BSG - B 9a SB 1/06 BH - Beschluss vom 11.10.2006
Die Frage, welche Qualität die Interessen eines behinderten Menschen haben müssen, damit Feststellungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch auch rückwirkend getroffen wenden können, ist - höchstrichterlich - klärungsbedürftig.
Das Interesse, Ansprüche wegen eines Arbeitsunfalls zu verfolgen, reicht jedenfalls nicht aus, da Berufsgenossenschaften nicht an die Entscheidung der Versorgungsverwaltung gebunden sind.
Gründe
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vorn 10. Juli 2006 die Auffassung des Beklagten und die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt, wonach der Grad der Behinderung (GdB) des Klägers nur 50 - statt wie begehrt 100 - beträgt und dies nicht rückwirkend seit 1984 sondern erst ab Antragstellung 1997. Bestätigt hat das LSG die Entscheidungen des Beklagten und des Sozialgerichts Würzburg auch insoweit, als dort die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und. "H". (Hilflosigkeit) verneint worden sind. Über den Antrag des Klägers, die B.-Versicherung zur Zahlung einer Karenzentschädigung zu verurteilen, hat das LSG nicht entschieden. Der Sozialrechtsweg sei dafür nicht eröffnet, zuständig seien die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit: Die Revision hat das LSG nicht zugelassen.
Dagegen beabsichtigt der Kläger Beschwerde zum Bundessozialgericht (BSG) einzulegen und beantragt, ihm für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Nach § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Daran fehlt es hier, obwohl der Kläger Aussicht auf teilweise Zulassung der Revision wegen Verfahrensfehlers hätte. Ein Erfolg in der Sache ist ausgeschlossen. Der Kläger könnte nach Zulassung der Revision weder sein hauptsächliches Klageziel (Erhöhung des GdB und dies bereits ab 1984 sowie Zuerkennung der Nachteilsausgleiche "G" und "H") noch die Karenzentschädigung erreichen. In dieser Lage würde ein bemittelter, nicht auf PKH angewiesener Kläger den Rechtsstreit vernünftigerweise nicht fortführen.
Das LSG hat über die beantragte Karenzentschädigung nicht entschieden, weil hierfür der Sozialrechtsweg nicht eröffnet sei. Damit hat das Berufungsgericht gegen § 202 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz verstoßen; es hätte sich insoweit für unzuständig erklären und den Rechtsstreit an das zuständige Arbeitsgericht verweisen müssen. Sein Prozessziel (Karenzentschädigung und Zinsen) hätte der Kläger allerdings auch insoweit nicht erreichen können, weil über diese Forderung von den Gerichten der Arbeitsgerichtsbarkeit bereits rechtskräftig - zu Ungunsten des Klägers - entschieden worden ist (Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 24. Juni 1993 - 5 Sa 471192). Einen Wiederaufnahmeantrag hat der Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren nicht gestellt.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) wäre die Revision nicht zuzulassen. Zwar ließe sich die grundsätzlich bedeutsame Frage stellen,
welche Qualität müssen die Interessen eines Behinderten haben, damit Feststellungen nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) auch rückwirkend getroffen wenden können.
Diese Frage ist auch - wieder - klärungsbedürftig, nachdem in der Literatur gegen die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr. 3) gewichtige Bedenken geltend gemacht worden sind (vgl. Steinäcker, Behindertenrecht 2006, 98 ff). Die Frage wäre aber nicht klärungsfähig, weil der Kläger als einziges Interesse an rückwirkender Feststellung eines - höheren - GdB und an Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für Nachteilsausgleiche anführt, er wolle Ansprüche gegen die Land- und Forstwirtschaftliche Berufsgenossenschaft F. und O. auf weitere Entschädigung wegen der Folgen eines am 3. Februar 1964 erlittenen Arbeitsunfalls verfolgen. Die Feststellung eines GdB durch die Versorgungsverwaltung hat aber für den Unfallversicherungsträger - anders als umgekehrt (vgl. § 69 Abs. 2 SGB IX) - keine bindende Wirkung bei seiner Entscheidung über die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit und sagt nichts darüber aus, ob Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen anzusehen sind; unerheblich ist auch, ob und ab wann Nachteilsausgleiche zustehen.