Landessozialgericht Berlin ; Beschluss vom 12. April 2000 ; Az.: L 11 B 5/00 SB |
Leitsätze:
Nach Punkten 5 und 6 der "Anhaltspunkte" ist im Verwaltungsverfahren immer dann eine Untersuchung der Antragsteller durchzuführen, durch die eingeholten Befundberichte nicht in überzeugender Weise ein Bild von der Art und dem Ausmaß aller geltend gemachten Behinderungen vermitteln. Verstößt die Verwaltung gegen diesen Grundsatz, hat sie Anlaß zur Klageerhebung gegeben und muss dann auch dann die außergerichtlichen Kosten der Klägerseite erstatten, wenn die Klage in der Hauptsache erfolglos war.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist in der Sache nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss entschieden, dass der Beklagte gemäß § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Verfahren vor dem Sozialgericht zu erstatten hat. Denn es entsprach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bis dahin vorliegenden Sach- und Streitstandes sowie der Umstände des Einzelfalles, dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang aufzuerlegen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Sozialgericht u. a. Folgendes ausgeführt: Bei der zu treffenden Kostenentscheidung hat das Gericht nach sachgemäßen Ermessen zu entscheiden und dabei insbesondere auch die Erfolgsaussichten der Klage zu berücksichtigen (BSG SozR § 193 SGG Nr. 3). Zu prüfen sind darüber hinaus die Gründe für die Klageerhebung, also die Frage, ob der Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat. Ungeachtet dessen, ob das Klagebegehren der Klägerin bereits zum Zeitpunkt der Klageerhebung gerechtfertigt war, die Klage also in vollem Umfang erfolgreich gewesen wäre, war der Beklagte zur Tragung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang zu verpflichten, denn der Beklagte hat Anlass zur Klage gegeben. Obwohl die Klägerin in ihrem Antrag vom 15. November 1996 angegeben hatte, Atemnot bestehe selbst bei geringer Belastung, Treppensteigen oder normales Gehen bereiteten Schwierigkeiten und der Hausarzt H in seinem Befundbericht vom 16. Dezember 1996 von einer Ruhedyspnoe und erhebliche Belastungsdyspnoe mit passagerer Lippenzyanose berichtet, die sich bei Anstrengung verstärkt, veranlasste der Beklagte auch auf den Widerspruch der Klägerin vom 20. März 1997 hin nicht eine lungenfachärztliche oder internistische Begutachtung, obwohl zudem der Lungenfacharzt in seinem Befundbericht vom 2. April 1997 von einer respiratorischen Insuffizienz berichtete. Bereits ein Jahr zuvor im März 1996 musste eine Ergometrie bei 75 W wegen Dyspnoe abgebrochen werden. Die vor Erlass des Widerspruchsbescheides am 16. Juni 1997 in der gutachtlichen Stellungnahme vom 30. April 1997 vertretene Auffassung, es liege keine Einschränkung der Lungenfunktion vor, sondern lediglich eine leichtgradige Sättigung der Sauerstoffsättigung unter Belastung, wird, wie sich anhand der weiter bekannt gewordenen Befunde herausstellt, den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht, wenn auch die Einschätzung, die mitgeteilte Luftnot bei geringer körperlicher Belastung dürfte u. a. eine Erklärung finden in dem ausgeprägten Übergewicht der Klägerin, sicherlich zutrifft. Doch wäre es geboten gewesen, insoweit nicht mit Vermutungen zu arbeiten, sondern eine hinreichende Grundlage für die Beurteilung der Sachlage durch eine fachärztliche Untersuchung zu schaffen, gerade auch um den Widerspruch zwischen den Angaben der Klägerin und ihres Hausarztes einerseits und den mitgeteilten Befunden zu klären. Nach Punkt 5 der Anhaltspunkte kann auf eine Untersuchung verzichtet werden, wenn die erforderliche Beurteilung durch Stellungnahme auf Grund der beigezogenen ärztlichen Unterlagen erfolgen kann. Voraussetzung hierfür ist, dass die Unterlagen in überzeugender Weise ein ausreichendes Bild von der Art und dem Ausmaß aller geltend gemachten Behinderungen vermitteln. Je mehr Unterlagen vorliegen, die sich gegenseitig ergänzen oder bestätigen, desto eher wird eine Beurteilung ohne Untersuchung möglich sein. Diese Voraussetzungen lagen eben gerade nicht vor, nach den Unterlagen ergab sich kein eindeutiges, sich bestätigendes Bild. Dies wird auch dadurch deutlich, dass die weitere Vornahme der Beurteilung des medizinischen Sachverhalts für die Vergangenheit eben wegen der Komplexität des Krankheitsbildes nur als chaotisch bezeichnet werden kann. Die von G, Dr. B und Dr. D im Laufe des Klageverfahrens für den Beklagten abgegebenen Stellungnahmen dokumentieren die Schwierigkeiten und zeigen die Nachteile, die sich aus dem Unterbleiben der an sich gebotenen Untersuchung ergeben, auf. Es ist der Verdienst des Facharztes G, auf eine Untersuchung gedrängt zu haben, und dasjenige des Herrn Dr. D, den Sachverhalt abschließend von Grund auf aufgearbeitet und bewertet zu haben. Der Senat weist die Beschwerde aus den vorgenannten Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Gründe ab gemäß § 153 Abs. 2 SGG, der auf das Beschwerdeverfahren analoge Anwendung findet (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage 1998, § 153 RdNr. 5). Auch das Vorbringen des Beklagten im Beschwerdeverfahren vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Der Beklagte hat im Wesentlichen vorgetragen, die Verschlimmerung des Lungenleidens der Klägerin sei erst im Laufe des Klageverfahrens eingetreten und durch den Befund vom 12. Dezember 1997 - Farbdoppler-Echokardiographie - erstmalig nachgewiesen worden. Dieser Befund habe die Ursache für die im Antrag geschilderten Krankheitserscheinungen offengelegt. Eine Ursachenermittlung von Krankheitserscheinungen sei jedoch nicht der gesetzliche Auftrag des Beklagten nach dem Schwerbehindertengesetz. Diesem Argument ist insoweit zuzustimmen, als dass weder die Erforschung von Ursachen für Krankheiten noch die genaue Beschreibung von Krankheiten selbst Gegenstand eines Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens im Schwerbehindertenrecht darstellen. Entscheidend sind vielmehr die festzustellenden Funktionsbeeinträchtigungen, und zwar unabhängig davon, auf welchen Ursachen sie beruhen und in welcher Weise und mit welcher Präzision die ihnen zugrundeliegenden Krankheiten beschrieben werden können. Vor diesem Hintergrund ist daher gerade nicht von Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt und durch welche Mittel der Beklagte Kenntnis von den Ursachen der bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigung erlangt hat. Entscheidend ist vielmehr, zu welchem Zeitpunkt und in welchem konkreten Ausmaß die Funktionsbeeinträchtigungen bestanden haben. Vorliegend kann in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, dass der behandelnde Lungenarzt der Klägerin Dr. B bereits in seinem Befundbericht vom 10. Dezember 1997 die bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen beschrieben und gleichzeitig festgestellt hat, dass durchgehend seit 1996 gleichbleibende Befunde bestanden haben. Er hat zugleich bereits damals darauf hingewiesen, dass eine echokardiographische Untersuchung noch ausstehe, die dann später durchgeführt wurde und die die vom behandelnden Arzt bereits festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auch hinsichtlich ihrer Begründbarkeit objektivierte. Dies lässt aber bei der hier notwendigerweise gebotenen summarischen Prüfung den Schluss darauf zu, dass die Funktionsbeeinträchtigungen bei der Klägerin nicht etwa erst im Zeitpunkt ihrer ursachenbezogenen Objektivierung - also im Dezember 1997 - eintraten, sondern wahrscheinlich bereits seit 1996 unverändert bestanden hatten. Im Übrigen ist der Einschätzung des Sozialgerichts ausdrücklich beizupflichten, dass der Beklagte den hier entstandenen Schwierigkeiten hinsichtlich der konkreten Beschreibung der Funktionsbeeinträchtigungen und ihrer Ursachen höchstwahrscheinlich hätte begegnen können, wenn er rechtzeitig eine fachärztliche Begutachtung der Klägerin veranlasst hätte. Durch die Durchführung einer solchen Begutachtung hätte der Beklagte es zugleich auch in der Hand gehabt, einen Anlass für die Erhebung der Klage gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Kostenentscheidung beruft auf § 193 SGG analog. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.