den daraus folgenden Pflegebedarf des Versicherten festzustellen sowie eine Einschätzung über den zukünftigen Pflegebedarf nach Art, Umfang und Dauer abzugeben (§ 18 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 Satz 1 SGB XI). Auf dieser Grundlage ist von der Pflegekasse jeweils eine Prognoseentscheidung über die voraussichtliche Dauer der Pflegebedürftigkeit zu treffen. Dabei hat sich der Gesetzgeber, wie die Regelung des § 17 Abs. 1 Nr. 1 Allgemeiner Teil des Sozialgesetzbuchs (SGB I) zeigt, davon leiten lassen, dass die Pflegekassen den Gutachtenauftrag an den MDK (§ 18 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB XI) alsbald nach Antragstellung durch den Versicherten erteilen, die Begutachtung zügig erfolgt und der Antrag dann unverzüglich beschieden wird, um dem Versicherten im Fall der Erfüllung aller Anspruchsvoraussetzungen die ihm zustehenden Leistungen zeitnah zukommen zu lassen. Das Verwaltungsverfahren dürfte deshalb auch in der Regel in deutlich weniger als sechs Monaten nach der Antragstellung abgeschlossen sein, also zu einem Zeitpunkt, bevor das Ende eines Sechsmonatszeitraums mit einem bestimmten Pflegebedarf erreicht ist. Ein Aufschub der Verwaltungsentscheidung bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist ist weder vom Gesetzgeber gewollt noch nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Regelungen der §§ 14 SGB XI und 17 SGB I zulässig. Gefordert ist im Rahmen der gebotenen zügigen Antragsbearbeitung und -bescheidung stets (nur) eine Prognose über die voraussichtliche Dauer eines konkreten Pflegebedarfs, und dies ist durch die sprachliche Fassung des § 14 Abs. 1 SGB XI ("voraussichtlich" für mindestens sechs Monate) auch kenntlich gemacht.

Die Prognoseentscheidung ist unabhängig davon zu treffen, wann das Verwaltungsverfahren oder das Widerspruchsverfahren abgeschlossen wird, ob also im Zeitpunkt der jeweiligen Verwaltungsentscheidung bereits sechs Monate oder mehr seit der Antragstellung vergangen sind oder nicht. Dies kann dazu führen, dass die für die Vergangenheit nachgeholte Prognose durch den tatsächlichen Geschehensablauf nicht bestätigt wird. Damit wird die Prognose aber nicht unbeachtlich, sondern bleibt maßgeblich, wenn sie zum damaligen Zeitpunkt bei vorausschauender Betrachtung zutreffend gewesen wäre. Maßgeblich ist allein, ob im Zeitpunkt der Antragstellung, frühestens jedoch im Zeitpunkt des Eintritts von Pflegebedürftigkeit (vgl. § 33 Abs. 1 SGB XI), der Pflegebedarf nach den medizinisch-pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände auf voraussichtlich mindestens sechs Monate eingeschätzt werden muss. Nicht sicher vorhersehbare Umstände, wie hier das plötzliche Ende der Inkontinenz drei Monate nach der Antragstellung, können keinen Eingang in die nachträgliche Prognose finden und hindern die Bewilligung von Leistungen nach einer höheren Pflegestufe nicht.

Die vom Verlauf und Dauer eines Verwaltungsverfahrens unabhängige Beurteilung des Tatbestandsmerkmals der Pflegebedürftigkeit "auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate" anhand einer vorausschauenden Beurteilung zum Zeitpunkt der Antragstellung ist aus Gründen der Gleichbehandlung der Versicherten nach Art 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geboten. Auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens abzustellen, wie es die Beklagte hier möchte, würde bedeuten, dass ein Versicherter allein durch die Dauer des Verwaltungsverfahrens einen Rechtsnachteil erleiden könnte, den er bei zügiger Prüfung und Entscheidung nicht gehabt hätte. Er wäre damit gegenüber einem in gleicher Lage befindlichen anderen Versicherten, dessen Antrag in der gebotenen Zügigkeit geprüft und - positiv - beschieden worden ist, ohne sachliche Rechtfertigung benachteiligt.

Der tatsächliche Geschehensablauf kann in solchen Fällen allerdings nur - wie hier - zu einer Befristung der (erstmaligen oder höheren) Leistungsbewilligung führen. Die befristete Leistungsbewilligung für einen Zeitraum von weniger als sechs Monaten ist weder vom Wortlaut des § 14 SGB XI noch von Sinn und Zweck der Regelung her ausgeschlossen. Sie entspricht ebenfalls dem Gebot der Gleichbehandlung (Art 3 Abs. 1 GG) mit jenen Fällen, in denen die Pflegekasse zügig entschieden hat, die Leistung zunächst unbefristet bewilligt worden ist und dann - noch innerhalb der Sechsmonatsfrist - der Pflegebedarf entfallen ist oder sich verringert hat. Dann besteht nämlich die Möglichkeit einer Entziehung oder Herabsetzung der Leistung wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Änderung. Im Ergebnis ist es somit unerheblich, ob das den Pflegebedarf verringernde Ereignis bereits vor der Entscheidung des Leistungsantrags (dann Befristung) oder erst nach der Leistungsbewilligung (dann Verfahren nach § 48 SGB X) eingetreten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.