BSG - B 9 SB 20/10 B - Beschluss vom 02.12.2010
1. Die Frage, ob ein Beteiligter seinen Beweisantrag nicht mehr aufrechterhält, ist dann von Amts wegen aufzuklären, wenn der Beteiligte nicht durch einen berufsmäßigen Rechtsvertreter vertreten wird.
2. Liegen unterschiedliche Angaben der behandelnden Ärzte zu der umstrittenen Gehfähigkeit (Nachteilsausgleich "G") eines Beteiligten vor, muss sich das Gericht zu einer weiteren Beweiserhebung gedrängt fühlen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G".
Bei der 1986 geborenen Klägerin wurde zunächst als Behinderung eine "Lebertransplantation mit Folgeerscheinungen im Stadium der Heilungsbewährung" mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "H" festgestellt (Bescheid vom 18.11.1999). Ab 16.3.2003 wurde der GdB auf 90 herabgesetzt (Bescheid vom 18.10.2007).
Den Antrag der Klägerin, ihr auch das Merkzeichen "G" zuzuerkennen, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 12.8.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.1.2006). Nach Einholung schriftlicher sachverständiger Zeugenaussagen mit kurzer gutachtlicher Äußerung von den behandelnden Ärzten Prof. Dr. N., Prof. Dr. Z., Prof. Dr. E. und Dr. T. hat das Sozialgericht (SG) Stuttgart die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 7.4.2009). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat nach Einholung einer weiteren schriftlichen sachverständigen Zeugenaussage mit kurzer gutachtlicher Äußerung von dem behandelnden Arzt Prof. Dr. L. die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Es hat u.a. ausgeführt: Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lasse sich nicht positiv feststellen. Prof. Dr. L. habe keine wesentlichen Auswirkungen der Behinderung der Klägerin auf deren Gehfähigkeit festgestellt. Die Überzeugungskraft der von Prof. Dr. L. mitgeteilten Einschätzung der Gehfähigkeit der Klägerin werde durch die von dieser erhobenen Einwendungen nicht gemindert. Der Senat vermöge der Einschätzung von Frau Dr. T., die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, eine Wegestrecke von etwa zwei Kilometern in etwa 30 Minuten zurückzulegen, nicht zu folgen. Anlass für die Einholung eines Sachverständigengutachtens habe angesichts des hinreichend geklärten Sachverhalts nicht bestanden.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des LSG hat die Klägerin Beschwerde eingelegt. Als Zulassungsgrund macht sie einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG) geltend. Das LSG habe ihren im Schriftsatz vom 9.3.2010 gestellten Beweisantrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens übergangen. Dort habe sie ihre Ausführungen unter Beweis gestellt, dass sie nicht mehr in der Lage sei, ohne erhebliche Schwierigkeiten und nachfolgende Beeinträchtigungen mehr als zwei Kilometer in einer halben Stunde zu gehen. Bereits nach einer Wegestrecke in üblicher Geschwindigkeit von 10 bis 15 Minuten nähmen die vorhandenen Schmerzen so stark zu, dass sie nur noch unter größten Schmerzen zunächst weitergehen könne und dann aber ihren Weg abbrechen müsse. Das LSG habe eine Beweislastentscheidung getroffen, ohne die vorhandenen oder beantragten Beweismittel vollständig auszuschöpfen.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Wie die Klägerin formgerecht (§ 160a Abs. 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend gerügt hat, beruht das angegriffene Urteil auf einer Verletzung des § 103 SGG, denn das LSG ist einem Beweisantrag der Klägerin ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 2 SGG). Der Senat macht deshalb gemäß § 160a Abs. 5 SGG von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Zur Begründung ihrer Verfahrensrüge (§ 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 Satz 3 SGG) hat die Klägerin dargelegt, das LSG sei ihrem Beweisantrag, ein medizinisches Sachverständigengutachten zu ihrer Gehfähigkeit einzuholen, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Sie hat aufgezeigt, dass der von ihr im Schriftsatz vom 9.3.2010 gestellte Beweisantrag Beweisthema (eingeschränkte Gehfähigkeit) und Beweismittel (Sachverständigengutachten) nennt und damit den gesetzlichen Anforderungen (§ 118 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 402 ff ZPO) genügt. Aus den dargelegten Umständen des Verfahrens lässt sich auch entnehmen, dass die Klägerin den schriftsätzlich gestellten Antrag bis zuletzt aufrechterhalten hat (vgl. dazu BSG SozR 1500 § 160 Nr. 12; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 35 S 73 f; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr. 13 RdNr. 11). Insbesondere musste die Klägerin zur Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde nicht vortragen, sie habe diesen Antrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG zu Protokoll wiederholt oder ausdrücklich darauf Bezug genommen.
Soweit das BSG in ständiger Rechtsprechung den Grundsatz vertritt (vgl. z.B. aus der Rechtsprechung des erkennenden Senats: BSG SozR 4-1500 § 160 Nr. 1 RdNr. 5; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr. 13 RdNr. 11), dass ein Beweisantrag als nicht mehr aufrechterhalten gilt, wenn in der mündlichen Verhandlung nur ein Sachantrag gestellt wird, geht diese Rechtsprechung jeweils von einem anwaltlich oder ähnlich rechtskundig vertretenen Beteiligten aus. Dabei kommt es nach Auffassung des erkennenden Senats nicht auf das Vorhandensein allgemeiner Rechtskenntnisse bei dem betreffenden Beteiligten oder dessen Bevollmächtigtem an. Vielmehr muss es sich um einen berufsmäßigen Rechtsvertreter, also insbesondere einen Rechtsanwalt oder einen anderen in § 73 Abs. 2 SGG genannten Prozessbevollmächtigten, handeln (vgl. BSG SozR 4-1500 § 160 Nr. 1 RdNr. 5). Liegt keine entsprechende Vertretung vor, ist der Vorsitzende auch in Ansehung des § 112 SGG im Zweifel gehalten, in der mündlichen Verhandlung von sich aus zu klären, ob der Beteiligte einen schriftlichen Beweisantrag fallen lassen oder aufrechterhalten will. Da der Vater der Klägerin, der diese in der mündlichen Verhandlung vertreten hat, nicht zu dem Personenkreis rechtskundiger Prozessbevollmächtigter i.S. des § 73 Abs. 2 SGG gehört, bedurfte es in der Beschwerdebegründung keines besonderen Vorbringens zur Aufrechterhaltung des Beweisantrages.
Schließlich hat die Klägerin auch dargetan, inwiefern das LSG diesem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist auch begründet. Das LSG durfte den im Schriftsatz der Klägerin vom 9.3.2010 gestellten Beweisantrag nicht ohne weitere Nachfrage im Termin zur mündlichen Verhandlung als fallen gelassen betrachten. Es hätte ihm auch entsprechen müssen.
Das LSG hat seine in § 103 SGG normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es dem Beweisantrag der Klägerin, von Amts wegen ein medizinisches Sachverständigengutachten zum Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichen "G" einzuholen, "ohne hinreichende Begründung" nicht gefolgt ist (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG). Dabei ist diese Wendung im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen. Es kommt insoweit darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt weiter aufzuklären, ob es sich also aus seiner Sicht zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr seit BSG SozR 1500 § 160 Nr. 5). Das Gericht muss mithin von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl. BSG SozR 4-1500 § 160 Nr. 12 RdNr. 10).
Unter Zugrundelegung seiner (insoweit mit dem SG übereinstimmenden) Rechtsauffassung, dass sich eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr i.S. des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX danach bemisst, ob der Behinderte noch in der Lage ist, eine Wegstrecke von zwei km bei einer Gehdauer von etwa 30 Minuten zurückzulegen, hätte sich das LSG nach dem Ergebnis der bis zur mündlichen Verhandlung durchgeführten Sachverhaltsaufklärung zu der beantragten Beweiserhebung, ein medizinisches Sachverständigengutachten zur Gehfähigkeit der Klägerin einzuholen, gedrängt fühlen müssen. Die vom SG und LSG auf der Grundlage des § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 377 Abs. 3 Satz 1, § 414 ZPO gehörten behandelnden Ärzte haben in ihren kurzen gutachtlichen Äußerungen die Frage, ob die Klägerin noch in der Lage ist, eine Wegstrecke von zwei km in 30 Minuten zurückzulegen, unterschiedlich beurteilt. Es stand demnach aufgrund dieser Beweisaufnahme nicht bereits zweifelsfrei fest, welche Wegstrecke die Klägerin innerhalb welcher Zeit zurücklegen kann. Hinzu kommt, dass die Zeugenaussagen mangels spezifischer, auf die Gehfähigkeit bezogener Untersuchungen nur den Charakter einer groben Einschätzung hatten, die jedenfalls bei unterschiedlicher Beurteilung einer kritischen fachärztlichen Überprüfung durch einen unabhängigen Sachverständigen bedürfen. Unter diesen Umständen hätte das LSG mangels ausgewiesener eigener medizinischer Sachkunde der beantragten Beweiserhebung nachkommen müssen. Insbesondere durfte es die Schmerzangaben der Klägerin nicht ohne sachkundige Hilfe als nicht hinreichend objektiviert ansehen.
Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen entsprechender weiterer Ermittlungen kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Hätte das LSG die beantragte Beweiserhebung durchgeführt, wäre es auf der Grundlage gezielter Befunderhebungen und sachkundiger Beurteilung möglicherweise zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt.
Nach § 160a Abs. 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG vorliegen. Der Senat macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.