Bundessozialgericht - B 4 AS 37/12 R - Urteil vom 30.01.2013
Mit Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 FreizügG/EU zum 28.8.2007 ist Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht eingeräumt worden, sich drei Monate ohne besonderes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Diese Unionsbürger waren von der vormaligen vom 1.4.2006 bis zum 27.8.2007 geltenden Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht erfasst. Um diese Personengruppe ebenfalls zu erfassen, ist die Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union neu gefasst worden. Ausweislich der Gesetzesmaterialien soll der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II "vor allem Unionsbürger" betreffen. Dieser Hinweis in den Gesetzesmaterialien scheint den Schluss zu tragen, dass Drittstaatsangehörige, die einem deutschen Staatsangehörigen zwecks Familienzusammenführung nachziehen, vom Leistungsausschluss erfasst sein könnten. Die Gesetzesänderung war indes dem Umstand geschuldet, dass mit der Änderung im SGB II die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten umgesetzt werden sollte.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger im Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 Leistungen nach dem SGB II zustehen.
Der am 20.7.1983 geborene Kläger ist algerischer Staatsangehöriger. Am 13.7.2009 heiratete er in Algerien die am 9.10.1970 geborene deutsche Staatsangehörige Frau K. Nach Zustimmung der Ausländerbehörde der Stadt K zum Antrag auf Erteilung eines Visums zwecks Familienzusammenführung reiste der Kläger am 14.2.2010 nach Deutschland ein und wohnte im streitgegenständlichen Zeitraum bei Frau K. Am 9.3.2010 erteilte die Ausländerbehörde dem Kläger eine Fiktionsbescheinigung mit der Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit gestattet". Unter dem 19.4.2010 erhielt der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis mit den Zusätzen "Erwerbstätigkeit ist erlaubt" und "Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs". Zum 3.5.2010 nahm der Kläger eine Erwerbstätigkeit bei dem Unternehmen A & K P GmbH auf. Das aus dieser Tätigkeit für den Monat Mai 2010 erzielte Arbeitsentgelt wurde dem Konto des Klägers am 20.6.2010 gutgeschrieben.
Mit Bescheid vom 1.2.2010 gewährte der Beklagte Frau K und ihrer am 4.2.2003 geborenen Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 990,09 Euro für den Monat Februar 2010 und in Höhe von 981,09 Euro für die Monate März bis einschließlich Juli 2010 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von 492,09 Euro monatlich. Angerechnet wurde Kindergeld in Höhe von 184 Euro monatlich.
Den Leistungsantrag des Klägers vom 14.2.2010 lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 23.4.2010). Der hiergegen am 4.5.2010 erhobene Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29.7.2010). Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sei der Kläger für die ersten drei Monate seines Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da er weder Arbeitnehmer noch Selbstständiger noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sei. Ein Aufenthaltsrecht aus völkerrechtlichen Gründen entsprechend Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG habe nicht vorgelegen. Eingriffe in Grundrechte könnten nicht berücksichtigt werden, da die Entscheidung über den Leistungsausschluss nicht im Ermessen des Beklagten stehe.
Mit Änderungsbescheid vom 10.5.2010 bewilligte der Beklagte Frau K und ihrer Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1.2.2010 bis zum 13.2.2010 in Höhe von 425,08 Euro, für die Zeit vom 14.2.2010 bis zum 28.2.2010 in Höhe von 407,28 Euro, für den Monat März in Höhe von 718,06 Euro, für April 2010 in Höhe von 755,74 Euro, für die Zeit vom 1.5.2010 bis 14.5.2010 in Höhe von 352,67 Euro. Ab dem 15.5.2010 bis zum 31.5.2010 gewährte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft - nun unter Einschluss des Klägers - Leistungen in Höhe von 683,63 Euro, für die Zeit vom 1.6.2010 bis 8.6.2010 in Höhe von 336,42 Euro, für die Zeit vom 9.6.2010 bis 30.6.2010 in Höhe von 554,22 Euro und für den Monat Juli 2010 in Höhe von 755,74 Euro. Den hiergegen am 18.5.2010 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit der gleichen Begründung zurück wie den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.4.2010 (Widerspruchsbescheid vom 30.7.2010).
Der gegen den Bescheid vom 23.4.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.7.2010 erhobenen Klage, mit welcher der Kläger den neben dem Regelbedarf geltend gemachten Anspruch auf Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung auf die Zeit ab dem 1.5.2010 beschränkte, gab das SG statt (Urteil vom 4.2.2011). Im Berufungsverfahren haben die Beteiligten den Gegenstand des Verfahrens auf die Leistungen für die Zeit vom 14.2.2010 bis 2.5.2010 beschränkt. Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 12.1.2012). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch für die Zeit vom 14.2.2010 bis einschließlich 2.5.2010 zustünden. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II erfasse nicht die Situation, dass ein Ausländer als Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen diesem nach Deutschland nachziehe. Bereits der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ergebe keinen generellen Ausschluss von Ausländern unabhängig von der Herleitung des Aufenthaltsrechts. Hätte der Gesetzgeber dieses gewollt, hätte es keiner Differenzierung zwischen Ausländern und ihren Familienangehörigen bedurft. Gegen einen Leistungsausschluss sprächen zudem systematische wie teleologische Gründe. Denn ein Leistungsausschluss würde unter Außerachtlassung der Wertentscheidung des Artikel 6 Abs. 1 GG unberücksichtigt lassen, dass die wirtschaftliche Grundlage des deutschen Ehepartners gefährdet würde. Die freie Entscheidung der Ehepartner, gemeinsam in Deutschland zu leben, verdiene besonderen staatlichen Schutz, falls einer der Ehepartner deutscher Staatsangehöriger sei. Dies rechtfertige auch eine Einbeziehung in das Leistungssystem des SGB II. Auch die Gesetzesbegründung spreche dafür, Fälle wie den vorliegenden nicht als vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II umfasst anzusehen.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von Bundesrecht. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II greife unabhängig davon, ob man den Wortlaut der Norm dahingehend auslege, dass der Kläger "Ausländer" oder "Familienangehöriger" im Sinne der Norm sei. Die Vorschrift gelte auch für Familienangehörige eines Deutschen. Dies ergebe sich aus der Gesetzesbegründung, wonach der Leistungsausschluss "vor allem" für Unionsbürger gelte. Drittstaatsangehörige seien hiervon nicht ausgenommen. Würden den gemeinschaftsrechtlich besonders geschützten Unionsbürgern während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts keine Leistungen gewährt, müsse dies auch für Drittstaatsangehörige gelten. Das SGB II normiere zudem keinen Anspruch aller Familienangehörigen auf Gewährung familieneinheitlicher existenzsichernder Leistungen. Vielmehr nehme das Gesetz unterschiedlich geartete Existenzsicherungsansprüche innerhalb einer Familie bewusst in Kauf. Das Drittstaatsangehörigen erteilte Visum zur Familienzusammenführung sei ebenso wenig von einem Nachweis der Lebensunterhaltssicherung abhängig wie das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Darüber hinaus seien die gesetzlichen Voraussetzungen eines Nachzugs zu deutschen Familienangehörigen im AufenthG massiv verschärft worden. Insoweit sei der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II eine konsequente Umsetzung der Zugangsregulierung zum Sicherungssystem des SGB II. Die in § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II normierte Rückausnahme greife nicht zugunsten des Klägers, da es sich bei dem Aufenthaltsrecht zwecks Familienzusammenführung nicht um einen Aufenthaltstitel gemäß Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG handele. Der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sei insoweit eindeutig. Die Personengruppe der Familienangehörigen von Deutschen sei mit der Gruppe aller sonstigen Ausländer ohne humanitäre Aufenthaltsberechtigung gleichzustellen. Aus Artikel 6 Abs. 1 GG folge kein gegenteiliges Ergebnis, weil aus diesem Grundrecht kein uneingeschränkter Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hergeleitet werden könne.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 2012 und das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 4. Februar 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass sich der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht auf Familienangehörige deutscher Staatsangehöriger beziehe.
II
Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet.
1. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 23.4.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.7.2010, denn allein diesen hat der Kläger zum Gegenstand des erstinstanzlichen Klageverfahrens gemacht. Nicht Gegenstand des Verfahrens geworden ist dagegen der Bescheid des Beklagten vom 10.5.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.7.2010. Diesem Bescheid kommt hinsichtlich der vom Kläger für den Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 geltend gemachten Ansprüche keine eigene Regelungswirkung zu, denn er wiederholt insoweit lediglich den ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 23.4.2010.
2. Dem Kläger stehen auch im Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu. Der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II kommt nicht zum Tragen. Auch andere Leistungsausschlüsse sind nicht erkennbar.
a) Der Kläger erfüllte im streitigen Zeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (i.d.F. des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RVAltGrAnpG) vom 20.4.2007, BGBl I 554). Er hatte das 15. Lebensjahr vollendet und noch nicht die Altersgrenze gemäß § 7a SGB II erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Nach den bindenden Feststellungen des LSG war der Kläger zudem hilfebedürftig i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Erwerbsfähigkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 2 SGB II lag ebenso vor, denn der Kläger war im Besitz eines Aufenthaltstitels zwecks Familienzusammenführung. Ein solcher berechtigt gemäß § 28 Abs. 5 AufenthG zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Einem derartigen Aufenthaltstitel kommt im Rahmen der Prüfung der Erwerbsfähigkeit Tatbestandswirkung zu, sodass eine Prüfung der Voraussetzungen des Titels unterbleibt. Schließlich hatte der Kläger nach der Einreise seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Das Gesetz knüpft insoweit an die Bestimmung des § 30 Abs. 3 SGB I an, wonach jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (zu dieser Voraussetzung auch BSG Urteil vom 23.5.2012 - B 14 AS 190/11 R, SozR 4-4200 § 36a Nr. 2). Der Kläger erfüllt im streitgegenständlichen Zeitraum diese Voraussetzungen, da er nach den objektiv erkennbaren Umständen aus Algerien zu seiner Ehefrau nach Köln gezogen ist und sich dort angemeldet hat, um dort in ehelicher Gemeinschaft zu leben und sich eine Arbeit zu suchen. Es kann hier weiter offen bleiben, ob an den Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II zusätzliche aufenthaltsrechtliche Anforderungen zu stellen sind (vgl. aber Urteil des Senats vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R; offen gelassen in BSG Urteil vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr. 28 RdNr. 17; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21 RdNr. 13; anders noch BSG Urteil vom 16.5.2007 - B 11b AS 37/06 R - BSGE 98, 243 = SozR 4-4200 § 12 Nr. 4 zur vorherigen Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Denn der Kläger verfügte im streitigen Zeitraum über einen gültigen Aufenthaltstitel nach § 28 AufenthG.
b) Der Kläger war im streitigen Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (EurAsylUmsG) vom 19.8.2007, BGBl I 1970) von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen.
aa) Ein Leistungsausschluss folgt nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II. Danach sind vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts.
Der Kläger ist Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Ausländer ist gemäß § 2 Abs. 1 AufenthG jeder, der nicht Deutscher i.S. des Artikel 116 Abs. 1 GG ist. Dies trifft ohne Weiteres auf den Kläger zu, da er im streitgegenständlichen Zeitraum nicht die deutsche Staats- oder Volkszugehörigkeit besaß, sondern die Algeriens.
Die hier entscheidungserhebliche Frage, ob Personen, welche nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, sondern die eines Drittstaats besitzen und zu einem deutschen Familienangehörigen - hier: einem Ehegatten - nachziehen, vom Leistungsausschluss erfasst werden, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet (gegen Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II z.B. LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 7.12.2009 - L 19 B 363/09 AS; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 15.3.2012 - L 6 AS 748/10; Bayerisches LSG Urteil vom 27.6.2012 - L 16 AS 449/11; Hessisches LSG Beschluss vom 19.9.2012 - L 7 AS 30/12 B ER; SG Nürnberg Urteil vom 26.8.2009 - S 20 AS 906/09; Hackethal in jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 7 RdNr. 34; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 RdNr. 16; ähnlich S. Knickrehm in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl. 2011, § 7 SGB II RdNr. 7; für Anwendung des Leistungsausschlusstatbestandes hingegen LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 27.4.2011 - L 3 AS 1411/11 ER-B; SG Duisburg Beschluss vom 19.11.2009 - S 31 AS 414/09 ER; A. Loose in Hohm, GK-SGB II, § 7 RdNr. 44 (Stand: 9/12); Frings, Sozialrecht für Zuwanderer, 2008, RdNr. 171).
Es kann hier offen bleiben, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II bereits deswegen nicht zum Tragen kommt, weil der Kläger als Staatsangehöriger Algeriens einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen gemäß Artikel 68 Abs. 1 UAbs 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen Volksrepublik Algerien andererseits (ABl EU vom 10.10.2005 Nr. L 265, 2) hat. Die Nichtanwendbarkeit des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II folgt unmittelbar aus der Auslegung innerstaatlichen Rechts.
Zwar ist der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II insoweit nicht eindeutig. Als "Familienangehöriger" ist der Kläger jedenfalls nicht vom Ausschlusstatbestand erfasst. Zwar ist als Familienangehöriger im Sinne dieser Vorschrift - zur Auslegung ist § 3 FreizügG/EU heranzuziehen - auch ein Ehegatte anzusehen. Der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II bezieht sich indes - worauf auch der Kläger zu Recht hinweist - lediglich auf Familienangehörige der in diesem Ausschlusstatbestand zuvor genannten Personengruppe der Ausländerinnen und Ausländer, die sich als Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer, Selbstständige oder nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU im Bundesgebiet aufhalten, worauf das Possessivpronomen "ihre" hinweist (so im Ergebnis z.B. auch Thie/Schoch in Münder, SGB II, 4. Aufl. 2012, § 7 RdNr. 24; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II, § 7 RdNr. 40b (Stand: 10/07)). Dies trifft auf den Kläger nicht zu, da er Familienangehöriger einer deutschen Staatsangehörigen ist.
Allenfalls als "Ausländer" könnte er bei Betrachtung allein seiner Person von der Norm erfasst sein. Der Wortlaut der Bestimmung schließt unterschiedslos alle Ausländerinnen und Ausländer von Leistungen nach dem SGB II aus, die nicht Arbeitnehmer, Selbstständige oder nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU Freizügigkeitsberechtigte sind, unabhängig davon, ob es sich um Unionsbürger oder um Drittstaatsangehörige handelt. Andererseits lässt der Wortlaut der Norm eine abweichende Auslegung zu, weil lediglich "Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen" von der Norm erfasst werden, sodass offenbleibt, ob die Familienangehörigen von Deutschen in den Regelungsgehalt der Norm einbezogen werden. Dass dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren sind, ergibt sich jedoch aus dem der Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck und systematischen Erwägungen.
Mit Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 FreizügG/EU zum 28.8.2007 ist Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht eingeräumt worden, sich drei Monate ohne besonderes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Diese Unionsbürger waren von der vormaligen vom 1.4.2006 bis zum 27.8.2007 geltenden Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht erfasst. Um diese Personengruppe ebenfalls zu erfassen, ist die Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007 (BGBl I 1970) neu gefasst worden. Ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 16/5065 S 234) soll der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II "vor allem Unionsbürger" betreffen. Dem Beklagten ist zuzugeben, dass dieser Hinweis in den Gesetzesmaterialien den Schluss zu tragen scheint, dass Drittstaatsangehörige, die einem deutschen Staatsangehörigen zwecks Familienzusammenführung nachziehen, vom Leistungsausschluss erfasst sein könnten. Die Gesetzesänderung war indes dem Umstand geschuldet, dass mit der Änderung im SGB II die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog "Unionsbürger-Richtlinie", ABl EU Nr. L 158, berichtigt ABl EU Nr. L 229, 35) umgesetzt und von der Option des Artikel 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden sollte. In den Gesetzesmaterialien wird explizit ausgeführt, dass der Leistungsausschluss dann nicht Platz greifen soll, falls Unionsbürger einem deutschen Familienangehörigen nachziehen (BT-Drucks 16/688 S 13). Auf die Personengruppe der Drittstaatsangehörigen und insbesondere die Situation des Familiennachzugs eines Drittstaatsangehörigen zu einem deutschen Staatsangehörigen gehen die Gesetzesmaterialien nicht ein. Zweck der Gesetzesänderung war es vielmehr, einen denkbaren Leistungsanspruch von Unionsbürgern auszuschließen, die sich drei Monate lang voraussetzungslos im Bundesgebiet aufhalten dürfen (vgl. BT-Drucks 16/5065 S 234). Hieran zeigt sich, dass der Gesetzgeber lediglich auf die Neuordnung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger reagieren wollte und nicht zugleich die Leistungsberechtigung anderer Ausländer über die bisherige Regelung hinaus einschränken wollte.
Im Unterschied zu den Unionsbürgern können Drittstaatsangehörige regelmäßig nicht voraussetzungslos in das Bundesgebiet einreisen. Die Einreise ist vielmehr davon abhängig, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Im Falle eines Familiennachzugs ist gemäß §§ 6, 28 AufenthG Voraussetzung das Bestehen einer Ehe mit einem deutschen Staatsangehörigen, dessen gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet besteht. Während Unionsbürgern die Einreise ohne eine vorherige Prüfung der Fähigkeit, den eigenen Lebensunterhalt sichern zu können, ermöglicht ist, bedarf es bei der Erteilung eines Visums für Drittstaatsangehörige - gemäß Artikel 1 i.V.m. Anhang I VO (EG) Nr. 539/2001 vom 15.3.2001 (ABl EG Nr. L 81, 1) auch für Algerier - der Prüfung, ob die nach dem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen vorliegen. Zwar gehört nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, dass der Lebensunterhalt des Einreisenden gesichert ist. Das zwecks Familienzusammenführung erteilte Visum soll jedoch bei Einreise eines Ehegatten eines Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG abweichend hiervon erteilt werden. Dies hat zur Folge, dass es auf ausreichenden Wohnraum und Unterhaltssicherung bei den Angehörigen Deutscher grundsätzlich nicht ankommt (vgl. Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 28 AufenthG RdNr. 5). Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 16/5065 S 171) soll die Sicherung des Lebensunterhalts bei Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen nur bei Vorliegen besonderer Umstände zur Voraussetzung der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemacht werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Begründung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar ist, was insbesondere bei Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit in Bezug auf das Land in Betracht kommt, dessen Staatsangehörigkeit neben der deutschen besessen wird oder falls der deutsche Ehegatte geraume Zeit im Herkunftsland des Ehegatten gelebt und gearbeitet hat und die Sprache dieses Landes spricht. Derartige Umstände hat das LSG allerdings nicht festgestellt.
Die Regelung des § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG entstammt - wie bereits ausgeführt - demselben Gesetz wie die Änderung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Hieraus wird - wie das SG zutreffend erkannt hat - ersichtlich, dass der Gesetzgeber das fiskalische Interesse der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Erteilung eines Aufenthaltstitels berücksichtigen wollte und nicht durch die anlässlich der Umsetzung der EU-Richtlinien erfolgte Änderung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II die Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland einreisen, ändern wollte. Eine abweichende Regelungsabsicht hätte der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien zu erkennen gegeben. Tatsächlich ist dies aber nicht geschehen. Nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber diese Entscheidung im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sich zu dieser aufenthaltsrechtlichen Entscheidung in Widerspruch setzen wollte.
bb) Ein Leistungsausschluss ergibt sich auch nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Gemäß dieser Vorschrift sind vom Leistungsbezug ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (hierzu BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr. 21; BSG Urteil vom 25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr. 28; Urteil des Senats vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Dies ist hier jedoch bereits deswegen nicht der Fall gewesen, da sich das Aufenthaltsrecht des Klägers aus dem Familiennachzug ergab und damit nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche.
cc) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sind schließlich nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II ausgeschlossen, denn Anspruch auf Asylbewerberleistungen hatte der Kläger im streitigen Zeitraum nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.