Bayerisches LSG – Az.: 15 VH 1/01 - Urteil vom 27. Februar 2003   

 

 

Zur Höhe der MDE/GdB bei Schreibkrampf

 

  Tatbestand:

 

Zwischen den Beteiligten ist die Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers auf mindestens 25  v.H. wegen Verschlimmerung einer bereits als Folge einer politischen Haft anerkannten Gesundheitsstörung  (Schreibkrampf) und wegen Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach dem Häftlingshilfegesetz  (HHG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) streitig.

 

Der in B. am 1934 geborene Kläger stellte am 11.12.1985 beim Beklagten Antrag auf Leistungen nach dem HHG, da er  infolge seiner Inhaftierung in der DDR vom 18.04.1983 bis 14.08.1985 nervlich zerrüttet sei. Im Zusammenhang mit einem  Ausreiseantrag, den er bereits 1980 gestellt habe, sei er am 18.04.1983 um 5.30 Uhr zu einem Verhör bei der  Staatssicherheit geholt, bis ca. 17.00 Uhr verhört und anschließend mit Handketten abgeführt worden. Er habe sich nackt  ausziehen müssen und habe, als er den Empfang der Gefängniskleidung quittieren sollte, einen Nervenzusammenbruch  erlitten. Er habe mit der rechten Hand die Quittung nicht mehr unterschreiben können, da er am ganzen Körper gezittert  habe. Seit diesem Ereignis könne er mit der rechten Hand wegen starken Zitterns keine schriftlichen Arbeiten mehr  verrichten. 

 

Nachdem ein versorgungsärztliches Gutachten des Nervenarztes Dr. W. vom 12.01.1987 ergeben hatte, dass beim Kläger ein psychogener (neurotischer) Schreibkrampf vorliege, der überwiegend persönlichkeitsbedingt sei und dementsprechend am 20.02.1987 ein Ablehnungsbescheid des Beklagten ergangen war, führte das erfolglose Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 06.04.1987) und das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg (S 15 V 127/87) aufgrund eines für den Kläger positiven Gutachtens des Nervenarztes Prof. Dr. G.  vom 23.09.1988 zum Urteil vom 08.12.1988, mit dem der Beklagte verurteilt wurde, ab 01.12.1985 einen "Schreibkrampf  in der rechten Hand" als gesundheitliche Schädigung infolge Gewahrsams nach dem HHG nach einer MdE um 10 v.H. im  Sinne der Entstehung anzuerkennen. Am 29.03.1989 erließ der Beklagte einen entsprechenden Ausführungsbescheid.

 

Am 13.07.1999 (im Alter von 65 Jahren) beantragte der Kläger "höhere Beschädigtenversorgung" wegen einer  Leidensverschlimmerung. Bei einer erneuten Untersuchung durch Dr. W. am 16.11.1999 gab der Kläger an, es sei eine  Beweglichkeitsstörung der rechten Hand durch den anerkannten Schreibkrampf eingetreten. Außerdem gehe seit ca. fünf  Jahren das Schreiben mit der linken Hand wegen Zitterns schlechter. Er habe auch weniger Kraft in beiden Händen beim  Halten von Gegenständen. Aufgrund eines chirurgischen Zusatzgutachtens durch Dr. B. wurde sowohl eine  Handgelenksarthrose als auch eine Funktionsbehinderung im Bereich beider Handgelenke ausgeschlossen. Nach  Auffassung von Dr. W. sei, nachdem der Kläger seit Haftentlassung 1985 nur noch mit der linken Hand geschrieben habe,  nun das Vollbild eines Schreibkrampfs eingetreten; hierfür sei eine maximale MdE von 20 v.H. gerechtfertigt.

 

Nach Beiziehung der Rentenakte der LVA Westfalen, erging am 01.03.2000 ein Bescheid, mit dem als Schädigungsfolge ab 13.07.1999 anerkannt wurde: "Schreibkrampf der rechten und linken Hand" im Sinne der Entstehung. Die MdE wurde wie bisher mit unter 25 v.H. eingeschätzt. Der Antrag auf Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit wurde abgelehnt. Aus den beigezogenen Akten der LVA Westfalen gehe hervor, dass der Kläger ab 01.08.1994 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit bezogen habe und ein Jahr vor der Rentengewährung arbeitslos gewesen sei. Damals habe als Schädigungsfolge nach dem HHG der Schreibkrampf der rechten Hand vorgelegen mit einer MdE unter 25 v.H. Aufgrund eines ärztlichen Berichts der LVA sei davon auszugehen, dass noch  weitere Funktionsbeschränkungen vorgelegen hätten. Der Beruf als Kellner hätte trotz der Schädigungsfolge weiter  ausgeübt werden können, da sich der Kläger mit dem Schreiben auf die linke Hand umgestellt gehabt habe. Die seit ca.  fünf Jahren zunehmenden Schwierigkeiten beim Schreiben mit der linken Hand seien sicher nicht die überwiegende  Ursache für die Arbeitslosigkeit gewesen.

 

Mit seinem Widerspruch trug der Kläger u.a. vor, er sei die letzten 15 Jahre vor seiner Inhaftierung als Oberkellner und  geschäftsführender Kellner vorwiegend mit organisatorischen Aufgaben beauftragt gewesen. Er habe bei der Reichsbahn  (M.) gearbeitet und sei bis zu seiner Inhaftierung gesund und beruflich leistungsfähig gewesen. Im Widerspruchsbescheid  vom 02.05.2000 wurde darauf hingewiesen, dass die Ausdehnung des Schreibkrampfs auf die linke Hand in den  Zeitraum nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gefallen sei und deshalb keine berufliche Beeinträchtigung mehr  hervorrufen konnte.

 

Am 18.01.2001 gingen die vom Beklagten angeforderten Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des  Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ein. Darin fand sich unter dem 21.06.1983 eine Eintragung, wonach der  Kläger während der Haft sehr unruhig gewesen sei, "beim Schreiben zittern die Hände".

 

Mit Schriftsatz vom 11.05.2000 hat sich der Kläger mit Klage an das Sozialgericht Nürnberg gewandt und eine höhere  Einstufung seiner MdE für den Haftschaden, den er im Alter von annähernd 50 Jahren erlitten habe, begehrt. Durch den  Schreibkrampf in seiner rechten Hand sei es ihm nach der Haftentlassung nicht möglich gewesen, eine gleichwertige  Tätigkeit wie vor seiner Inhaftierung aufzunehmen. Wegen dieser Behinderung sei er einige Jahre nicht vermittelbar  gewesen, bis er schließlich eine Stelle als Nachtportier in einem Hotel mit einem Gehalt auf der untersten Stufe  angenommen habe. Als er mit 60 Jahren in Rente gegangen sei, sei ihm diese nach dem letzten Verdienst berechnet  worden.

 

Das Sozialgericht hat am 07.12.2000 die Klage mit Urteil abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass eine höhere  MdE als 20 v.H. für die anerkannten Schreibkrämpfe sowohl der rechten wie auch der linken Hand nach den  "Anhaltspunkten" nicht möglich sei. Eine besondere berufliche Betroffenheit, die für die Jahre 1985 bis längstens 1994 zu  prüfen gewesen sei, könne bei einer Antragstellung erst am 15.07.1999 nicht festgestellt werden. Der Kläger habe den  Nachweis nicht erbracht, dass er durch die anerkannte Schädigungsfolge an der rechten Hand weder seinen ausgeübten  noch einen sozial gleichwertigen Beruf weiter ausüben konnte. Es seien vielmehr die Umstände nach der Übersiedlung in  den Westen und das Verhalten des Klägers dafür verantwortlich gewesen, dass er hier nicht habe richtig Tritt fassen  können.

 

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er hat insbesondere  vorgetragen, er sei erst in den 60-iger Jahren aufgrund seiner ersten Ehe in die DDR gezogen und sei daher bei seiner  Rückkehr 1985 kein "Westneuling" gewesen. Sein haftbedingter Nervenschock und das Zittern zuletzt beider Hände habe  sich sowohl negativ auf das Schreiben als auch auf das Tragen von Speisen und Getränken ausgewirkt.

 

Der Senat hat die Akten der LVA Westfalen beigezogen, aus denen sich zusammen mit den Angaben des Klägers bei  seinen Untersuchungen bei Dr. W. im Januar 1987 und bei Prof. Dr. G. im September 1988 ergibt, dass der Kläger bis  1948 in Berlin die Schule besucht, dann eine Berufsausbildung als Dreher begonnen und von 1952 bis 1956 im Bergbau,  zum Teil auch in den Niederlanden gearbeitet habe. Nach Beschäftigungsverhältnissen als Arbeiter in verschiedenen  Bereichen sei er 1960 seiner Frau in die DDR gefolgt. Er habe dort den Beruf des Kellners erlernt und sich bis zum  Restaurantleiter hochgearbeitet. Zuletzt sei er als Oberkellner im Speisewagenbetrieb der M. beschäftigt gewesen. 1962,  nach seiner ersten Scheidung, habe er den ersten Rückreiseantrag gestellt. Die Industrie- und Handelskammer Nürnberg  hat (nach den Akten der LVA) am 08.07.1987 den glaubhaft gemachten Bildungsabschluss des Klägers vor der  Akademie für Binnenhandel aus dem Jahre 1966 bzgl. "Kellner" als gleichwertig mit "Restaurantfachmann" erklärt.

 

Wegen einer eventuellen Teilrente für die Tätigkeit des Klägers als Bergmann in Holland wurde von Dr. W. am  31.01.1995 für die LVA ein Gutachten erstattet, das zu den Akten genommen worden ist.

 

Es sind ebenfalls Akten des Arbeitsamts Nürnberg/Fürth beigezogen worden, in denen sich u.a. Unterlagen über die  Beendigung eines Arbeitsverhältnisses des Klägers zum 16.07.1993 (Beginn 18.03.1992) und einen anschließenden  gerichtlichen Vergleich vor dem Arbeitsgericht Nürnberg befinden.

 

Der Senat hat anschließend Prof. Dr. G. mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers beauftragt zu der Frage, ob  und inwieweit sich die anerkannte Schädigungsfolge verschlimmert habe und ob aus medizinischer Sicht eine  schädigungsbedingte besondere berufliche Betroffenheit im Beruf des Oberkellners/geschäftsführender Kellner vorliege.  In seinem Gutachten vom 21.08.2001 hat der gerichtliche Sachverständige festgestellt, dass nunmehr beim Kläger ein  Haltezittern beider Hände im Sinne eines essentiellen oder senilen Tremors vorliege. Es handele sich nicht um ein  Ruhezittern und auch nicht um eine ataktische Störung. Gegenüber dem Bescheid vom 29.03.1989 sei eine wesentliche  Änderung dahingehend eingetreten, als der essentielle Tremor mit mittlerweile überlagernder Schreibstörung der linken  Hand zugenommen habe. Diese Zunahme sei nicht durch das schädigende Ereignis zu erklären. Das Fortwirken der über  ein Jahrzehnt zurückliegenden psychischen Belastungen als wesentliche Mitursache der Zunahme des Zitterns zwischen  1988 und 2001 erscheine wenig wahrscheinlich. Die Aktenunterlagen sprächen auch nicht für das Vorliegen einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung oder einer anhaltenden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung. Es werde jedoch rückblickend an der eigenen Beurteilung im Gutachten vom September 1988 insoweit festgehalten, als die Inhaftierung als wesentliche Ursache der den essentiellen Tremor überlagernden, psychisch mitbedingten Schreibstörung der rechten Hand angesehen worden sei. Dies gelte auch, wenn die damalige psychische Belastung den essentiellen Tremor erstmals habe hervortreten lassen. Somit bleibe es rein medizinisch schädigungsbedingt bei einer MdE um 10 v.H.

 

Da die Tätigkeit als Kellner und Oberkellner die Schreibfähigkeit der Gebrauchshand voraussetze, sei davon  auszugehen, dass der Kläger durch die Schreibstörung wesentlich mitbedingt nicht mehr in der Lage gewesen sei, die  berufliche Tätigkeit als Oberkellner / geschäftsführender Kellner wettbewerbsfähig auszuüben. Somit sei eine besondere  berufliche Betroffenheit anzunehmen und eine Gesamt-MdE von 20 v.H. in Betracht zu ziehen.

 

In einem Schriftsatz vom 05.09.2001 hat der Kläger die Auffassung vertreten, dass die psychische Belastung in der Haft  riesig gewesen sei und sich auch auf die Schreibstörung links auswirke. Der Beklagte hat in einer versorgungsärztlichen  Stellungnahme von Dr. K. vom 20.09.2001 mitgeteilt, dem gerichtlichen Sachverständigen folgen zu wollen, sofern eine  weitere Sachaufklärung nicht ergebe, dass der Kläger 1985 höher dosierte neuroleptische Medikamente erhalten habe,  die zu extrapyramidal-motorischen Spätfolgen führen könnten.

 

Der Senat hat diesbezüglich die beiden behandelnden Nervenärzte Dr. B. und Dr. S. befragt; diese teilten mit, eine  entsprechende medikamentöse Behandlung sei 1985/1986 nicht durchgeführt worden.

 

Mit Schriftsatz vom 25.10.2001 hat der Beklagte auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hingewiesen, wonach  Schädigungsfolgen mit einer MdE unter 25 v.H. grundsätzlich nicht geeignet seien, eine besondere berufliche  Betroffenheit zu verursachen.

 

Mit gerichtlichem Schreiben vom 24.07.2002 hat der Senat den Beklagten zur Stellungnahme aufgefordert, ob aufgrund  des Gutachtens von Prof. Dr. G. von der Anerkennung des Schreibkrampfs links als Schädigungsfolge Abstand  genommen werde. Außerdem ist Gelegenheit gegeben worden, über den vom Kläger am 17.12.1985 gestellten Antrag auf Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit wegen eines Schreibkrampfs der rechten Hand bescheidmäßig zu entscheiden. Die beigezogenen Akten des Arbeitsamts Nürnberg/Fürth sind zur Auswertung übersandt worden.

 

Der Beklagte hat daraufhin eine nervenärztliche Stellungnahme von Dr. K. vom 27.08.2002 eingeholt, nach dessen  Auffassung die Anerkennung des Schreibkrampfs der linken Hand als Schädigungsfolge objektiv unrichtig sei. Dennoch  liege aus versorgungsärztlicher Sicht ein besonderes berufliches Betroffensein ab Neufeststellungsantrag vor, da die  schädigungsunabhängige Bewegungseinschränkung der linken Hand im Hinblick auf die schädigungsbedingte Funktionsbeeinträchtigung der rechten Hand zu einer besonderen beruflichen Betroffenheit als Oberkellner geführt habe.  Der Beklagte hat jedoch unter Bezugnahme auf die Akten des Arbeitsamts mit Bescheid vom 15.10.2002 den Antrag des  Klägers vom 17.12.1985 auf Höherbewertung der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit abgelehnt. Es sei  nicht nachgewiesen, dass der Kläger nach der Haft wegen seines Schreibkrampfs in der rechten Hand den vor der Haft in  der DDR ausgeübten Beruf des Oberkellners schädigungsbedingt nicht mehr ausüben konnte. Das Arbeitsamt Nürnberg  habe 1985 für den Kläger nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland wegen der ungünstigen  Arbeitsmarktlage keinen geeigneten Arbeitsplatz finden können. Aus einem arbeitsamtsärztlichen Gutachten vom  25.01.1988 gehe hervor, dass der Kläger damals dem Kellnerberuf schädigungsunabhängig nicht mehr gewachsen  gewesen sei. Mit Schriftsatz vom 24.10.2002 hat der Beklagte unter Bezugnahme auf eine Aktenverfügung des  Versorgungsamts Nürnberg vom 14.10.2002 mitgeteilt, es werde weiterhin am Antrag, die Berufung zurückzuweisen,  festgehalten. Denn eine Rücknahme des Anerkenntnisses "Schreibkrampf links" nach § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes  Buch (SGB X) sei wegen Ablaufs der Zweijahresfrist seit Bescheiderlass nicht möglich. Eine Entscheidung nach § 48  Abs.3 SGB X scheide ebenfalls aus, da keine Leistungen erbracht würden.

 

Der Kläger beantragt sinngemäß,

 

     den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.12.2000 und des       Bescheids vom 01.03.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 02.05.2000 sowie unter       Aufhebung des Bescheids vom 15.10.2002 zu verurteilen, ihm ab Juli 1999 Beschädigtenrente nach einer       MdE von mindestens 25 v.H. zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

 

     die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.12.2000 zurückzuweisen und       die Klage gegen den Bescheid vom 15.10.2002 abzuweisen.

 

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten nach dem HHG und dem Schwerbehindertengesetz, die erledigte Klageakte des Sozialgerichts Nürnberg (S 15 V 127/87), die Akten der LVA Westfalen und des Arbeitsamts Nürnberg/Fürth sowie auf die Akte des vorhergehenden Klageverfahrens (S 2 VH 3/00) und den Inhalt der Berufungsakte Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

 

 

Die Berufung des Klägers ist nach § 10 Abs.3 HHG i.V.m. § 143 SGG statthaft. Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht  eingelegt (§ 151 SGG) und somit zulässig; es erweist sich jedoch als unbegründet.

 

Das Sozialgericht Nürnberg und der Beklagte haben zu Recht eine Erhöhung der MdE auf mindestens 25 v.H. wegen  Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen sowie wegen Anerkennung einer schädigungsbedingten besonderen beruflichen Betroffenheit abgelehnt.

 

I.

 

Nach § 4 Abs.1 HHG erhält u.a. ein Berechtigter, der nach dem 08.05. 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone aus  politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihm nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen wurde und eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.

 

Nach § 48 Abs.1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder  rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

 

Der Beklagte ging aufgrund des versorgungsärztlichen Gutachtens des Nervenarztes Dr. W. vom 16.11.1999 davon aus,  dass der Bescheid vom 29.03.1989, mit dem das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 08.12.1988 (S 15 V 127/87)  ausgeführt und ein Schreibkrampf in der rechten Hand als Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung (mit einer MdE von  10 v.H.) anerkannt worden war, insoweit wegen wesentlicher Leidensverschlimmerung zu ändern sei, als ab Antrag  (13.07.1999) ein schädigungsbedingter Schreibkrampf auch in der linken Hand anzuerkennen, die MdE nach § 30 Abs.1  BVG jedoch weiterhin unter 25 v.H. einzuschätzen sei (Dr. W.: MdE 20 v.H.).

 

Die Rechtsauffassung des Beklagten ist zutreffend, wonach der Anerkennungsbescheid vom 01.03.2000 nach § 45  Abs.3 Satz 1 SGB X wegen Ablaufs der Zweijahresfrist nicht mehr zurückgenommen werden konnte, auch wenn der Beklagte aufgrund des Gutachtens von Prof. Dr. G. vom 21.08.2001 inzwischen die ursprüngliche Rechtswidrigkeit dieses Bescheides annimmt.

 

Ausgehend von dem somit bestandskräftig anerkannten Schreibkrampf der rechten und linken Hand hat der Senat nach  Maßgabe der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem  Schwerbehindertengesetz "AP), Ausgaben 1983 und 1996, geprüft, ob die vom Beklagten auf unter 25 v.H. eingeschätzte  MdE für die Schädigungsfolgen zutreffend ist. Dabei ist festzustellen, dass die Funktionsstörung "Schreibkrampf" in den  AP nicht ausdrücklich enthalten ist. Es müssen daher Vergleiche zu ähnlichen, in den AP genannten  Funktionsbeeinträchtigungen gezogen werden. Dr. W. hat bei seiner Begutachtung des Klägers im November 1998 auf  einen Aufsatz von Deuschel und Högenauer (in "Medizinischer Sachverständiger" 1999 S.101) hingewiesen, wonach ein  GdB von maximal 20 für das Vollbild des Schreibkrampfs als angemessen angesehen werden könne. Dieselben Autoren  haben sich in dem Werk "Neurologische Begutachtung" von Suchenwirth und anderen (3. Auflage S.422) für eine MdE um  30 v.H. für das Vollbild dieser Störung ausgesprochen und offensichtlich dabei jeweils den klassischen Schreibkrampf,  bezogen auf eine Hand, gemeint. Im letztgenannten Werk setzten die Verfasser den Schreibkrampf mit einer Lähmung  des Nervus radialis (MdE 30 v.H.) gleich, die laut Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage) zu einer Fallhand  durch Lähmung der Extensoren am Unterarm führt. In der erstgenannten Veröffentlichung wird der Schreibkrampf mit einer  Teillähmung des distalen Nervus radialis und einem GdB von 10 bis 20 verglichen. Demgegenüber hat Prof. Dr. G. in  seinem Gutachten vom 23.09.1988 für das Sozialgericht Nürnberg für die Schreibstörung an der rechten Hand als Folge  des psychischen Traumas der Inhaftierung 1983 eine MdE von 10 v.H. als angemessen angesehen. Dr. W. hat in seinem  Gutachten vom 16.11.1999 die bisherige MdE von 10 v.H. für den beidseitigen Schreibkrampf auf 20 v.H. erhöht, d.h.  verdoppelt.

 

Nach Auffassung des Senats ist die Einschätzung der medizinischen Gesamt-MdE unter 25 v.H. nicht zu beanstanden.  Einerseits liegt beim Kläger kein kompletter Schreibkrampf in der Weise vor, dass er überhaupt nicht mehr leserlich  schreiben könnte. Auch der vom Kläger zuletzt handschriftlich angefertigte Schriftsatz vom 20.10.2002 an das  Versorgungsamt Nürnberg ist wie die vorhergehenden Schreiben gut leserlich, wenn auch nicht verkannt werden soll,  dass der Kläger wegen eines Tremors der Hände nur mühsam schreiben kann. Im Übrigen hat der Kläger seinen  Erstantrag vom 10.12.1985 bereits mit etwas zittriger Schrift mit der linken Hand geschrieben, und betont, er könne seit  dem 18.04.1983 mit der rechten Hand keine schriftlichen Arbeiten mehr verrichten.

 

Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass der Kläger bei seiner versorgungsmedizinischen Untersuchung am 16.11.1999 angab, dass er als Kind zu Hause und in der Schule aufgefordert werden musste, mit der rechten statt der linken Hand zu schreiben und dass er sonst vor allem linkshändig arbeite. Es ist daher - wie der Kläger  im September 1988 bei Prof. Dr. G. erwähnt - von einer rechts- und linkshändigen Gewandtheit des Klägers auszugehen.  Nach Auffassung von Prof. Dr. G. , dem der Senat zustimmt, handelt es sich bei dem beim Kläger anerkannten Schreibkrampf in der rechten Hand nicht um eine eher neurologisch begründbare Dystonie im Sinne der obengenannten  Autoren Deuschel und Högenauer, sondern um eine durch die psychische Belastung am 18.04.1983 wesentlich mitbedingte Schreibstörung.

 

Das schädigungsunabhängige Haltezittern, das gleichzeitig mit der psychisch bedingten Schreibstörung in der rechten  Hand im April 1983 in Erscheinung getreten ist, kann nicht in die MdE-Bewertung des für beide Hände anerkannten  psychogenen Schreibkrampfs einbezogen werden, weil er weder i.S. der Entstehung noch i.S. der Verschlimmerung in  ursächlichem Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis steht. Da der Kläger seit 1983 bis heute nicht mehr mit  der rechten, sondern nur noch mit der linken Hand schreibt und er - wenn auch mit zunehmend größerer Anstrengung -  leserliche Schreiben anfertigt, erscheint im Übrigen eine MdE von 20 v.H. für den anerkannten Schreibkrampf in beiden  Händen auch im Hinblick auf die allgemeinen Vorgaben der AP zutreffend und ausreichend. Dies gilt insbesondere unter  Berücksichtigung der Tatsache, das der Kläger nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland von den  Nervenärzten Dr. B. und Dr. S. keine höher dosierten Neuroleptika erhalten hat, die das extrapyramidale-motorische  System geschädigt haben könnten.

 

II.

 

Die medizinisch bedingte MdE nach § 30 Abs.1 BVG ist nach § 30 Abs.2 BVG zu erhöhen, wenn der Beschädigte durch  die Art seiner Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf besonders betroffen  ist. Das ist besonders der Fall, wenn er infolge der Schädigung weder den genannten noch einen sozial gleichwertigen  Beruf ausüben kann.

 

a) Die Entscheidung des Beklagten, der mit Bescheid vom 15.10.2002 den vom Kläger bereits am 17.12.1985 gestellten  Antrag auf Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit infolge seines Schreibkrampfs in der rechten Hand  abgelehnt hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Dieser Bescheid wurde analog § 96 SGG Gegenstand des  Berufungsverfahrens (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage, Rdnr.7 zu § 96). Über diesen Bescheid entscheidet der  Senat in erster Gerichtsinstanz auf Klage des Klägers.

 

Die Klage gegen den obengenannten Bescheid ist als unbegründet abzuweisen, weil der Beklagte zu Recht unter  Bezugnahme auf die Feststellungen des Arbeitsamts Nürnberg davon ausgegangen ist, dass der Kläger nach seiner  Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im August 1985 nicht annähernd gleichwertig schädigungsbedingt keine  Beschäftigung als Oberkellner oder Restaurantleiter gefunden hat. Zwar wurde mit Bescheid der Industrie- und  Handelskammer Nürnberg vom 08.07.1987 der vom Kläger im Jahre 1966 erworbene berufliche Bildungsabschluss als  Kellner als gleichwertig mit "Restaurantfachmann" anerkannt. Aus dem Widerspruchsbescheid des Arbeitsamts Nürnberg  vom Dezember 1985 zur Höhe des Arbeitslosengeldes (Bl.37 ff. AA-A Band I) und einer Aktennotiz vom 12.11.1985  (Bl.31 Rs. AA-A I) wurde der Kläger als Restaurantleiter jedoch als nicht genügend qualifiziert angesehen mangels  Berechtigung zur Ausbildung für Service-Personal. Auch seien die Kenntnisse des Klägers als Oberkellner bei M. nicht  verwertbar. Der Kläger sei auch als Oberkellner nicht zu vermitteln gewesen. Eine Einstufung als Chef de Rang erscheine  angemessen. Das Arbeitsamt hat damals offensichtlich vergeblich versucht, dem Kläger als Oberkellner eine Stelle zu  vermitteln und dabei Bewerbungen an 22 Hotels in Nordbayern gesandt. Die Bemühungen seien ergebnislos verlaufen,  weil entweder kein Bedarf an Oberkellnern oder Restaurantleitern gemeldet oder die Bewerbung wegen mangelnder  Eignung abgelehnt worden sei. Anschließend war der Kläger bis September 1986 arbeitsunfähig erkrankt. Eine Tätigkeit  im September/Oktober 1987 als Buffetier war aus schädigungsunabhängigen gesundheitlichen Gründen zu schwer. Eine arbeitsmedizinische Untersuchung durch Dr. G. vom 25.01.1988 ergab einen niedrigen Blutdruck mit Kreislauflabilität sowie eine vegetative Labilität begleitet von Depressionen. Nach Auffassung des Arbeitsmediziners sei der Kläger als  Kellner nicht mehr belastbar gewesen. Arbeiten unter Zeitdruck sollten vermieden werden.

 

Für die vom Kläger verschiedentlich erwähnten haftbedingten psychischen Störungen in Form von Ängsten und Depressionen konnte kein Nachweis erbracht werden (vgl. Gutachten von Dr. G. vom 21.08.2001). Der Kläger befand sich insbesondere deshalb nicht in längerer nervenärztlicher Behandlung. Die im obengenannten Gutachten festgestellte Minderbelastbarkeit des Klägers bei seiner Berufsausübung im gastronomischen Bereich kann daher nicht als wesentlich  schädigungsbedingt angesehen werden.

 

Der Kläger war vor seiner Berentung durch die LVA Westfalen ab 01.08.1994 von März 1992 bis April 1993 im Hotel T. in  N. als Rezeptionist tätig. Nach den Ermittlungen des Senats - insbesondere den beigezogenen Unterlagen des Hotels am  T. - endete das Arbeitsverhältnis des Klägers durch außerordentliche Kündigung des Arbeitgebers zum 16.07.1993. Zur  Begründung wurde von Hoteldirektor Z. im Kündigungsschreiben vom 15.07.1993 angeführt, dass der Kläger seine Arbeit  nicht wie vereinbart am 06.07. wieder aufgenommen habe, sondern am 09.07.1993 mitgeteilt habe, das Arbeitsverhältnis  nicht fortsetzen zu wollen und auch am 13.07. nicht zur Arbeit erschienen sei. Aus den beigezogenen Unterlagen ergibt  sich, dass keinesfalls Probleme infolge der anerkannten Schädigungsfolge zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses  geführt haben.

 

Schließlich ergibt sich auch aus dem am 31.01.1995 für die LVA Westfalen erstellten Untersuchungsgutachten von Dr. W.  anläßlich einer beantragten Teilrente bezüglich der Arbeit des Klägers von 1953 bis 1955 keine besondere  Beeinträchtigung des Klägers auf dem Arbeitsmarkt infolge des Schreibkrampfs im Bereich der rechten oder linken  Hand. Aufgrund des mäßigen Verschleißes der Wirbelsäule und des rechten Kniegelenks sowie einer Periarthritis im  Bereich der rechten Schulter etc. wurde der Kläger noch als fähig angesehen, leichte Arbeiten auf dem allgemeinen  Arbeitsmarkt vollschichtig zu verrichten. Nach dem Schwerbehindertengesetz wurde beim Kläger mit Bescheid vom  23.11.1994 nur ein Grad der Behinderung von 20 wegen einer "Funktionsbehinderung von Wirbelsäule und Gelenken"  festgestellt. Es kann somit nicht als nachgewiesen angesehen werden, dass der Kläger annähernd gleichwertig bedingt  durch den Schreibkrampf in der rechten Hand in der Bundesrepublik Deutschland seinen früheren Beruf als Oberkellner  oder einen sozial gleichwertigen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Für die beruflichen Probleme des Klägers waren  überwiegend die ab 1985 im Raum Nürnberg im Bereich der Gastronomie bestehenden Engpässe des Arbeitsmarkts,  das Alter des Klägers und schädigungsunabhängige Leistungseinschränkungen ursächlich. Die von Prof. Dr. G. und Dr.  K. vertretene Auffassung, dass der Kläger aufgrund seiner Schreibstörung als Kellner aus medizinischer Sicht beruflich  besonders betroffen wäre, ist nach Auffassung des Senats in Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger aus anderen  Gründen nicht in diesen Beruf vermittelbar war, nicht relevant.

 

b) Aus diesen Gründen ist auch die im angefochtenen Urteil bestätigte negative Entscheidung des Beklagten (Bescheid  vom 01.03.2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 02.05.2000) über den Antrag des Klägers vom Juli 1999 auf  Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit infolge des Schreibkrampfs an der linken Hand nicht zu  beanstanden. § 30 Abs.2 BVG ist diesbezüglich im Übrigen auch schon deshalb nicht erfüllt, weil der Antrag nach  Beendigung der beruflichen Tätigkeit des Klägers gestellt worden ist und die Schädigungsfolgen die Beendigung der  Tätigkeit nicht erzwungen haben (vgl. BSG-Urteil vom 12.12.1995 - SozR 3 - 3100 § 30 Nr.15). Dies gilt umso mehr im  Hinblick auf die BSG-Grundsatzentscheidung vom 18.10.1995 (SozR 3-3100 § 30 Nr.14), wonach § 30 Abs.2 BVG als  Härtefallregelung eng auszulegen sei und nur unter ganz besonderen Umständen bei einer MdE von weniger als 25 v.H.  eine besondere berufliche Betroffenheit bejaht werden dürfe, so dass dadurch eine rentenberechtigende MdE erreicht  werde. Der Senat ist unter Berücksichtigung der gesamten Umstände im Fall des Klägers der Auffassung, dass ein  solcher besonderer Härtefall bei ihm nicht vorliegt.

 

Aus diesen Gründen war die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.12.2000  zurückzuweisen sowie die Klage gegen den Bescheid vom 15.10.2002 als unbegründet abzuweisen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.