Thüringer Landessozialgericht
Az.: L 5 SB 768/00
Az.: S 8 SB 240/99 - SG Altenburg -
1. Liegt mangels Heilungsbewährung bereits bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsaktes ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt vor, kann der Eintritt der angenommenen, tatsächlich aber nicht existierenden Heilungsbewährung nicht zu einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 SGB X führen. Tatsächliche Verhältnisse können nur die Verhältnisse sein, die für die Entscheidung objektiv erheblich sind, nicht aber die nach der Vorstellung der Behörde existieren, jedenfalls dann nicht, wenn sie in der Entscheidung nicht objektiviert werden.
3. Die AHP können für die Zeitdauer ihrer Geltung nur insoweit als Maßstab von Verwaltungsentscheidungen anerkannt werden, als sie dem medizinischen Kenntnisstand entsprechen.
4. Es steht den Gerichten grundsätzlich frei, von den Anhaltspunkten abweichende, eigene Beurteilungskriterien aufzustellen und anzuwenden.
Der Kläger wendet sich gegen die Neufeststellung seines Grades der Behinderung (GdB).
Der 1942 geborene Kläger erlitt Ende April 1996 einen Myokardinfarkt im Hinterwandbereich.
Am 3. September 1996 beantragte er die Feststellung einer Behinderung und ihres Grades nach dem Schwerbehindertengesetz.
Mit Bescheid vom 19. November 1996 stellte der Beklagte als Behinderung eine „Herzleistungsminderung nach Herzinfarkt, koronare Herzkrankheit“ bei einem GdB von 50 fest.
Im August 1997 erfolgte eine Überprüfung des festgestellten Behinderungsgrades. Der Beklagte holte bei dem Internisten Dr. H einen aktuellen Befundbericht ein. Dieser fügte seinem Befundbericht vom 2. September 1997 einen ärztlichen Entlassungsbericht der Reha-Einrichtung der C Kliniken GmbH vom 3. April 1997 bei. Bereits der Aufnahmebefund (im März 1997) gibt einen 54-jährigen Patienten in gutem Allgemein- und Ernährungszustand an. Es bestünden keine kardiopulmonalen Dekompensationszeichen. Im Ruhe-EKG (vom 19. März 1997) war der Kläger auch bei 125 Watt mit einer Dauer von 2 Minuten belastbar. Insgesamt wurde eine gute Belastbarkeit des Herzens festgestellt. Der Kläger könne seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit weiter vollschichtig ausführen. Nach Anhörung des Klägers hob der Beklagte mit Bescheid vom 23. März 1998 den Bescheid vom 19. November 1996 mit Wirkung für die Zukunft auf, weil die Herzleistungsminderung nach Herzinfarkt keine dauernde Funktionsbeeinträchtigung mit einem GdB von mindestens 20 mehr bedinge.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg. Er wurde mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1999 mit der Begründung zurückgewiesen, dass nach den bis zu dem 31. Dezember 1996 geltenden „Anhaltspunkten“ für ein Jahr nach einem Herzinfarkt eine Zeit der Heilungsbewährung abzuwarten sei. Während dieser Zeit sei auch bei relativ geringer Leistungsbeeinträchtigung ein GdB von 50 anzunehmen. Diese Zeit der Heilungsbewährung nach Herzinfarkten gebe es nach den seit dem 1. Januar 1997 gültigen Anhaltspunkten nicht mehr. Es werde von Anfang an die noch tatsächlich verbliebene Herzleistungsminderung bewertet. Bei einer Ergometerbelastung bis 125 Watt habe kein Nachweis einer belastungsinduzierten Koronarischämie erfolgen können. Eine wesentliche Leistungsbeeinträchtigung sei nicht nachgewiesen. Es liege kein GdB von wenigstens 20 vor.
Am 19. Februar 1999 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Klage erhoben. Seine Leistungsfähigkeit sei durch den Hinterwandinfarkt nach wie vor erheblich eingeschränkt. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholen zweier Sachverständigengutachten zum einen bei Prof. Dr. S sowie bei Dr. F. Beide kommen in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass (aktuell) ein GdB von maximal 20 bestünde. Zu einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes nach November 1996 äußern sich beide Sachverständigen allerdings nicht. Eine entsprechende Fragestellung unterblieb durch das Sozialgericht.
Mit Urteil vom 22. November 2000 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Erkrankungen des Klägers würden einen GdB von 20 bedingen.
Gegen das dem Kläger am 7. Dezember 2000 zugestellte Urteil hat dieser am 15. Dezember 2000 Berufung eingelegt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 22. November 2000 und den Bescheid des Beklagten vom 23. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1999 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat einen Befundbericht bei dem Internisten Dr. H eingeholt. Dieser gab auf die Frage, wie sich der Gesundheitszustand des Klägers für die Zeit von April 1996 bis März 1998 dargestellt habe, an: „Beschwerden seit 1996 idem“.
Daneben hat der Senat beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) eine Auskunft zu der Änderung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) im Hinblick auf die Heilungsbewährung, die in den AHP, Ausgabe 1996, im Vergleich zu den AHP, Ausgabe 1983, entfallen ist, eingeholt. Das BMA teilte mit, dass nach einhelliger Meinung aller im Rahmen der Überarbeitung der Nr. 26.3 der AHP 1996 gehörten Sachverständigen die früher angenommene medizinisch-technische Unsicherheit bei der Leistungsbeurteilung des Herzens innerhalb des ersten Jahres nach Herzinfarkt auf Grund der verbesserten Funktionsdiagnostik nicht mehr zutreffe. Eine definitive Beurteilung der verbliebenen Herzleistung sei bereits innerhalb des ersten Halbjahres nach dem Infarkt möglich. Damit entfalle eine wesentliche medizinische Voraussetzung zur Annahme einer Heilungsbewährung. Dies sei bereits bei der Überarbeitung der AHP 1983 erkennbar gewesen. Dies sei der Grund, warum die Heilungsbewährung nach Herzinfarkt seinerzeit (im Vergleich zu den 1977 herausgegebenen AHP) von drei auf damals ein Jahr verkürzt worden sei. Die Anhörung der Sachverständigen des Bereiches Kardiologie zur Vorbereitung auf die Neuausgabe der AHP, Ausgabe 1996, habe Ende Januar 1994 stattgefunden. Seit diesem Zeitpunkt sei dem BMA bekannt, dass eine Heilungsbewährung bei Herzinfarkt medizinisch nicht mehr gerechtfertigt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Prozessakten sowie auf den Inhalt der Schwerbehindertenakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist begründet. Der Bescheid des Beklagten des 23. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1999 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der Beklagte konnte seine Entscheidung nicht auf die Vorschrift des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X - stützen. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben beziehungsweise abzuändern, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist jede Änderung, die die Feststellung eines um 10 höheren oder niedrigeren GdB für die festgestellten Behinderungen bzw. für weitere Behinderungen rechtfertigt. An einer solchen wesentlichen Änderung fehlt es entgegen der Auffassung des Beklagten.
Weder hat sich das Ausmaß der festgestellten Leistungsbeeinträchtigung des Herzens seit der Feststellung im November 1996 reduziert noch sind Behinderungen entfallen, die eine Neufeststellung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu Lasten des Klägers für die Zukunft rechtfertigen können. So hat der behandelnde Internist des Klägers in seinem Befundbericht vom 2. Februar 2001 wie auch die erstinstanzlich beauftragten Sachverständigen keine vom Herzen ausgehende wesentliche Leistungsbeeinträchtigung feststellen können. Dieser aktuellen Beurteilung der Leistungsbeeinträchtigung entsprach aber auch der gesundheitliche Zustand zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten im November 1997. Auf ausdrückliche Frage des Senates hinsichtlich einer Änderung (Verschlimmerung oder Besserung) des Gesundheitszustandes gab Dr. H an, dass die Beschwerden seit 1996 „idem“ also die selben seien. Der Senat hat auch keinen Anlass an den Angaben von Dr. H zu zweifeln, zumal sie (im Gegensatz zu dem festgestellten GdB von 50 Ende November 1996) mit den Feststellungen in dem ausführlichen Entlassungsbericht der Reha-Einrichtung C überein stimmen. Danach war der Kläger bereits im März 1997, also drei Monate nach dem Erlass des Bescheides in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand. Kardiopulmonale Dekompensationszeichen waren zu diesem Zeitpunkt nicht festzustellen. Das EKG vom 13. März 1997 und die Ergometrie vom 19. März 1997 ergaben keine wesentlichen Leistungsbeeinträchtigungen des Klägers. Es bestand kein Nachweis einer belastungsinduzierten Koronarischämie. Der Kläger hielt einer stufenweisen Belastung mit 50, 75, 100 und 125 Watt über je zwei Minuten Dauer stand. Auch zu diesem Zeitpunkt wurde eine gute Belastbarkeit des Herzens festgestellt.
Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ist auch nicht durch den Eintritt der „Heilungsbewährung“ eingetreten.
Zwar sahen die AHP 1983 (Ziffer 26.9, S. 67) unabhängig von der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigung nach einem Herzinfarkt das Abwarten einer Heilungsbewährung für die Dauer eines Jahres vor, während der auch bei relativ geringer Leistungsbeeinträchtigung ein GdB um mindestens 50 anzunehmen war, die AHP waren in diesem Punkt allerdings fehlerhaft und deshalb unverbindlich. Die Unverbindlichkeit ergibt sich nicht schon daraus, dass den AHP keine Normqualität zukommt. Die AHP haben sich normähnlich nach Art der untergesetzlichen Normen entwickelt, die von Sachverständigengremien kraft Sachnähe und Kompetenz gesetzt werden. Hinsichtlich der richterlichen Kontrolle der AHP ergeben sich Besonderheiten, ungeachtet der Rechtsqualität der AHP. Den Gerichten ist es nicht verwehrt, zur Konkretisierung des Schwerbehindertenrechts eigene Beurteilungskriterien zu entwickeln oder anhand des Normprogramms des Schwerbehindertenrechts auf Erfahrungswerte der Versorgungsverwaltung und den Stand der medizinischen Wissenschaft zurückzugreifen. Dabei können sich die Gerichte auch an den AHP des BMA orientieren, zumal sich diese nach den langjährigen Erfahrungen in der Rechtsprechung als ein einleuchtendes und abgewogenes, in sich geschlossenes Beurteilungsgefüge zum GdB darstellen, das darauf angelegt ist, eine gleichmäßige Gutachtertätigkeit und damit eine gleichmäßige Rechtsanwendung zu gewährleisten. Zwar entbehrt dieses Beurteilungsgefüge einer demokratischen Legitimation insoweit, als es weder für die AHP noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des für die AHP zuständigen Expertengremiums eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes gibt. Ihre Beachtlichkeit im Gerichtsverfahren als antizipierte Sachverständigengutachten ergibt sich aber daraus, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet ist, wenn bei der Beurteilung der verschiedenen Behinderungen gleiche Maßstäbe zur Geltung kommen (BVerfG, Beschluss vom 6.3.1995 – 1 B VR 60/95 – SozR 3-3870 § 3 Nr. 6). Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Gerichte an die AHP gebunden und die AHP einer richterlichen Kontrolle entzogen sind, wenn dies im Hinblick auf Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz einerseits und das Normprogramm des Schwerbehindertenrechts andererseits erforderlich ist. So ist insbesondere zu prüfen, ob die AHP dem Gesetz widersprechen, ob sie dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen und ob ein Sonderfall vorliegt, der auf Grund der individuellen Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf (BVerfG a.a.O. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG). Entsprechen die AHP nicht mehr dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft, sind sie daher fehlerhaft und deshalb unverbindlich, gegebenenfalls entsprechend zu korrigieren (BSG SozR 3- 3870 § 4 Nr. 21).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Heilungsbewährung bei einem Herzinfarkt diente der früher bestehenden beziehungsweise angenommenen medizinisch-technischen Unsicherheit bei der Leistungsbeurteilung des Herzens. Während die Heilungsbewährung zunächst noch drei Jahre betrug, wurde sie in den AHP 1983 auf ein Jahr herabgesetzt. Bereits lange vor dem Inkrafttreten der AHP 1996, bei denen die Heilungsbewährung nach Herzinfarkt ganz entfallen ist, bestand in der medizinischen Wissenschaft Streit darüber, ob es einer solchen Heilungsbewährung überhaupt noch bedarf (vgl. BSG SozR 2 – 3870 § 4 Nr. 21). War die Annahme einer Heilungsbewährung im Jahre 1983 möglicherweise noch begründet, war spätestens Ende Januar 1994 eine solche Annahme nicht mehr gerechtfertigt, weil spätestens zu diesem Zeitpunkt bei dem Sachverständigenbeirat des BMA bekannt war, dass die früher angenommene medizinisch-technische Unsicherheit bei der Leistungsbeurteilung des Herzens innerhalb des ersten Jahres nach Herzinfarkt auf Grund der nunmehr verbesserten Funktionsdiagnostik nicht mehr zutraf. Dies ergibt sich aus der vom Senat eingeholten Auskunft des BMA vom 22. Mai 2001 beziehungsweise vom 19. September 2001. War aber seit Ende Januar 1994 bekannt, dass eine Heilungsbewährung nach Herzinfarkt generell nicht mehr gerechtfertigt ist, waren die AHP in diesem Punkt fehlerhaft und insoweit unverbindlich.
Der Beklagte hätte nach den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung spätestens nach diesem Zeitpunkt den GdB nach Herzinfarkt nicht mehr unabhängig von der Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdB von 50 beurteilen dürfen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der insoweit fehlerhafte Maßstab die Verwaltungspraxis im Sinne der Gleichbehandlung steuert (so aber BSG SozR 3 – 1300 § 48 Nr. 60). Jedenfalls rechtfertigt dieser fehlerhafte Maßstab auch bei gleichmäßiger Anwendung auf alle Behinderte nicht die Aussage, dass der ursprüngliche Bescheid, der (zu Unrecht) nach den AHP 1983 noch eine Heilungsbewährung vorsah, rechtmäßig sei. Vielmehr handelt es sich insoweit wegen der Fehlerhaftigkeit der AHP und der damit verbundenen Unverbindlichkeit um einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt im Sinne des § 45 Abs. 1 SGB X. Liegt aber mangels Heilungsbewährung bereits bei Erlass des ursprünglichen Verwaltungsaktes ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt vor, kann der Eintritt der angenommenen, tatsächlich aber nicht existierenden Heilungsbewährung nicht zu einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse führen. Tatsächliche Verhältnisse können nur die Verhältnisse sein, die für die Entscheidung objektiv erheblich sind, nicht aber die nach der Vorstellung der Behörde existieren, jedenfalls dann nicht, wenn sie in der Entscheidung nicht objektiviert werden (s. dazu unten).
Der Senat weicht damit von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ab, welches eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X annimmt, wenn sich nachträglich Tatsachen ändern, auf die der Bewilligungsbescheid zu Unrecht gestützt worden ist, die also die Behörde zu Unrecht für maßgebend gehalten hat (BSG SozR 3 – 1300 § 48 Nr. 60 und SozR 3 – 3870 § 4 Nr. 1). Ein in Übereinstimmung mit den AHP ergangener Bescheid, der zwischen den Beteiligten bindend wird, muss aber jedenfalls dann (nachträglich) als inhaltlich falsch und damit als rechtswidrig angesehen werden, wenn bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses entsprechende Feststellungen hinsichtlich der Fehlerhaftigkeit der AHP getroffen waren oder hätten getroffen werden können (vgl. aber BSG SozR 3 – 3870 § 4 Nr. 1). Denn die AHP können für die Zeitdauer ihrer Geltung nur insoweit als Maßstab von Verwaltungsentscheidungen anerkannt werden, als sie (noch) dem medizinischen Kenntnisstand entsprechen. Liegt aber ein Fall einer anfänglichen Rechtswidrigkeit vor, kann nicht bezogen auf die fehlerhaft angenommene Tatsache eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eintreten. Denn im Rahmen der erforderlichen Korrektur der AHP wäre es nicht zu beanstanden gewesen, wenn der Beklagte die Feststellung des GdB bereits im November 1996 abgelehnt hätte. Der Kläger hätte sich dann gerade im Hinblick auf den Grundsatz „keine Gleichheit im Unrecht“ nicht auf die Geltung der AHP 1983 berufen können. Zwar kann der Wegfall von tatsächlich existierenden Tatsachen, die für die ursprüngliche Entscheidung zwar keine Bedeutung haben, aber nach dem fehlerhaft angelegten Maßstab wesentlich sind, eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X bewirken, sodass zu diesem Zeitpunkt sowohl ein Fall des § 45 als auch ein Fall des § 48 SGB X vorliegt, zu diesen Tatsachen gehört aber nicht eine fehlerhafte Vorstellung der Behörde über die Qualität der Funktionsdiagnostik und die damit angenommene medizinisch-technische Unsicherheit bei der Leistungsbeurteilung des Herzens, weil es sich hierbei um eine bloße (fehlerhafte) Wertung der zu Grunde liegenden Verhältnisse handelt.
Etwas anderes kann allenfalls dann gelten, wenn die Bedeutung (Wertung) bestimmter Tatsachen für die Entscheidung in einem objektiven Sinn auch erkennbar war (so BSG SozR 3 – 3870 § 4 Nr. 1). Dies braucht aber vorliegend nicht abschließend entschieden zu werden. Denn eine so verstandene Bestimmung der „Verhältnisse“ hätte vorausgesetzt, dass der Beklagte in dem Bescheid vom 16. November 1996 die Vorläufigkeit wegen der Heilungsbewährung auch objektiv zum Ausdruck bringt, indem er die Behinderung zum Beispiel als „Herzinfarkt im Stadium der Heilungsbewährung“ bezeichnet. Stattdessen hat der Beklagte ohne die Bedeutung einer angenommenen Heilungsbewährung deutlich zu machen als Behinderungen in dem Bescheid eine koronare Herzkrankheit und eine Herzleistungsminderung aufgenommen, obwohl die Herzleistungsminderung bereits zum 19. November 1996 einen GdB von 20 nicht mehr gerechtfertigt hätte (s.o.).
Eine Änderung der (rechtlichen) Verhältnisse ist schließlich auch nicht durch Inkrafttreten der neuen Anhaltspunkte eingetreten, obwohl die AHP 1996 im Gegensatz zu den AHP 1983 eine Heilungsbewährung nach Herzinfarkt nicht mehr vorsehen. Dabei ist eine Rückwirkung der AHP 1996 in Zeiträume vor ihrem Inkrafttreten allerdings abzulehnen (BSG SozR 3 – 3870 § 3 Nr. 8). Eine Änderung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit wird vielmehr (erst) zu dem Zeitpunkt wirksam, den das BMA als Herausgeber bestimmt. Die AHP 1996 geben die gutachtlichen Beurteilungskriterien nach dem Erkenntnisstand im November 1996 wieder und sind nach dem Rundschreiben des BMA vom 19. Dezember 1996 – VI 5 – 55464 – 4 – mit Wirkung vom 1. Januar 1997 allen Begutachtungen zu Grunde zu legen unabhängig davon, ob der Antrag vor oder nach dem 1. Januar 1997 gestellt worden war. Eine wesentliche Änderungen in den rechtlichen Verhältnissen ist aber gleichwohl nur dann anzunehmen, wenn die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Anhaltspunkte auch hinsichtlich der Heilungsbewährung nach Herzinfarkt – anders als für die Zeit ab 1. Januar 1997 – anzuwenden waren. Dies war aber nach oben Gesagtem gerade nicht der Fall, weil die AHP insoweit nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprachen (s.o.). War danach die Behinderung nach Herzinfarkt sowohl vor als auch ab dem 1. Januar 1997 nach der tatsächlichen Leistungsbeeinträchtigung unter Zugrundelegung der AHP 1983 (korrigiert) beziehungsweise 1996 festzustellen, kann von einer Änderung der Verhältnisse nach dem 31. Dezember 1996 nicht die Rede sein. Die AHP 1996 haben nur das niedergelegt, was bereits zuvor (im Rahmen einer notwendigen Korrektur) galt.
Kam nach alledem nur eine Entscheidung nach § 45 SGB X in Betracht, war die nach § 48 SGB X erlassene Entscheidung aufzuheben. Hier kommt auch keine Umdeutung oder im Hinblick auf den identischen Verfügungssatz ein Nachschieben von Gründen in Betracht, da beides eine Ermessensausübung erfordern würde, die nicht nachgeholt werden kann. Dies gilt auch im Hinblick auf die Neuregelung in § 41 Abs. 2 SGB X und § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG, weil eine Aussetzung des Rechtsstreites zur Behebung von Verfahrensfehlern vorliegend nicht in Betracht kommt (vgl. BSG Urteil vom 24. Juli 2002 – B 4 RA 2/01 R - ).
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 SGG.