Landessozialgericht Berlin, Az.: L 16 B 121/99 RJ Beschluss vom 8.5.2000 |
1. Zur Kostenverteilung bei einem Anerkenntnis
2. Die Kostentragungspflicht der Beklagten ist vorliegend unter dem Gesichtspunkt der Veranlassung zur Klageerhebung gerechtfertigt, weil der Beklagte einer von der Klägerin angegebenen Gesundheitsstörung im Verwaltungsverfahren nicht weiter nachgegangen ist.
Gründe
I.
Der Kläger, der ab 1974 bei den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR) zuletzt als Kraftfahrer und Müllwerker versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und ab Oktober 1995 arbeitsunfähig erkrankt war, hatte bei der Beklagten im Oktober 1995 die Gewährung medizinischer Leistungen zur Rehabilitation beantragt und angegeben, die “nervliche Belastung” sei das gesundheitliche Problem, das ihn im Augenblick besonders belaste (Bl. 3 der Rehabilitationsakte der Beklagten).
Nachdem die Ärztin der Rheumaklinik Bad R., in der der Kläger vom 31. Juli bis 28. August 1996 wegen orthopädischer Leiden stationär untergebracht worden war, im Kurentlassungsbericht ein vollschichtiges Restleistungsvermögen zumindest für körperlich leichte Tätigkeiten festgestellt hatte, lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ab (Bescheid vom 14. Januar 1997, Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 1997).
Im Klageverfahren legte der Kläger ein Attest vor, in dem eine depressive Reaktion mit Angstzuständen bescheinigt wurde und wies darauf hin, dass in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten nicht alle seine Beeinträchtigungen berücksichtigt worden seien.
Das Sozialgericht (SG) Berlin setzte .Dr. W. als Sachverständigen ein; auf das Gutachten dieses Arztes vom 16. Mai 1998 wird Bezug genommen.
Nach Durchführung einer weiteren Kur in der Zeit vom 9. Februar bis zum 23. März 1999 in der Brandenburg-Klinik Bernau und Zugang des Kurentlassungsberichts erkannte die Beklagte den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit ab 24. März 1999 (Leistungsfall: Kurbeginn) an. Daraufhin erklärte der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und stellte Kostenantrag.
Die Beklagte sah “zur Kostenübernahme keinen Grund”.
Mit Beschluss vom 5. November 1999 hat das SG entschieden, dass die Beklagte dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu erstatten habe. Zur Begründung ist ausgeführt: Das Kostenrisiko trage in den Fällen, in denen der Versicherungsfall erst nach Klageerhebung eingetreten sei, grundsätzlich der Versicherungsträger. Die Beklagte habe jedoch grundsätzlich die Möglichkeit, die nach der Sach- und Rechtslage auf sie entfallende Kostenlast durch sofortiges Anerkenntnis abzuwenden. Wegen der Besonderheiten des Verhältnisses zwischen den Beteiligten des sozialgerichtlichen Verfahrens könne jedoch das Anerkenntnis einer vom gerichtlichen Sachverständigen festgestellten, während des gerichtlichen Verfahrens eingetretenen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit des Versicherten in der Regel nicht als “sofortiges” Anerkenntnis gelten, welches den Sozialversicherungsträger von der ihm nach dem Sachergebnis zufallenden Kostenlast freistelle. Es könne diese aber mindern (unter Bezug auf eine Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts in “Die Sozialgerichtsbarkeit” 1997, 168). Die Beklagte habe vorliegend auf den ihr zur Stellungnahme übersandten Rehabilitationsentlassungsbericht vom 4. Mai 1999 hin den Anspruch des Klägers “sofort” anerkannt. Dieses Anerkenntnis stelle die Beklagte zwar nicht gänzlich von der Kostenlast frei. Es entspreche aber billigem Ermessen, dass die Beklagte nur die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten habe.
Dagegen richtet sich die Beschwerde der Beklagten, der das SG nicht abgeholfen hat. Sie trägt zur Begründung vor: Das SG habe ein Gutachten von Dr. W. eingeholt, wonach bei dem Kläger ein vollschichtiges Leistungsvermögen bestanden habe. Erst der Heilverfahrensentlassungsbericht vom 4. Mai 1999 habe eine andere Leistungsbeurteilung enthalten, der dann ein unverzügliches Anerkenntnis gefolgt sei. Sie habe nach alledem keine Veranlassung zur Klageerhebung gegeben, so dass ihr keine Kosten aufzuerlegen seien (unter Bezugnahme auf den Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21. März 1996 - L 18 SJ 7/95). Auch nach dem Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Oktober 1996 - L 5 B 198/95 Ar - sei ihre Kostentragungspflicht nicht gegeben, da hier der seltene Fall gegeben sei, dass aufgrund des Gutachtens von Dr. W. feststehe, dass der Leistungsfall erst weit nach Klageerhebung eingetreten sein könne. Bei diesem Sachverhalt reduziere sich das vom Gericht auszuübende Ermessen auf Null.
Die Beklagte beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. November 1999 aufzuheben und zu beschließen, dass außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten sind.
Der Kläger beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen. II.
Die Beschwerde der Beklagten ist nicht begründet. Der angefochtene Beschluss des SG ist in dem von der Beklagten in zulässiger Weise anfechtbaren Teil im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Da der Rechtsstreit aufgrund der einseitigen als Klagerücknahme im Sinne des § 102 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu wertenden Erledigungserklärung des Klägers in der Hauptsache erledigt ist (vgl. § 102 Satz 2 SGG), war auf den Antrag des Klägers nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden (vgl. insoweit auch § 102 Satz 3 SGG). Hat sich ein Rechtsstreit - wie hier - anders als durch Urteil erledigt, entscheidet das Gericht über die Kostenerstattung grundsätzlich nach sachgemäßem Ermessen, bei dessen Ausübung vor allem der nach dem bisherigen Sach- und Streitstand zu beurteilende vermutliche Verfahrensausgang den Ausschlag zu geben hat (vgl. BSG SozR 3-1500 § 193 Nr. 2). Zu berücksichtigen ist weiterhin auch, ob Anlass für die Klageerhebung bestand (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl. § 193 RdNr. 12 b ff.).
In Anwendung dieser Grundsätze hat das SG zu Recht eine - hier allein streitige hälftige - Kostentragungspflicht der Beklagten bejaht. Stellt man nämlich auf die Erfolgsaussichten der Klage ab, dann kann jedenfalls im Rahmen der zu treffenden Kostenentscheidung nicht unberücksichtigt bleiben, dass bereits Dr. W. ein vollschichtiges Restleistungsvermögen des Klägers erst für die Zukunft, d.h. nach Durchführung einer stationären Psychotherapie, angenommen und ausdrücklich das Vorliegen der von ihr festgestellten Leistungseinschränkungen bereits für das Jahr 1995 festgestellt hatte.
Hinzu kommt, dass ungeachtet des Anerkenntnisses der Beklagten hinsichtlich des mit der Klage verfolgten Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Annahme eines Leistungsfalls am 9. Februar 1999 im Rahmen der zu treffenden Kostenentscheidung auch die Erfolgsaussichten des hilfsweise erhobenen Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Die vom SG angestellten berufskundlichen Ermittlungen hatten ergeben, dass der Kläger - ohne Bewährungsaufstieg - aufgrund der von ihm zuletzt bei der BSR verrichteten Tätigkeit als Kraftfahrer/Müllwerker der Lohngruppe 5/Fallgruppe 5 des einschlägigen BMT-G II zuzuordnen gewesen wäre; tatsächlich war er in die Lohngruppe 6/Fallgruppe 3 eingruppiert (vgl. die Auskunft der BSR vom 21. April 1998). Diese Einstufung entsprach nach der Arbeitgeberauskunft auch der Qualität der verrichteten Tätigkeit als der eines gelernten Arbeiters. Im Rahmen des Mehrstufenschemas dürfte der Kläger daher zumindest der Gruppe der “Angelernten” im oberen Bereich (= sonstige Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von zwei Jahren), wenn nicht sogar der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen gewesen sein mit der Folge, dass eine Verweisungstätigkeit konkret hätte bezeichnet werden müssen. Aufgrund der Feststellungen von .Dr.W. war aber die Anpassung- und Umstellungsfähigkeit des Klägers deutlich gemindert, und zwar bereits seit 1995. Ob eine Verweisung, bei der der Kläger eine herausgehobene Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts innerhalb von drei Monaten vollwertig hätte verrichten müssen, bei dieser medizinischen Sachlage möglich gewesen wäre, ist jedenfalls offen.
Die Kostentragungspflicht der Beklagten ist auch unter dem Gesichtspunkt der Veranlassung zur Klageerhebung gerechtfertigt. Soweit die Beklagte sich auf die von ihr angezogenen Entscheidungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen und des Bayerischen Landessozialgerichts beruft, verkennt sie, dass sie hier schon deshalb Veranlassung zur Klage gegeben hat, weil sie entgegen dem auch für sie geltenden Amtsermittlungsprinzip das vom Kläger bereits bei der Antragstellung im Oktober 1995 seiner Auffassung nach im Vordergrund stehende seelische Leiden im Rahmen der von ihr getroffenen Entscheidungen völlig unberücksichtigt gelassen hat. Sie hat vielmehr ausschließlich die aus den orthopädischen Leiden resultierenden Leistungsstörungen ihrer rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt; darauf hat der Kläger zu Recht in der Begründung seiner Klage hingewiesen.
Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).