Bundessozialgericht - B 4 AS 9/11 R - Urteil vom 20.12.2011
Hat der Leistungsberechtigte die Wohnung für die die Betriebskostennachforderung geltend gemacht wird, aufgrund einer Kostensenkungsaufforderung des Leistungsträgers nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II aufgegeben, ist er mit dem Wohnungswechsel lediglich einer gesetzlich auferlegten Obliegenheit nachgekommen. Solange die Leistungen für Unterkunft bis zum Vollzug der Kostensenkungsaufforderung jedoch in tatsächlicher Höhe zu erbringen waren, stellen sie einen grundsicherungsrechtlichen Bedarf der Existenzsicherung im Bereich des Wohnens dar und sind nicht wie Schulden i.S. des § 22 Abs. 5 SGB II zu behandeln. Insoweit hat das BSG schon erkannt, dass die Frage, ob Schulden i.S. des § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II oder tatsächliche Aufwendungen für Unterkunft und Heizung i.S. des § 22 Abs. 1 SGB II vorliegen, unabhängig von deren zivilrechtlicher Einordnung ausgehend von dem Zweck der Leistungen nach dem SGB II zu beurteilen ist, einen tatsächlich eingetretenen und bisher noch nicht von dem SGB II-Träger gedeckten Bedarf aufzufangen. Bezieht sich die Nachforderung an Betriebskosten auf einen während der Hilfebedürftigkeit des SGB II-Leistungsberechtigten eingetretenen und bisher noch nicht gedeckten Bedarf, handelt es sich mithin um vom SGB II-Träger zu übernehmende tatsächliche Aufwendungen nach § 22 Abs. 1 SGB II. Hat der Grundsicherungsträger dem Leistungsberechtigten bereits die monatlich an den Vermieter oder das Energieversorgungsunternehmen zu zahlenden Abschlagsbeträge zur Verfügung gestellt, den aktuellen Bedarf in der Vergangenheit also bereits gedeckt, und beruht die Nachforderung auf der Nichtzahlung der als Vorauszahlung vom Vermieter geforderten Abschläge für Heiz- und Betriebskosten, handelt es sich dagegen um Schulden.
Gründe:
I
Streitig ist, ob der Beklagte verpflichtet ist, die Aufwendungen aus einer Betriebskostennachforderung für eine im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit nicht mehr bewohnte Wohnung als eine einmalige Leistung für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu übernehmen.
Die Klägerin bezog vom 1.1.2006 bis 31.12.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Landkreis B. Darin enthalten waren auch die Kosten von insgesamt 263 Euro für eine von ihr bewohnte Mietwohnung in W. Durch Schreiben vom 28.6.2006 forderte der Grundsicherungsträger sie auf, die Kosten für die Unterkunft bis zum 31.3.2007 zu senken. Die Obergrenze für angemessenen Mietraum betrage 245 Euro. Die Klägerin zog daraufhin zum 1.11.2006 in eine Wohnung in H. - im Zuständigkeitsbereich des Beklagten - um. Der monatliche Mietpreis betrug dort insgesamt 234 Euro. Der Landkreis B. gewährte gleichwohl bis zum 31.12.2006 Alg II weiter und hob alsdann seine Bewilligungsentscheidung zum 1.1.2007 auf. Durch Bescheide vom 12.1.2007 und 15.6.2007 bewilligte der Beklagte Alg II einschließlich Leistungen für Unterkunft und Heizung für das Jahr 2007.
In einem an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 27.8.2007 machte der Vermieter der Klägerin in H. eine Betriebskostennachforderung für die Monate November und Dezember 2006 und in einem Schreiben vom 10.9.2007 der Vermieter aus W. eine solche für die Monate Januar bis Oktober 2006 geltend. Die Betriebskostennachforderung für die Wohnung in W. betrug 548,85 Euro - fällig zum 31.12.2007. Für beide Nachforderungen beantragte die Klägerin Leistungen für Unterkunft und Heizung von dem Beklagten. Dies lehnte der Beklagte für die Nachforderung bezogen auf die Wohnung in W. wegen der Unangemessenheit der Aufwendungen - seiner Ansicht nach festgestellt durch die Kostensenkungsaufforderung des Landkreises B. - durch Bescheid vom 11.10.2007 ab. Den Widerspruch der Klägerin wies er mit der Begründung zurück, die Aufwendungen für die Wohnung in W. stellten keinen aktuellen Bedarf für Unterkunft und Heizung dar, da die Klägerin die Wohnung nicht mehr bewohne (Widerspruchsbescheid vom 6.10.2008).
Im Klageverfahren vor dem SG Dresden war die Klägerin erfolgreich. Das SG hat den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 11.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.10.2008 verurteilt, die Nachforderung aus der Betriebskostenabrechnung vom 10.9.2007 für die Wohnung in W. in Höhe von 548,85 Euro zu übernehmen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, es sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S. des § 48 SGB X, die der Erteilung des Bewilligungsbescheids vom 15.6.2007 zugrunde gelegen hätten, durch die Betriebskostennachforderung für die Wohnung in W. eingetreten. Die Klägerin habe Anspruch auf höhere Leistungen nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Zwar seien Leistungen für Unterkunft und Heizung grundsätzlich nur dazu da, den aktuellen Bedarf des Wohnens durch Sicherung der Unterkunft zu gewährleisten. Hiervon sei jedoch dann eine Ausnahme zu machen, wenn - wie hier - der Umzug in die neue Unterkunft auf Veranlassung des Grundsicherungsträgers erfolgt sei. Dann sei es unbillig, Nachforderungen aus dem alten Mietverhältnis als Schulden zu werten. Der Bewilligungsbescheid vom 15.6.2007 sei daher zu ändern, ohne dass es darauf ankomme, ob die Aufwendungen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung angemessen gewesen seien. Eine rückwirkende Kostensenkung sei nicht möglich.
Der Beklagte hat mit Zustimmung der Klägerin die von dem SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Er macht geltend, bei der Betriebskostennachforderung handele es sich um Schulden, die von ihm nicht zu übernehmen seien. Hieran ändere es nichts, dass der Umzug durch den Grundsicherungsträger veranlasst worden sei. Der Verlust der zur Zeit bewohnten Wohnung drohe bei Nichtbegleichung der Schulden nicht.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 12. November 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Sprungrevision zurückzuweisen.
Sie hält die Ausführungen in dem Urteil des SG für zutreffend.
II
Die zulässige Sprungrevision ist unbegründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Übernahme der Betriebskostennachforderung für ihre Wohnung in W. in Höhe von 548,85 Euro. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist vorliegend die Betriebskostennachforderung auch für die im Fälligkeitszeitpunkt der Nachforderung nicht mehr bewohnte Wohnung ein einmaliger Bedarf für Unterkunft und Heizung i.S. des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid vom 11.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.10.2008, mit dem der Beklagte die Übernahme der Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2006 in Höhe von 548,85 Euro abgelehnt hat. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG i.V.m. § 56 SGG).
2. Die Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheids misst sich an § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III und § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, weil der Beklagte bei der Leistungsbewilligung mit dem Bescheid vom 15.6.2007 für den Zeitraum vom 1.7.2007 bis 31.12.2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt hat und die Betriebskostenabrechnung vom 10.9.2007 zeitlich in diesen Bewilligungsabschnitt fällt. Mit ihrem in der Vorinstanz gestellten Antrag auf Übernahme der Betriebskostenerstattung hat die Klägerin den Streitstoff ausdrücklich auf höhere Kosten für Unterkunft und Heizung beschränkt (zur Zulässigkeit einer derartigen Beschränkung siehe nur BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 1). Der Höhe nach ist die Überprüfung im Revisionsverfahren auf weitere Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 548,85 Euro begrenzt, weil nur der Beklagte gegen das zusprechende Urteil des SG Dresden Revision eingelegt hat.
3. Ob der Klägerin die Betriebskostennachforderung zusteht, richtet sich nach § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, hier der Bewilligungsbescheid vom 15.6.2007 betreffend den Zeitraum 1.7.2007 bis 31.12.2007, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Hierzu ist der Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen (vgl. nur BSG Urteil vom 22.3.2010, SozR 4-4200 § 22 Nr. 38). Es ergeben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass die Unterkunftskosten der Klägerin, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 19 Satz 1, § 22 SGB II erfüllt, zu hoch festgesetzt worden sein könnten.
Mit der Geltendmachung der Betriebskostennachforderung durch den Vermieter ist eine rechtserhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten. § 22 Abs. 1 SGB II erfasst nicht nur laufende, sondern auch einmalige Kosten für Unterkunft und Heizung (BSG Beschluss vom 16.5.2007 - B 7b AS 40/06 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 4 RdNr. 9; BSG Urteil vom 19.9.2008 - B 14 AS 54/07 R - RdNr. 19, FEVS 60, 490, 494; BSG Urteil vom 16.12.2008 - B 4 AS 49/07 R - BSGE 102, 194 ff = SozR 4-4200 § 22 Nr. 16, RdNr. 26; BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 62/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 38 RdNr. 13). Soweit eine Nachforderung in einer Summe fällig wird, ist sie als tatsächlicher, aktueller Bedarf im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit zu berücksichtigen, nicht aber auf längere Zeiträume zu verteilen (BSG Urteil vom 15.4.2008 - B 14/7b AS 58/07 R - SozR 4-4200 § 9 Nr. 5 RdNr. 36). Nachzahlungen gehören demzufolge zum aktuellen Bedarf im Fälligkeitsmonat (vgl. nur BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 62/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 38 RdNr. 13).
Eine wesentliche Änderung i.S. von § 48 Abs. 1 SGB X kann nicht mit der Argumentation verneint werden, die Klägerin habe für den Entstehungszeitraum der Nebenkosten keine höheren Leistungen für Unterkunft und Heizung beanspruchen können, weil der Landkreis B. als für die Kosten der Wohnung in W. zuständiger kommunaler Träger durch das Schreiben vom 28.6.2006 mit der Aufforderung zur Kostensenkung die Unangemessenheit der damaligen Unterkunftskosten festgestellt habe. Dabei kann der Senat dahinstehen lassen, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn die Kosten im Entstehungszeitpunkt unangemessen sind und im Zeitpunkt des Bedarfseintritts - also der Fälligkeit der Betriebskostennachforderung - Leistungen für Unterkunft in tatsächlich entstandener Höhe der Aufwendungen erbracht werden. Selbst wenn die Aufwendungen der Klägerin für die Wohnung in W. unangemessen waren, so befand sich die Klägerin noch in der vom Landkreis B. gesetzten "Schonfrist" des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II bis zum 31.3.2007, innerhalb derer die unangemessenen Kosten weiter zu tragen sind, soweit sofortige Kostensenkungsmaßnahmen nicht möglich oder zumutbar sind (vgl. BSG Urteil vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 19). Die Klägerin hat die Wohnung bereits zum 31.10.2006 gewechselt, also vier Monate nach Aufforderung. Hinweise, dass ihr frühere Kostensenkungsmaßnahmen möglich oder zumutbar waren, sind nicht ersichtlich.
Der Annahme einer wesentlichen Änderung steht auch nicht entgegen, dass der Bedarf durch die Betriebskostennachforderung vom 10.9.2007 nicht materiell diesem Monat oder dem Monat der Fälligkeit am 31.12.2007 zuzuordnen ist. Wie der Senat bereits entschieden hat, beurteilt sich die Rechtslage vielmehr nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen des Zeitraums, dem die fragliche Forderung nach ihrer Entstehung im tatsächlichen Sinne zuzuordnen ist (vgl. BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 12/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Für eine derartige Auslegung spricht insbesondere der dem § 22 SGB II innewohnende Schutzgedanke. Kostensenkungsmaßnahmen können nur in dem Zeitpunkt realisiert werden, in dem die Kosten entstehen. Der Anspruch beurteilt sich deshalb dem Grunde und der Höhe nach ausschließlich nach den Verhältnissen des Jahres 2006.
Es kommt im Gegensatz zu der vom Beklagten vertretenen Auffassung hier nicht darauf an, dass die Klägerin die Wohnung, für die die Betriebskosten nachgefordert worden sind, im Monat des Erhalts der Betriebskostennachforderung nicht mehr bewohnt hat. Sie hat die Wohnung aufgrund einer Kostensenkungsaufforderung des Leistungsträgers i.S. von § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II aufgegeben. Zudem stand sie im Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Aufwendungen und des Auftretens des Bedarfs durch die Nachforderung im Leistungsbezug und es ist keine anderweitige Bedarfsdeckung eingetreten. Jedenfalls in einem solchen Fall ist der Grundsicherungsträger verpflichtet, den Bedarf durch Leistungen für Unterkunft und Heizung zu decken.
Hat der Leistungsberechtigte die Wohnung für die die Betriebskostennachforderung geltend gemacht wird, aufgrund einer Kostensenkungsaufforderung des Leistungsträgers nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II aufgegeben, ist er mit dem Wohnungswechsel lediglich einer gesetzlich auferlegten Obliegenheit nachgekommen. Solange die Leistungen für Unterkunft bis zum Vollzug der Kostensenkungsaufforderung jedoch in tatsächlicher Höhe zu erbringen waren (s oben), stellen sie einen grundsicherungsrechtlichen Bedarf der Existenzsicherung im Bereich des Wohnens dar und sind nicht wie Schulden i.S. des § 22 Abs. 5 SGB II zu behandeln. Insoweit hat der Senat ebenfalls schon erkannt, dass die Frage, ob Schulden i.S. des § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II oder tatsächliche Aufwendungen für Unterkunft und Heizung i.S. des § 22 Abs. 1 SGB II vorliegen, unabhängig von deren zivilrechtlicher Einordnung ausgehend von dem Zweck der Leistungen nach dem SGB II zu beurteilen ist, einen tatsächlich eingetretenen und bisher noch nicht von dem SGB II-Träger gedeckten Bedarf aufzufangen (BSG Urteil vom 22.3.2010 - B 4 AS 62/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 38; Urteil vom 17.6.2010 - B 14 AS 58/09 R - BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 41). Bezieht sich die Nachforderung an Betriebskosten auf einen während der Hilfebedürftigkeit des SGB II-Leistungsberechtigten eingetretenen und bisher noch nicht gedeckten Bedarf, handelt es sich mithin um vom SGB II-Träger zu übernehmende tatsächliche Aufwendungen nach § 22 Abs. 1 SGB II. Hat der Grundsicherungsträger dem Leistungsberechtigten bereits die monatlich an den Vermieter oder das Energieversorgungsunternehmen zu zahlenden Abschlagsbeträge zur Verfügung gestellt, den aktuellen Bedarf in der Vergangenheit also bereits gedeckt, und beruht die Nachforderung auf der Nichtzahlung der als Vorauszahlung vom Vermieter geforderten Abschläge für Heiz- und Betriebskosten, handelt es sich dagegen um Schulden (BSG Urteil vom 17.6.2010 - B 14 AS 58/09 R - BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 41; Urteil vom 23.11.2011 - B 14 AS 121/10 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Das ist hier, wie oben bereits dargelegt, jedoch nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.