Bundessozialgericht - B 4 AS 48/07 R - Urteil vom 16.12.2008
Von der Regelung des tatsächlichen Zuflusses als Differenzierungskriterium zwischen Einkommen und Vermögen ist im Falle der Einkommensteuererstattung daher auch nicht deswegen abzuweichen, weil es sich um einen Geldzufluss handelt, dessen zu Grunde liegende Forderung zu einem früheren Zeitpunkt fällig gewesen wäre, wenn der Erstattungsberechtigte eine andere steuerliche Disposition getroffen hätte. Die Steuererstattung gehört nicht zu den bereits erlangten Einkünften, mit denen Vermögen angespart wurde. Mit dem BVerwG ist vielmehr davon auszugehen, dass der Erstattungsgläubiger, die zu hoch entrichtete Steuer nicht freiwillig (und zinslos) "angespart", sondern schlicht nicht früher erhalten hat. Gerade die fehlende Verzinsung des nicht ausgezahlten Einkommens zeigt, dass es sich bei der Steuererstattung nicht um "Vermögensaufbau" handelt. Zudem verdeutlichen die steuerrechtlichen Dispositionsmöglichkeiten, sei es durch Eintragung eines Freibetrages oder durch die Wahl einer anderen Steuerklasse, dass die Steuererstattung kein Rückfluss von Vermögen ist. Der Erstattungsbetrag bleibt, was er bei einer anderen Wahl der Steuerklasse gewesen wäre, nämlich Einkommen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende darüber, ob eine Einkommensteuererstattung als Einkommen bei der Berechnung von Grundsicherungsleistungen zu berücksichtigen ist.
Der 1967 geborene Kläger bezieht mit Unterbrechungen seit dem 1.1.2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach den Vorschriften des SGB II. Für die Zeit von Februar bis Juli 2006 bewilligte ihm die Beklagte Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 532,37 Euro (Bescheid vom 3.2.2006). Am 6.2.2006 wurde dem Kläger auf seinem Konto eine Einkommensteuererstattung für das Jahr 2004 in Höhe von 2.158 Euro vom Finanzamt A gutgeschrieben. Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 14.2.2006 die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Wirkung vom 1.3.2006 auf. Im hiergegen gerichteten Widerspruch führte der Kläger an, der Bescheid sei nicht hinreichend bestimmt und begründet. In der Folge hob die Beklagte den Bescheid vom 14.2.2006 auf; weitere Einzelheiten seien einem gesondert zugehenden Bescheid zu entnehmen (Bescheid vom 16.3.2006). Mit einem weiteren (= zweiten) Bescheid selben Datums entschied die Beklagte erneut über dem Kläger im Zeitraum von Februar bis Juli 2006 zu gewährende Leistungen. Diese waren darin wie folgt ausgewiesen: für Februar 2006 in Höhe von 532,37 Euro und für die Zeit von März bis Juli 2006 in Höhe von monatlich 160,17 Euro. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Anrechnung von Einkommen in Höhe von monatlich 372,20 Euro ab März 2006 auf der dem Kläger zugeflossenen Steuerrückerstattung beruhe, die gleichmäßig auf die Monate März bis Juli 2006 verteilt worden sei (Bescheid vom 16.3.2006, Widerspruchsbescheid vom 11.5.2006).
Die Klage vor dem Sozialgericht Aachen (SG) ist erfolglos geblieben (Urteil vom 18.7.2006). Hiergegen erhob der Kläger Berufung zum Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG). Das LSG hat dem Kläger in der mündlichen Verhandlung am 20.8.2007 ausdrücklich Gelegenheit gegeben, ergänzend vorzutragen. Die Berufung ist schließlich mit der Begründung zurückgewiesen worden, die Steuererstattung stelle Einkommen und nicht Vermögen dar. Insoweit werde der vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entwickelten Zuflusstheorie gefolgt, wonach Vermögen der Inbegriff all dessen sei, was einem Hilfebedürftigen bereits zustehe, wohingegen Einkommen dasjenige sei, was er erst während des Leistungsbezugs dazu erhalte. Zwar habe der Kläger hinsichtlich der Steuererstattung bereits vor dem Leistungsbezug eine vorhandene Rechtsposition innegehabt. Für die Qualifizierung als Einkommen oder Vermögen sei jedoch insoweit auf die Realisierbarkeit eines wirtschaftlichen Vermögensvorteils durch Umwandlung der Rechtsposition in Geld abzustellen. Vorliegend sei dieser nicht bei Entstehung der Rechtsposition, sondern erst auf Grund der später abgegebenen Steuererklärung geldmäßig realisierbar (Urteil vom 20.8.2007).
Der Kläger rügt mit seiner vom LSG zugelassenen Revision, dass er die der Steuererstattung zu Grunde liegende Forderung bereits im Jahre 2004 erworben habe, weshalb diese Vermögen darstelle. Er hätte genauso davon absehen können, die Auszahlung der Steuererstattung zu verlangen. Wenn er dies nun gleichwohl getan habe, so könne ihm das nicht zum Nachteil gereichen. Bilanziell betrachtet habe es sich bei der Forderung um aktives Vermögen gehandelt, das durch die Auszahlung lediglich umgeschichtet worden sei.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20.8.2007 und des Sozialgerichts Aachen vom 18.7.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16.3.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.5.2006 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich den Ausführungen der Vorinstanzen an.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 16.3.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.5.2006, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) II für die Zeit vom 1.3. bis 31.7.2006 gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X als teilweise rechtswidrig wegen der dem Kläger zugeflossenen Einkommensteuererstattung zurückgenommen hat.
2. In der Sache teilt der Senat die Auffassung des LSG. Bei der nach Antragstellung im Bedarfszeitraum zugeflossenen Einkommensteuererstattung handelt es sich um berücksichtigungsfähiges Einkommen i.S. des § 11 SGB II und nicht um Vermögen i.S. des § 12 SGB II.
Die Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen nimmt das SGB II selbst nicht vor. Wie der Senat im Urteil vom 30.9.2008 (B 4 AS 29/07 R, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) dargelegt hat, ist Einkommen i.S. des § 11 Abs. 1 SGB II grundsätzlich alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits hatte (so auch BSG, Urteil vom 30.7.2008 - B 14 AS 26/07 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Auszugehen ist vom tatsächlichen Zufluss, es sei denn, rechtlich wird ein anderer Zufluss als maßgeblich bestimmt. Nicht entscheidend ist das Schicksal der Forderung. Von der Regelung des tatsächlichen Zuflusses als Differenzierungskriterium zwischen Einkommen und Vermögen ist im Falle der Einkommensteuererstattung daher auch nicht deswegen abzuweichen, weil es sich um einen Geldzufluss handelt, dessen zu Grunde liegende Forderung zu einem früheren Zeitpunkt fällig gewesen wäre, wenn der Erstattungsberechtigte eine andere steuerliche Disposition getroffen hätte. Die Steuererstattung gehört nicht zu den bereits erlangten Einkünften, mit denen Vermögen angespart wurde (vgl. Urteil des Senats vom 30.9.2008 - B 4 AS 57/07 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Mit dem BVerwG ist vielmehr davon auszugehen, dass der Erstattungsgläubiger, mithin der Kläger, die zu hoch entrichtete Steuer nicht freiwillig (und zinslos) "angespart", sondern schlicht nicht früher erhalten hat (vgl. BVerwGE 108, 296, 301). Gerade die fehlende Verzinsung des nicht ausgezahlten Einkommens zeigt, dass es sich bei der Steuererstattung nicht um "Vermögensaufbau" handelt. Zudem verdeutlichen die steuerrechtlichen Dispositionsmöglichkeiten, sei es durch Eintragung eines Freibetrages oder durch die Wahl einer anderen Steuerklasse, dass die Steuererstattung kein Rückfluss von Vermögen ist. Der Erstattungsbetrag bleibt, was er bei einer anderen Wahl der Steuerklasse gewesen wäre, nämlich Einkommen.
3. Nicht zu beanstanden ist ferner, dass die Beklagte die dem Kläger am 6.2.2006 zugeflossene Einkommensteuererstattung als Einmalzahlung auf mehrere Monate anteilmäßig verteilt hat. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Alg II-V i.d.F. vom 22.8.2005 (BGBl I 2499) sind einmalige Einnahmen von dem Monat an zu berücksichtigen, in dem sie zufließen. Abweichend von Satz 1 ist eine Berücksichtigung der Einnahmen ab dem Monat, der auf den Monat des Zuflusses folgt, zulässig, wenn Leistungen für den Monat des Zuflusses bereits erbracht worden sind. Einmalige Einnahmen sind, soweit nicht im Einzelfall eine andere Regelung angezeigt ist, auf einen angemessenen Zeitraum aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag anzusetzen.
Eine nach Antragstellung zugeflossene Einnahme bleibt rechtlich auch über den Zuflussmonat - und über den Bewilligungszeitraum - hinaus zu berücksichtigendes Einkommen (Urteile des Senats vom 30.9.2008 - B 4 AS 57/07 R und B 4 AS 29/07 R). Da die Leistungen nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II monatlich im Voraus erbracht werden sollen, ist davon auszugehen, dass die Beklagte den dem Kläger ursprünglich bewilligten Betrag in Höhe von 532,37 Euro für Februar 2006 am 6.2.2006, mithin im Zeitpunkt der Gutschrift der Einkommensteuererstattung, bereits ausgezahlt - und damit erbracht i.S. von § 2 Abs. 3 Satz 2 Alg II-V i.d.F. vom 22.8.2005 - hat. Eine Berücksichtigung der Einkommensteuererstattung ab dem Folgemonat des Zuflusses ist dann zulässig.
4. Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG kann gleichwohl nicht entschieden werden, ob die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid zu Recht die Bewilligung von Leistungen für die Zeit von März bis Juli 2006 teilweise aufgehoben hat. Denn für die Frage, ob § 48 SGB X Anwendung findet, worauf sich die Beklagte stützt, oder nicht vielmehr § 45 SGB X hätte zu Grunde gelegt werden müssen, kommt es darauf an, wann der (Bewilligungs-) Bescheid vom 3.2.2006 erlassen wurde.
§ 45 SGB X findet Anwendung, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war und deswegen zurückgenommen werden soll; dagegen kommt eine Aufhebung nach § 48 SGB X in Betracht, wenn nach Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung eine wesentliche Änderung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht eingetreten ist. Beide Normen grenzen sich folglich nach dem Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes, der aufgehoben werden soll, ab (vgl. BSGE 96, 285 = SozR 4-4300 § 122 Nr. 4 RdNr. 13; BSGE 59, 206 = SozR 1300 § 45 Nr. 20 S 68 und BSGE 65, 221 = SozR 1300 § 45 Nr. 45 S 141). Erlassen ist ein Verwaltungsakt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der der Senat folgt, in dem Zeitpunkt, in dem er dem Adressaten bekanntgegeben und damit wirksam wurde (BSGE 59, 206 = SozR 1300 § 45 Nr. 20 S 68; BSGE 96, 285 = SozR 4-4300 § 122 Nr. 4 RdNr. 13).
Die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes erfolgt mit dessen Zugang. Unter Anwesenden ist dies die Übergabe des Verwaltungsaktes an den Adressaten. Für die Bekanntgabe unter Abwesenden kommt es in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 BGB darauf an, wann der Verwaltungsakt so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen. Tatsächliche Kenntnisnahme ist nicht erforderlich. Das LSG hat bezüglich der Bestimmung des Zeitpunktes der Bekanntgabe bzw. der Absendung des Verwaltungsaktes keine Feststellungen getroffen, sondern durch die Bezugnahme auf den Bescheid vom 3.2.2006 nur bindend festgestellt, wann dieser abgefasst wurde. Ergeben die Feststellungen des LSG, dass zuerst die Bekanntgabe und dann der Zufluss - mithin die Gutschrift auf dem Konto des Klägers - erfolgten, ist § 48 SGB X heranzuziehen. Sofern das LSG zu dem Ergebnis kommt, dass die Einkommensteuererstattung dem Kläger bereits vor Bekanntgabe des Bescheides vom 3.2.2006 zugeflossen war, findet § 45 SGB X Anwendung. Erfolgten Bekanntgabe und Zufluss gleichzeitig, ist dies eine Konstellation, die ebenfalls § 45 SGB X unterfällt. Denn dann liegen die - durch den Zufluss herbeigeführten - (tatsächlichen) Verhältnisse bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes vor. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X verlangt hingegen eine spätere Änderung (vgl. BSGE 74, 287 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 33 S 67; BSG SozR 3-2600 § 93 Nr. 3 S 17).
Sollte § 45 SGB X Anwendung finden, wäre der Umstand, dass die Beklagte ihren Bescheid auf § 48 SGB X gestützt hat, alleine nicht klagebegründend. Denn das so genannte "Nachschieben von Gründen" (richtigerweise: Stützen der Entscheidung auf eine andere Rechtsgrundlage) ist zulässig, soweit der Verwaltungsakt dadurch nicht in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensgehalt verändert oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen in nicht zulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert wird (BSGE 29, 129, 132; 87, 8, 12; BSG, Urteil vom 18.9.1997 - 11 RAr 9/97, juris RdNr. 22; BSG, Urteil vom 25.4.2002 - B 11 AL 69/01 R, juris RdNr. 16 f). Weil die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, gerichtet sind, ist das Auswechseln dieser Rechtsgrundlagen grundsätzlich zulässig (BSG, Urteil vom 25.4.2002, a.a.O.).
Ist der rechtliche Maßstab für die Aufhebungsentscheidung § 45 SGB X, so kann dies bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung jedoch nur dann unbeachtet bleiben, wenn es ausnahmsweise einer Ermessensentscheidung nicht bedurfte, denn eine Ermessensentscheidung wurde hier von der Beklagten nicht getroffen. § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II verweist auf § 330 Abs. 2 SGB III; dieser ordnet an, dass bei Vorliegen der in § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes diese - im Wege einer gebundenen Entscheidung, also ohne Ermessen - auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist. Das LSG hat bisher keine Tatsachen festgestellt, die den Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X erfüllen könnten.
Abschließend weist der Senat darauf hin, dass die objektive Feststellungslast sowohl für den Erlasszeitpunkt als auch für die ein "Vertrauen ausschließenden Aspekte" des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X bei der Beklagten liegen. Zudem stellt sich ggfs. die weitere Frage, ob die bisher nicht erfolgte Anhörung zu den tatsächlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X auch nach einer Zurückverweisung durch das BSG im weiteren Berufungsverfahren wirksam i.S. des § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X durchgeführt werden kann.
Das LSG wird abschließend auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.