Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der schwerbehinderten Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festzustellen sind.

Der Beklagte lehnte den darauf gerichteten Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 16.11.2000; Widerspruchsbescheid vom 8.7.2002). Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht (SG) Frankfurt/Oder hat den Beklagten für die Zeit ab 1.1.2005 zur beantragten Feststellung verurteilt. Zu diesem Ergebnis ist das SG gelangt, indem es das Übergewicht der Klägerin von etwa 50 kg (Adipositas per magna) als den Grad der Behinderung (GdB) erhöhend berücksichtigt hat (Urteil vom 31.3.2005).

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Bei der Klägerin liege zwar - anders als vom SG angenommen - keiner der in Nr. 30 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) für das Merkzeichen "G" genannten Fälle vor, in denen die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen seien. Denn es beständen keine Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingten, und es fehlten auch auf die Gehfähigkeit der Klägerin sich besonders auswirkende Behinderungen mit einem GdB von 40. Ihr Zustand sei diesen Regelfällen der AHP aber gleichzustellen, weil ihr Gehvermögen durch eine Kombination innerer und orthopädischer Leiden, die sich wechselseitig besonders negativ aufeinander auswirkten, vergleichbar beeinträchtigt sei. Hauptursache für das auf 250 m reduzierte Gehvermögen sei auch nicht - wie vom Beklagten angenommen - das Übergewicht der Klägerin. Es verstärke lediglich die behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens (Urteil vom 8.6.2006).

Mit seiner Revision macht der Beklagte eine Verletzung des § 146 Abs. 1 SGB IX geltend. Wie dort gefordert sei das Gehvermögen zwar eingeschränkt und die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr beeinträchtigt. Das sei im Wesentlichen aber nicht auf Behinderungen zurückzuführen. Der dafür ausgeworfene GdB erreiche die Grenzwerte für eine regelhaft anzunehmende erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nicht. Wesentlich für das mangelnde Gehvermögen der Klägerin sei ihr Übergewicht, das nach Nr. 26.15 AHP für sich allein keine Behinderung darstelle und nicht zu einem GdB führe. Es gehöre damit zu den Faktoren, die bei der hier erforderlichen Beurteilung außer Betracht zu bleiben hätten.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Berlin-Brandenburg vom 8.6.2006 und des SG Frankfurt/Oder vom 31.3.2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

II

Die Revision des Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat die Berufung des Beklagten zu Recht zurückgewiesen, weil das SG ihn im Ergebnis zutreffend verurteilt hat, bei der Klägerin für die Zeit ab 1.1.2005 eine erhebliche Bewegungsbeeinträchtigung im Straßenverkehr - Merkzeichen "G" - als Voraussetzung für die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr festzustellen.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die AHP beschreiben dazu in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können. Die AHP geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG SozR 3-3870 § 60 Nr. 2 S 4 f).

Die so verstandenen gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" erfüllt die Klägerin. Das LSG hat die von ihr zumutbar noch zurücklegbare Wegstrecke - vom Beklagten unangegriffen - mit 250 Metern festgestellt. Das ist nur ein Bruchteil des Weges von 2 km, der im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt wird (vgl. dazu BSGE 62, 273, 277 = SozR 3870 § 60 Nr. 2 S 5 und - dieser Rechtsprechung folgend - Nr. 30 Abs. 2 AHP). Dieser Zustand besteht auch infolge einer Behinderung, die das Gehvermögen der Klägerin einschränkt.

Entgegen der Ansicht des Beklagten gehört ein erhebliches Übergewicht nicht zu den Faktoren, die keinen Bezug zu einer Behinderung haben und daher bei der Beurteilung des Gehvermögens unberücksichtigt bleiben. Die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna sind nicht nur bei Einschätzung eines aus anderen Gesundheitsstörungen folgenden GdB (erhöhend) zu berücksichtigen (vgl. Nr. 26.15 AHP 2004 (S 99, letzter Satz)), sondern auch insoweit, als sie zu einer Einbuße der in § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX genannten Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen (vgl. BSGE 62, 273, 274 = SozR 3850 § 60 Nr. 2 S 2 = juris RdNr. 9).

Auf dieser Grundlage ist das LSG zu dem revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" vorliegen. Nach den unangegriffenen Feststellungen im Berufungsurteil liegt bei der Klägerin ein Narbenbruch mit Vorfall der Baucheingeweide vor, der zu einem Funktionsausfall der Bauchmuskulatur und pathophysiologisch zu besonderer Belastung der Wirbelsäule (Lenden- und Brustwirbelsäule) geführt hat, deren Belastungsfähigkeit infolge Hohlrundrückens und Teilfixierung der Lenden- und Brustwirbelsäulenabschnitte ohnehin schon herabgesetzt ist. Diese statisch-dynamische Insuffizienz der Wirbelsäule als Achsorgan des Rumpfes in Verbindung mit funktionellen Störungen beider Hüft- und Kniegelenke mag zwar für sich genommen noch keinen GdB von 50 oder jedenfalls 40 bedingen, bei dem nach Nr. 30 Abs. 3 AHP die gesundheitlichen Merkmale für das Merkzeichen "G" regelhaft anzunehmen wären. Die aus den Gesundheitsstörungen des Stütz- und Bewegungsapparates folgenden Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr werden aber jedenfalls durch funktionelle Auswirkungen der Adipositas per magna so weit verstärkt, dass die der Klägerin zumutbare Wegstrecke auf - weit - unter 2 km abgesunken ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.