LSG NRW – Urteil vom 10.07.2003 – Az.: L 7 SB 136/00 |
1. Ein Widerspruchsbescheid ist aus prozeßökonomischen Gründen dann nicht mehr erforderlich, wenn sich aus der Klageerwiderung ergibt, dass die Sache erneut überprüft wurde und der Widerspruchsbescheid voraussichtlich nichts anderes enthalten würde als die Klageerwiderung .
2. Es ist einem Behinderten zuzumuten auf stark blähende und fetter Speisen zu verzichten - gegf. auch Medikamente einzunehmen – um Blähungen und damit verbundene Geruchsbelästigungen für Mitmenschen zu unterdrücken. Kann der Behinderte - unter Beachtung dieser Verhaltensvorgaben - öffentliche Veranstaltungen noch besuchen ohne Andere zu stören , so hat er keinen Anspruch auf Befreiung von der Rundfunk und Fernsehgebührenpflicht.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht" (RF).
Der Beklagte stellte bei dem 1942 geborenen Kläger einen GdB von 20 fest wegen "schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule mit Ausstrahlung bei Bandscheibenvorfall und funktionelle Herzbeschwerden mit anfallsweisem Herzjagen und Schwindel" (Bescheid vom 02.01.1990). Im Anschluss an den Änderungsantrag von November 1996 auf Feststellung eines höheren GdB sowie u.a. der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" zog der Beklagte Berichte der behandelnden Ärzte, einen Entlassungsbericht über eine stationäre Reha-Maßnahme und eine versorgungsärztliche Stellungnahme bei. Sodann bewertete der Beklagte mit Bescheid vom 07.04.1997 den GdB mit 60 wegen der Behinderungen "Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, Herzleistungsminderung, Rhythmusstörungen, Teilverlust des Darmes und der Bauchspeicheldrüse, Verlust der Gallenblase. Im Widerspruchsverfahren beantragte der Kläger die Festsetzung eines GdB von 80, da er zum Einen mittlerweile berufsunfähig sei und zum Anderen die Aufnahme regelmäßiger Mahlzeiten sowie erhebliche Schmerzen seinen Tagesablauf beeinträchtigten. Nach Auswertung weiterer ärztlicher Unterlagen berücksichtigte der Beklagte im Abhilfebescheid vom 23.07.1997 einen GdB von 80, da bei der Funktionsbeeinträchtigung "Teilverlust der Bauchspeicheldrüse und des Zwölffingerdarmes, Verlust der Gallenblase" die Heilungsbewährung abzuwarten sei. Der Kläger hielt seinen Widerspruch aufrecht und betonte, dass über die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF" bisher nicht entschieden sei, obwohl es infolge der Entfernung der Organe zu erheblichen Verdauungsstörungen komme, so dass eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unmöglich sei. Zur Begründung legte der Kläger ein Attest seines Hausarztes O. vor, wonach die Blähungen zu Geräusch- und Geruchsbelästigungen führen, die anderen Veranstaltungsteilnehmern unzumutbar seien. Nach Einholung einer beratungsärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.08.1997 zurück, da die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" nicht gegeben seien.
Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Detmold am 29.09.1997 Klage erhoben. Er hat geltend gemacht, der Reha-Entlassungsbericht könne nicht zur Beurteilung herangezogen werden, da dieser die wiederholt auftretenden Schmerzattacken, Durchfälle und starken Blähungen "mangels ärztlichem Interesse" nicht dokumentiere.
Das SG hat Befundberichte des Urologen Dr. F. und des Hausarztes O. sowie die Akte S 8 An 297/97 beigezogen und im Anschluss an einen Erörterungstermin ein Gutachten des Internisten Dr. univ. L eingeholt. Der Sachverständige hat betont, der Kläger sei wegen der Gesundheitsstörungen "Zustand nach partieller Pankreatiko-Duodenektomie nach Whipple unter Erhalt des Pylorus, Gallenblasenverlust, Dickdarmdivertikulose" dauernd außerstande, an öffentlichen Veranstaltungen jeder Art - auch mit Hilfe einer Begleitperson oder technischer Hilfsmittel - teilzunehmen. Dabei hat Dr. univ. L. ergänzend darauf hingewiesen, dass Intensität und Häufigkeit der vom Kläger beschriebenen Blähungen durch Medikamente oder Änderung der Lebens- und Essgewohnheiten nicht sicher zu beeinflussen seien. Der Beklagte ist diesem Beweisergebnis nicht gefolgt und hat kritisiert, die Einschätzung des Sachverständigen beruhe nur auf den Angaben des Klägers. Der Sachverständige habe ein fünfmaliges Aufsuchen der Toilette innerhalb der zweistündigen ambulanten Untersuchung beschrieben und der objektivierbare Befund habe nur einen "allenfalls geringfügig vermehrten Luftgehalt im Abdomen" ergeben.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 12.07.2000 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird verwiesen.
Gegen das am 05.08.2000 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14.08.2000 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 12.07.2000 zu ändern und den
Beklagten unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 29.08.1997 zu verurteilen, bei ihm die
gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und sieht sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren in seiner Auffassung bestätigt.
Der Senat hat die Akte L 18 RA 24/01 beigezogen und sodann ein Gutachten des Internisten Privatdozent Dr. St. eingeholt. Dieser hat die vom Kläger beschriebenen Blähungen und Durchfälle im Wesentlichen auf die exokrine Pankreasinsuffizienz zurückgeführt. Gleichzeitig hat er darauf hingewiesen, dass diese üblicherweise zu einem Gewichtsverlust führt, da durch die mangelnde Bereitstellung von Verdauungsenzymen die zugeführte Nahrung teilweise dem Körper nicht als aufzunehmender Nährstoff bereit steht. Solche Umstände hat der Sachverständige - ebenso wie bereits Dr. univ. L. verneint, da der Kläger eine Gewichtszunahme angab, die auf eine ausreichende Substitution von Pankreasfermenten schließen läßt. Der Sachverständige hat betont, dass aus medizinischer Sicht keine objektivierbaren Gesundheitsstörungen vorliegen, die den Besuch öffentlicher Veranstaltungen verbieten, zumal wegen der möglichen Geruchsbelästigung Veranstaltungen im Freien noch unproblematischer und die Intensität und Häufigkeit der Stuhlentleerungen bzw. Blähungen durch Medikamente und Änderung der Lebensgewohnheiten zu beeinflussen seien.
Der Kläger ist dem Ergebnis der Begutachtung entgegengetreten und hat unter anderem geltend gemacht, dass er nur von Frau Dr. A. untersucht worden sei und dieser Assistenzärztin die notwendige Sachkenntnis und Facharztausbildung fehle. Er hat betont, dass zur Beurteilung der anstehenden Rechtsfrage auf das Gutachten von Dr. univ. L. abzustellen sei. In einer ergänzenden Stellungnahme hat Privatdozent Dr. St. dargelegt, dass Frau Dr. A. unmittelbar nach der ambulanten Untersuchung des Klägers ihre sechsjährige Facharztausbildung zur Internistin erfolgreich abgeschlossen hat und durch ihre Tätigkeit auf einer Station mit gastroenterologischem Schwerpunkt über umfangreiche Erfahrungen in dem zu beurteilenden Problemkreis verfügt. Sodann hat der Senat ein Gutachten des Internisten Dr. B. eingeholt. Unter Berücksichtigung der chronischen Abdominalschmerzen als Folge von Verwachsungsbeschwerden nach mehrmaligen abdominalchirurgischen Eingriffen - partielle Pankreatico-Duodenektomie, Diarrhöen, Blähungen und Flatulenz auf Grund exokriner Pankreasinsuffizienz, den festgestellten Toilettengängen und den aktenkundigen Beschwerden - ist der Kläger nach Einschätzung von Dr. B. nicht generell von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Darüber hinaus hat der Sachverständige dargelegt, dass sich der Kläger durch eine bestimmte Lebensweise auf den Besuch von Veranstaltungen vorbereiten könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Kläger wird durch den angefochtenen Bescheid nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" nicht vorliegen.
Es bedurfte nicht der Aussetzung des Verfahrens zur Durchführung eines Vorverfahrens, obwohl der Widerspruchsbescheid vom 29.08.1997 erstmals Ausführungen zum Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "RF" enthält. Ein Widerspruchsbescheid ist aus prozeßökonomischen Gründen dann nicht mehr erforderlich, wenn sich aus der Klageerwiderung ergibt, dass die Sache erneut überprüft wurde und der Widerspruchsbescheid voraussichtlich nichts anderes enthalten würde als die Klageerwiderung (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, § 78 SGG, Rdnr. 3c m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die Klageerwiderung vom 27.10.1997 gerecht.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der nordrhein-westfälischen Verordnung für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 30.11.1993 muss ein Behinderter mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen können, um die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" zu erfüllen. Diese Vorschrift zielt darauf, eine Teilnahme am öffentlichen Leben und kulturellem Geschehen zu ermöglichen und behinderungsbedingte Störungen bei der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben durch erleichterten Zugang zu Rundfunk- und Fernsehsendungen auszugleichen und damit letztendlich die Eingliederung des Behinderten in die Gesellschaft zu fördern. Daher ist nach gefestigter Rechtsprechung des BSG eine enge Auslegung geboten (BSG, Urteil vom 28.06.2001, B 9 SB 2/00 R m. w. N.). Der Behinderte muss wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch an öffentlichen Veranstaltungen, d. h. von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher und unterhaltender Art ausgeschlossen sein, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen können. Dabei ist es unerheblich, ob diejenigen Veranstaltungen, an denen der Behinderte noch teilnehmen kann, seinen persönlichen Bedürfnissen, Neigungen und Interessen entsprechen. So lange der Behinderte mit technischen Hilfsmitteln und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er an der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert. Die Unfähigkeit eines Behinderten, ständig an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, steht nach der Rechtsprechung des BSG praktisch der Bindung an das Haus gleich. Aus dem subjektiven Empfinden eines Behinderten, an öffentlichen Veranstaltungen nicht partizipieren zu können, folgt nicht, dass ein Besuch unzumutbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 09.08.1995, 9 RVs 3/95; BSG, Urteil vom 12.02.1997, 9 RVs 2/96; BSG, Urteil vom 10.08.1993, 9/9 RVs 7/91; BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 SB 2/00 R).
Nach Auswertung der medizinischen Gutachten steht nach der Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger trotz der erheblichen Erkrankungen - insbesondere auf internistischem Fachgebiet - die strengen Vorgaben des Bundessozialgericht zur Bejahung des Nachteilsausgleichs "RF" nicht erfüllt. Nach den übereinstimmenden Feststellungen der gehörten Sachverständigen Dr. univ. L., Privatdozent Dr. St. und Dr. B. führen die chronischen Abdominalschmerzen als Folge von Verwachsungsbeschwerden nach mehrmaligen chirurgischen Eingriffen mit partieller Pankreas-Duodenektomie unter Erhalt des Pylorus, Gallenblasenverlust, Dickdarmdivertikulose, Durchfälle, Blähungen und Flatulenz wegen exokriner Pankreasinsuffizienz nicht dazu, dass der Kläger allgemein und umfassend vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Der Senat verkennt dabei nicht, dass der Kläger sich subjektiv gehindert fühlt, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, da er eine Belästigung anderer Veranstaltungsteilnehmer befürchtet. Nach den objektiven Feststellungen der Sachverständigen Privatdozent Dr. St. und Dr. B. kann der Kläger an zahllosen Veranstaltungen mit einer Dauer von bis zu zwei Stunden teilnehmen. Das BSG sieht nur dann die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "RF" als gegeben an, wenn das Aufsuchen fast aller Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Teilnehmer unzumutbar ist, d.h. Behinderte wegen ihrer Erkrankungen auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken, z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter oder bei ansteckenden Krankheiten (BSG, Urteil vom 12.02.1997, 9 RVa 2/96). Eine derartige Geruchsbelästigung hat keiner der Sachverständigen nach den ambulanten Untersuchungen des Klägers beschrieben. Die anderslautenden Ausführungen des Hausarztes O. sieht der Senat daher nicht als erwiesen an. Erforderlich für die Teilnahme an Veranstaltungen ist insoweit nur, dass der Kläger im Vorfeld die von Dr. B. beschriebenen Ernährungsvorgaben - Meiden stark blähender und fetter Speisen und einer vermehrten Flüssigkeitszufuhr - beachtet, entblähende Medikamente einnimmt und bei den Veranstaltungen eine randständige Sitzposition wählt. Eine derartige aktive Mitwirkung wird den Behinderten nach der Rechtsprechung des BSG abverlangt, soweit diese unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalles zumutbar erscheint (BSG, a.a.o.). Unter Berücksichtigung aller sich aus den Gutachten ergebender Erkenntnisse geht der Senat davon aus, dass dem Kläger die oben dargestellte Anpassung seiner Lebensbedingungen vor Besuch einer Veranstaltung zumutbar ist. Der Senat hat keine Bedenken, auch das Gutachten des Dr. St. der Beurteilung zu Grunde zu legen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen in seiner ergänzenden Stellungnahme, dass Frau Dr. A. alsbald nach der ambulanten Untersuchung des Klägers erfolgreich ihre Facharztausbildung zur Internistin abschloss und zudem ihren Dienst auf einer Gastroenterologischen Station verrichtete, zweifelt der Senat nicht an der fachlichen Qualifikation der Ärztin.
Der Einschätzung des Dr. univ. L. kann der Senat dagegen nicht folgen. Dieser Sachverständige leitet den Nachteilsausgleichs "RF" vorwiegend aus den subjektiven Angaben des Klägers ab und berücksichtigt die während der ambulanten Untersuchung gewonnenen objektiven Befunde nicht angemessen. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, wieso entsprechende Medikamente oder eine Änderung der Essgewohnheiten keinen Einfluss auf die Beschwerden des Klägers haben sollen. Insoweit ist die Aussage des Sachverständigen äußerst pauschal, nicht begründet und wird von den detaillierten Angaben des Sachverständigen Dr. B. widerlegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.