Bundessozialgericht - B 9 SB 1/14 R - Urteil vom 11.08.2015
Psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten noch um die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs (Merkzeichen) G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Bei der 1969 geborenen Klägerin war zunächst ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 festgestellt (Bescheid vom 29.8.2008). Auf erneuten Antrag stellte der beklagte Landkreis einen GdB von 50 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G ab (Bescheid vom 6.7.2009; Erschöpfungssyndrom, Somatisierungsstörung, Schmerzverarbeitungsstörung, rezidivierende depressive Störung, (Einzel-GdB 50); Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenschaden mit Nervenwurzelreizungen, Tendomyopathie, (Einzel-GdB 20); Hautleiden mit Gelenkerkrankung, (Einzel-GdB 20); allergische Bronchitis, allergische Diathese, allergische Hauterkrankung, (Einzel-GdB 10)). Den Widerspruch wies die Bezirksregierung Münster zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.8.2009).
Das SG hat die Klage, mit der die Klägerin ursprünglich einen höheren GdB als 50 neben dem Merkzeichen G begehrte, nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens abgewiesen. Bei der Klägerin liege eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine rezidivierende depressive Störung (mittelgradige Episode) und eine abhängige Persönlichkeitsstörung vor. Die Beeinträchtigungen im Bereich der Psyche seien mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten, der Gesamt-GdB betrage 50. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr liege nicht vor. Soweit die Klägerin subjektiv das Gefühl habe, dass sie nur 400 Meter gehen könne, ordne sich dies unter dem Gefühl der Verschlimmerung einer allgemeinen Schmerzsymptomatik ein und entspreche nicht einer eigentlichen Gehstörung (Urteil vom 5.3.2012).
Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG ein fachärztlich sozialmedizinisches Gutachten eingeholt, das den Gesamt-GdB mit 50 für angemessen hielt und bezüglich des geltend gemachten Nachteilsausgleichs G ausführte, keiner der gesetzlich geregelten Regelfälle liege vor. Jedoch bestehe bei der Klägerin eine Schmerzproblematik durch das vorhandene Fibromyalgie-Syndrom, auch als somatoforme Störung, zum Teil mit hypochondrischen Symptomen bei depressiven Episoden. Die Klägerin sei überzeugt von ihren Einschränkungen und auf die körperlichen Einschränkungen fixiert, wobei die Schmerzwahrnehmung durch psychogene Prozesse deutlich verstärkt werde. Die Dauerleistungsfähigkeit mit der Vorgabe von zwei Kilometern in 30 Minuten sei zu keiner Zeit ohne erhebliche, nicht zumutbare Schmerzen zu bewältigen. Gestützt auf das sozialmedizinische Gutachten hat das LSG den Beklagten zur Feststellung des allein noch begehrten Nachteilsausgleichs G verurteilt. Das im SG-Verfahren eingeholte Gutachten sei demgegenüber nicht überzeugend, da es allein auf ein organisch bedingtes Gehvermögen abstelle, wenn es ein subjektives Gefühl nicht als eigentliche Gehstörung bezeichne (Urteil vom 16.10.2013).
Mit seiner Revision rügt der beklagte Landkreis die Verletzung materiellen Rechts (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Klägerin erfülle nicht die Beispielsfälle der Anlage zu § 2 Versicherungsmedizin-VO (AnlVersMedV). Das bei ihr vorhandene Schmerzsyndrom sei diesen auch nicht vergleichbar.
Der beklagte Kreis beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 2013 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 5. März 2012 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision des beklagten Landkreises ist unbegründet (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG der Klage stattgegeben. Die Klage ist zulässig (dazu 1.) und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs G (dazu 2.).
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Aufhebung des Berufungsurteils, mit dem das LSG den Bescheid des Beklagten vom 6.7.2009 und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Münster vom 17.8.2009 sowie das nachfolgende Urteil des SG abgeändert und den Beklagten verurteilt hat, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G festzustellen.
a) Dieses prozessuale Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG - siehe zur statthaften Klageart etwa BSG Urteil vom 27.2.2002 - B 9 SB 6/01 R - Juris RdNr. 40).
b) Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Nachteilsausgleiche ist in Nordrhein-Westfalen (NRW) mit Wirkung vom 1.1.2008 durch das Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes NRW (GVBl NRW S 482) in Einklang mit höherrangigem Recht den Landkreisen übertragen worden. Dies hat der erkennende Senat wiederholt entschieden (vgl. BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Artikel 85 Nr. 1; BSG Urteil vom 11.12.2008 - B 9 V 3/07 R - Juris; BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - RdNr. 13 ff m.w.N., 21; zum erneuten Übergang der Zuständigkeiten durch das hier nicht einschlägige Städteregion Aachen Gesetz vgl. BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr. 2). Hieran hält der Senat fest.
2. Die Klägerin hat wegen ihrer psychogenen Gangstörung Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs G.
a) Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G sind §§ 145 Abs. 1 Satz 1, 146 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 69 Abs. 1 und 4 SGB IX. Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr i.S. des § 147 Abs. 1 SGB IX. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der fortgeltenden Ursprungsfassung des Gesetzes vom 19.6.2001 (BGBl I 1046) ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 7/06 R - SozR 4-3250 § 146 Nr. 1 RdNr. 12).
Die nähere Präzisierung des Personenkreises schwerbehinderter Menschen mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ergibt sich aus dem in § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F. Bezug genommenen versorgungsrechtlichen Bewertungssystem, dessen Kern ursprünglich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) waren. Diese sind seit 1.1.2009 abgelöst durch die auf der Grundlage des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassenen Versorgungsmedizin-VO vom 10.12.2008 (VersMedV, BGBl I 2412). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl. Dau jurisPR-SozR 24/2009 Anmerkung 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7.1.2015 (BGBl II 15) Rechnung getragen durch Schaffung einer nunmehr eigenständig in § 70 Abs. 2 SGB IX angesiedelten Ermächtigungsgrundlage. Durch diese wird das BMAS seit 15.1.2015 ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5).
Gemäß den Grundsätzen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche (Teil D Nr. 1 Buchstabe b Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV (AnlVersMedV)) ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (zur Anwendbarkeit der Grundsätze und zu normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen vgl. zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2014 - B 9 SB 2/13 R RdNr. 10 m.w.N.; Loytved jurisPR-SozR 12/2015 Anmerkung 3). Für die Bewegungseinschränkung ist nicht die Dauerhaftigkeit entscheidend (Loytved jurisPR-SozR 12/2015 Anmerkung 3 m.w.N.; anders bei Nachteilsausgleich aG, siehe Urteil des erkennenden Senats vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/14 R RdNr. 16 f). Bei der Prüfung der Frage, ob die weiteren Voraussetzungen vorliegen, kommt es zudem nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden (Teil D Nr. 1 Buchstabe b Satz 2 AnlVersMedV). Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Teil D Nr. 1 Buchstabe b Satz 3, 4 AnlVersMedV). Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen enthalten darüber hinaus Teil D Nr. 1 Buchstabe d, e und f AnlVersMedV. Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind danach u.a. als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (Teil D Nr. 1 Buchstabe d Satz 1). Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen (Teil D Nr. 1 Buchstabe d Satz 3, 4), die ebenfalls mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten sind. Besonderheiten gelten für hirnorganische Anfälle (Teil D Nr. 1 Buchstabe e) und Orientierungsstörungen infolge von Sehstörungen, Hörstörungen oder geistiger Behinderung (Teil D Nr. 1 Buchstabe f), die grundsätzlich nur ab einem Behinderungsgrad von wenigsten 70 Merkzeichenrelevanz entfalten. Weder das eine noch das andere in Teil D Nr. 1 AnlVersMedV konkret gelistete Krankheitsbild liegt - wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist - bei der Klägerin vor.
b) Psychische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Anspruch auf den Nachteilsausgleich G hat über die genannten Regelbeispiele hinausgehend auch der schwerbehinderte Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke (vgl. zur "Generalklausel" Löbner Sozialrechtaktuell 2015, 5, 8) dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis gleichzustellen ist. Teil D Nr. 1 AnlVersMedV enthält keine abschließende Listung in Betracht kommender Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen, sondern erfasst etwa auch psychische Behinderungen. Dies legt schon der - noch der gesetzlichen Altregelung in § 60 Abs. 1 Satz 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) a.F. entsprechende - Wortlaut (Teil D Nr. 1 Buchstabe b Satz 1 AnlVersMedV: "Einschränkung des Gehvermögens, auch durch ") nahe, der mit der Regelung in § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX trotz der zum 1.7.2001 eingefügten Klammer übereinstimmt ("Einschränkung des Gehvermögens (auch durch )"; vgl. BT-Drucks 14/5074 S 115). Zwar hat der erkennende Senat die inhaltgleiche Umschreibung der in Betracht kommenden Behinderungen in § 60 Abs. 1 Satz 1 SchwbG a.F. in seiner Entscheidung vom 10.5.1994 als abschließend betrachtet und psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nicht mit "Anfällen" gleichzusetzen ist und nicht zu Störungen der Orientierungsfähigkeit führt, sondern nur z.B. mit Verstimmungen, Antriebsminderung und Angstzuständen ohne Betroffenheit des Gehvermögens einhergeht, nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erheblich beeinträchtigt angesehen (BSG Beschluss vom 10.5.1994 - 9 BVs 45/93). Zugrunde lag der Entscheidung die besondere Fallgestaltung einer starken Antriebsminderung, deretwegen es bei Spaziergängen in Begleitung des Ehemannes gelegentlich zu - überwindbaren - Bewegungsstopps kam.
Der Senat hat andererseits schon damals hervorgehoben, dass mit dem Kriterium des "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigten Personenkreises" in §§ 59, 60 SchwbG aG der Kreis der Begünstigten gegenüber den "erheblich gehbehinderten Körperbehinderten, Beschädigten und Verfolgten" i.S. des früheren § 2 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 6, Abs. 2 Gesetz über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie anderen Behinderten vom 27.8.1965 (BGBl I 978; zur Verfassungsmäßigkeit BVerfGE 39, 148) gerade erweitert werden und auf alle Schwerbehinderten ohne Rücksicht auf die Ursache ihrer Behinderung erstreckt werden sollte (BT-Drucks 8/2453 S 9, 10). Hiervon ausgehend hat er in seiner späteren Entscheidung vom 13.8.1997 die in Ziff 30 Abs. 3 bis 5 der AHP 1983 (ebenso AHP 1996 oder auch zuletzt 2008) beschriebenen und Teil D Nr. 1 Buchstabe d bis f AnlVersMedV entsprechenden Behinderungen und Krankheitsbilder in Parallele zur Vorgehensweise bei der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs aG (hierzu jetzt Teil D Nr. 3 AnlVersMedV; Votum zu B 9 SB 2/14 R) als Regelfälle typisiert und diese Typisierung später bestätigt (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 7/06 R - SozR 4-3250 § 146 Nr. 1 RdNr. 12). Bei diesen Regelfällen sind nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen. Dort nicht erwähnte Behinderungen sind aber keineswegs ausgeschlossen.
Der umfassende Behindertenbegriff i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gebietet im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots (Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Artikel 5 Abs. 2 UN-BRK, hierzu BSGE 110, 194 = SozR 4-1100 Artikel 3 Nr. 69 RdNr. 31) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Den nicht erwähnten Behinderungen sind die Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab zur Seite zu stellen. Anspruch auf Nachteilsausgleich G hat deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr. 1 Buchstabe d bis f AnlVersMedV genannten Regelfällen dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen ist (vgl. BSG Urteil vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 - SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Dies gilt auch für psychosomatische oder psychische Behinderungen und Krankheitsbilder, wie das der Entscheidung vom 13.8.1997 u.a. zugrunde liegende Schmerzsyndrom oder das hier im Falle der Klägerin bestehende Fibromyalgie-Syndrom und die damit einhergehende Schmerzproblematik.
Schwerbehinderte Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen hat der Senat schon in der Vergangenheit von der Vergünstigung des Nachteilsausgleichs G nicht generell ausgeschlossen, sondern lediglich psychische Beeinträchtigungen, durch welche die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sein kann, ohne dass das Gehvermögen betroffen ist, auf eine Vergleichbarkeit mit den Regelfällen bei Anfällen und Störungen der Orientierungsfähigkeit beschränkt (BSG Beschluss vom 10.5.1994 - 9 BVs 45/93 - Juris; zu Schmerzattacken etwa Hessisches LSG Urteil vom 17.2.1998 - L 4 SB 1351/95 - Juris). Für psychische Beeinträchtigungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, gilt diese Beschränkung indessen nicht. In solchen Fällen sind auch andere Regelbeispiele als Vergleichsmaßstab in Betracht zu ziehen (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.1.2014 - L 13 SB 51/12 - Juris RdNr. 19; Vogl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 2. Aufl. 2015, SGB IX § 146 RdNr. 16; Masuch in Hauck/Noftz, Stand 4/15, SGB IX, § 146 RdNr. 50).
Der Verordnungsgeber ist allerdings für künftige Fälle nicht daran gehindert, die Voraussetzungen des Merkzeichens G dadurch einzuschränken, dass er für Fälle psychischer Gehbehinderungen einen Einzel-GdB von z.B. 70 verlangt.
c) Durch die psychische Erkrankung liegen bei der Klägerin gleich schwere Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke vor wie bei dem in Teil D Nr. 1 Buchstabe d AnlVersMedV beispielhaft aufgeführten Personenkreis.
Entsprechend der vom Gesetz geforderten doppelten Kausalität (siehe oben II.2.) ist Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen und diese Behinderung schränkt sein Gehvermögen ein (vgl. BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 7/06 R - SozR 4-3250 § 146 Nr. 1 RdNr. 12). Nach den Feststellungen des LSG steht fest, dass die Klägerin wegen ihrer psychischen Behinderung durch das Fibromyalgie-Syndrom, die somatoforme Störung und Schmerzproblematik schwerbehindert ist, die psychische Behinderung sich unmittelbar auf das Gehvermögen auswirkt, und die Klägerin deswegen eine im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückzulegende Wegstrecke von etwa zwei Kilometern in 30 Minuten nicht zurücklegen kann. Der Beklagte hat gegen die bindenden Feststellungen des LSG (vgl. § 163 SGG) keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen erhoben.
Soweit der Beklagte meint, die Einschränkung der Gehstrecke beruhe bei der Klägerin allein auf einer subjektiven Prognose, ist eine Überschreitung der Grenzen der Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG; vgl. dazu BSGE 94, 133, 137 RdNr. 18 m.w.N.; BSG Urteil vom 14.12.2011 - B 5 R 2/11 R - Juris RdNr. 20) auch nicht sinngemäß dargetan. Weder zeigt der Beklagte auf noch ist sonst ersichtlich, dass ein (medizinischer) Erfahrungssatz zu psychischen Gangstörungen oder in Bezug auf die Messung der relevanten Wegstrecke (hierzu die Äußerung des Sachverständigenbeirats, zitiert nach Schillings/Wendler Versorgungsmedizinische Grundsätze, 6. Aufl. S 346) existiert, mit dem die Beweiswürdigung des LSG nicht in Einklang steht. Im Übrigen hat sich das LSG mit den einander entgegenstehenden Ergebnissen der eingeholten Sachverständigengutachten auseinandergesetzt und sich frei von Denkfehlern überzeugt, dass das vom Sachverständigen Dr. C. herausgefilterte subjektive Gefühl der Klägerin, nicht mehr als 400 m laufen zu können, Ausdruck ihrer unstreitig schweren psychischen Beeinträchtigung ist und deshalb in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. T. nicht vor dem Hintergrund einer organisch bedingten Gehstörung betrachtet werden könne.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.