Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 10 (6) VG 34/08 - Urteil vom 13.05.2011
Auch wenn die polizeiliche Ingewahrsamnahme des späteren Opfers und Versuche, ihm Blut zu entnehmen, grundsätzlich rechtmäßig sind, kann eine Blutentnahme unter Gewaltanwendung rechtswidrig sein und zur Entschädigung nach dem OEG (hier wegen dabei erlittenem hypoxischen Hirnschaden) führen. Das ist dann der Fall, wenn die Blutentnahme aufgrund der Gesamtumstände, z.B. vorheriger Ablauf und Gesamtdauer der Versuche, Blut zu entnehmen, kein willensgesteuerter Widerstand, nicht mehr gerechtfertigt war.
Tatbestand:
Streitig ist, ob dem Kläger aufgrund seiner im Polizeigewahrsam am 15./16.11.2004 erlittenen Verletzungen und der hieraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.
Der am 29.12.1973 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Seit seinem 18. Lebensjahr konsumierte er Drogen, u.a. Cannabis, Heroin und Kokain. Daneben trank er seit seinem 19. Lebensjahr zunehmend Alkohol in erheblichem Umfang.
Am 15.11.2004 lernte der Kläger den B kennen. Im Folgenden nahmen beide alkoholische Getränke in erheblichem Umfang zu sich. Darüber hinaus hatte der Kläger Drogen konsumiert. Am späteren Abend begaben sich beide in einen Call-Shop in der Bonner Innenstadt, von wo aus der B einen Bekannten in der Ukraine anrufen wollte. Aufgrund des Verhaltens des Klägers und des B kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Personal des Call-Shops, in deren Verlauf die Polizei mit insgesamt 14 Polizeibeamten und -beamtinnen in sechs Streifenwagen und einem zivilen Polizeifahrzeug hinzugerufen wurde Der Kläger begegnete den Beamten "motzend" und renitent. Diese entschieden daraufhin, den aggressiven und stark nach Alkohol riechenden Kläger in Gewahrsam zu nehmen und in das Polizeipräsidium zu verbringen. Dies sollte zu seinem eigenen Schutz mit dem Ziel der Ausnüchterung und anschließender Freilassung und zum Schutz der Umstehenden geschehen. Auch während des Transports zum Polizeigewahrsam beschimpfte der Kläger die beteiligten Polizeibeamten und leistete heftige Gegenwehr. Gegen 0.17 Uhr gelang es den Beamten dann, den Kläger trotz seines Widerstandes in einer Zelle im Polizeipräsidium Bonn auf eine auf ein metallenes Liegegestell plazierte blaue Kunststoffmatte in Bauchlage zu legen, seine Arme an den vorhandenen Wandverankerungen zu fixieren und ihm Fußfesseln anzulegen, die an einer Verankerung der Liege am Fußende befestigt wurden. Es sollte dann gem. § 81a Strafprozessordnung (StPO) eine Blutprobe entnommen werden. Gegen 0.56 Uhr traf der telefonisch herbeigerufene Arzt Dr. F im Polizeipräsidium ein, um diese zu entnehmen. Zwischen 0.56 Uhr und 1.11 Uhr unternahmen Dr F und die beteiligten Polizeibeamten M und K insgesamt fünf Punktierungsversuche zum Zwecke der Blutentnahme, die aufgrund der Gegenwehr des Klägers und der schlechten Venensituation erfolglos blieben. Dabei hielt der Polizeibeamte M den Kopf des Klägers in Seitenlage fest und drückte ihn gegen die Matte, während der Polizeibeamte K den Oberkörper und Arm des Klägers fixierte, indem er mit seinem mittig auf dem Thorax liegenden Knie dessen Rücken fixierte und zweimal in kurzen Abständen für jeweils rund eineinhalb Minuten niederdrückte. Während der gesamten Zeit hatte sich der Kläger in erheblichem Umfange unter Kraftanstrengung im Rahmen seiner Möglichkeiten gegen die Blutentnahme gewehrt. Danach verließen der Polizeibeamte M und Dr. F kurz nacheinander die Zelle. Während dieser Zeit übernahm der Polizeibeamte K die Fixierung des Nackens und fixierte gleichzeitig den Oberkörper des Klägers, indem er dessen Rücken mit seinem linken Knie nieder drückte. Gegen 1.12 Uhr wurde der Polizeibeamte H hinzugezogen und gebeten, sich auf die Fußfesseln zu stellen, weil weiterhin unruhiges Verhalten des Klägers erwartet wurde. Es trat dann, insbesondere bei Dr. F und dem Polizeibeamten H, eine gewisse Unentschlossenheit hinsichtlich des weiteren Vorgehens ein. Nach einer kurzen Besprechung waren sich die beteiligten Beamten und Dr. F einig, die Prozedur der Blutentnahme trotz der bisherigen Dauer und der massiven Abwehrbewegungen des Klägers unter weiterem Gewalteinsatz fortzusetzen. Die Fixierung des Klägers wurde nicht gelöst. Im Folgenden kniete Dr. F vor dem linken Arm des Klägers, den der Beamte M festhielt. Um weiterhin massive Bewegungen des Klägers zu unterdrücken, drückte der Beamte K mit seinem linken Knie insgesamt ohne Unterbrechungen in der Zeit von 1.10 Uhr bis 1.22 Uhr mittig den Rücken des Klägers nieder. Dabei versuchte der Kläger sich im Rahmen der Fesselung immer wieder aufzubäumen, indem er insbesondere sein Gesäß hin- und herbewegte. Hierauf reagierte der Beamte H, indem er sein Körpergewicht auf das Bein verlagerte, das auf den Fußfesseln stand. Auch der Beamte K folgte in seinen Bewegungen denjenigen des Klägers. Um 1.18 Uhr gelang Dr. F die Blutentnahme aus der Arterie des linken Armes. Die wiederholten Bewegungen des Klägers dauerten bis 1.19 Uhr an. Die Fixierung durch die Beamten K und H wurde um 1.22 Uhr aufgegeben. Um 1.23 Uhr stellte der Beamte H fest, dass sich am rechten Arm des Klägers noch eine Staubinde befand. Er rief den Beamten M und Dr. F zurück, der die Binde entfernte. Anschließend beobachteten alle drei den Kläger und schauten ihm länger ins Gesicht. Dieser lag bereits seit 1.19 Uhr unbeweglich da. Die Beteiligten ließen ihn weiter gefesselt in Bauchlage auf der Matratze liegen. Dr. F bezeichnete den Gesundheitszustand des Klägers als grenzwertig und forderte telefonisch einen Rettungswagen an. Gegen 1.33 Uhr betraten die Beamten M und K die Zelle und wechselten die Fesselung des weiterhin unverändert regungslos liegenden Klägers, indem sie ihm die Wandfesseln an den Händen abnahmen und die Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken festbanden. Um 1.37 Uhr legten sie ihm derartige Kabelbinder auch an den Füßen an, wobei sie die Fixierung an der Liege zuvor gelöst hatten. Gegen 1.38 Uhr erschienen die Rettungssanitäter des herbeigerufenen Rettungswagens. Sie schauten in die Zelle und bemerkten eine auffallende Blaufärbung, welche durch Dr. F damit erklärt wurde, dass diese an der Fesselung und an der durch Blutentnahme verursachten, mit einem Verband versorgten Verletzung am linken Unterarm läge. Das Röcheln des Klägers sei ein Trick, um Aufmerksamkeit zu erregen. Um 1.53 Uhr wurde ein Atem- und Herzstillstand festgestellt. Dieser hatte zwischen drei und zehn Minuten angedauert und war zwischen 21 und 28 Minuten nach Beendigung der Fixierung des Rückens eingetreten.
Nach durchgeführter Reanimation erlitt der Kläger einen hypoxischer Hirnschaden. Er ist nicht ansprechbar und wird über eine Magensonde ernährt. Sein Harn wird über die Bauchdecke abgeleitet. Er leidet an einem apallischen Syndrom und einer spastischen Tetraparese, wird als Schwerstpflegefall in einem Altenheim versorgt und benötigt Aufsicht und Pflege rund um die Uhr.
Anhand der entnommenen Blutprobe wurde festgestellt, dass bei ihm zum Tatzeitpunkt ein Blutalkoholkonzentrationswert von 3,11 Promille vorlag. Hinsichtlich des Drogenkonsums wurde ermittelt, dass er neben einer größeren Menge an Alkohol auch Heroin (Morphin) und diazepamhaltige Arzneimittel (Schlaf- und Beruhigungsmittel) konsumiert hatte.
Am 31.03.2005 beantragte der Bruder des Klägers bei dem Versorgungsamt Köln die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Das Versorgungsamt zog Befund- und Behandlungsberichte des H. Krankenhauses Bonn, des Neurologischen Rehabilitationszentrums F. vom 08.01.2005, der Rheinischen Kliniken A., des Evangelischen Krankenhauses C. vom 05.03.2002 und 27.07.2006, des Gemeinschaftskrankenhauses A., der Psychosomatischen Klinik C. vom 15.07.2003, der Uniklinik A. vom 10.03.2004 und von Dr. V vom 24.07.2006 sowie die medizinischen Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung und Auskünfte der AOK Rheinland vom 24.06.2005 und 24.07.2006 bei und wertete die Akten der Staatsanwaltschaft Bonn und des Landgerichts Bonn (LG), (Az.: 550 Js 658/04 und 23 M 6/05) aus. Außerdem holte es eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. R. vom 11.05.2006 ein.
Mit Urteil vom 07.06.2006 verurteilte das LG die angeklagten Polizeibeamten H, K und M wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt und den angeklagten Arzt Dr. F wegen fahrlässiger Körperverletzung zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und neun Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Zur Begründung führte es aus, dass das Verhalten der Angeklagten zumindest mitkausal für den Atem- und Kreislaufstillstand und die hierdurch eingetretenen irreparablen Gesundheitsschädigungen des Klägers gewesen sei. Durch die Fixierung des hochgradig erregten Klägers zum Zwecke der Blutabnahme sei es zu einer Dämpfung der Vitalfunktionen gekommen, wobei dann schließlich - möglicherweise über Herz-Rhythmus-Störungen - der vollständige Zusammenbruch der Atemtätigkeit und des Kreislaufes erfolgt sei. Das Phänomen sei in der ärztlichen Literatur unter der Bezeichnung "lagebedingter Erstickungstod" bekannt. Das dort beschriebene Risiko habe sich bei dem Kläger verwirklicht. Andere theoretisch denkbare Gründe für den Atem- und Kreislaufstillstand seien hingegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Zwar sei die Anordnung der Verbringung des Klägers in den Polizeigewahrsam ebenso wie die Anordnung der Blutentnahme rechtmäßig gewesen. Auch sei es insofern grundsätzlich gerechtfertigt gewesen, gem. § 81a StPO die Blutprobe unter Anwendung von unmittelbarem Zwang durchzuführen. Bei Anwendung des unmittelbaren Zwangs sei aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (im engeren Sinne) stets zu wahren. Es dürfe nicht gegen das Übermaßverbot verstoßen werden. Insofern sei die anfängliche Fixierung des Klägers zum Zwecke der Blutentnahme bis zum fünften Punktionsversuch einschließlich gerechtfertigt gewesen. Der sechste Punktionsversuch sei aufgrund des bisherigen Ablaufs der Maßnahme, ihrer Gesamtdauer, der Art und Weise der neuerlichen Fixierung des Klägers sowie ihrer Dauer nicht mehr gerechtfertigt gewesen. Es liege insofern ein objektiver Verstoß gegen das Übermaßverbot vor. Die mehr oder weniger starke Kompression des Thoraxes über eine Dauer von zwölf Minuten sei nicht mehr verhältnismäßig gewesen, weil sie objektiv gefährlich gewesen sei und zu schwerwiegenden Gesundheitsstörungen bis hin zum Tode führen könne. Die Angeklagten hätten sich jedoch in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden, so dass in analoger Anwendung des § 16 Strafgesetzbuch (StGB) der Vorsatz entfalle, so dass für eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Körperverletzungsdelikts kein Raum sei. Den Angeklagten sei insofern jedoch Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Diese sei im unteren Bereich anzusiedeln.
Mit Bescheid vom 17.01.2007 lehnte das Versorgungsamt Köln den Antrag ab. Zwar hätten die Polizeibediensteten im Verlaufe der Blutentnahme ihre Dienstpflichten verletzt. Dies sei jedoch in irrtümlicher Annahme eines Rechtfertigungsgrundes geschehen. Eine Verurteilung sei daher nur wegen fahrlässiger Körperverletzung erfolgt. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG sei eine Entschädigung zwar nicht ausgeschlossen, wenn der Täter in der irrtümlichen Annahme eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt habe. Die Versorgung sei jedoch nach § 2 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative OEG unter dem Gesichtspunkt der Unbilligkeit zu versagen. Ursache für den Gesundheitsschaden des Klägers seien zum einen das fahrlässige Fehlverhalten der Polizeibediensteten, zum anderen dessen vorsätzliche Tatbeiträge. Bei Abwägung dieser Umstände sei das Verhalten des Klägers die überwiegende und damit wesentliche Ursache für den Eintritt des Gesundheitsschadens. Entsprechend habe auch das Bundessozialgericht (BSG) in einem ähnlich gelagerten Fall geurteilt.
Hiergegen legte der Kläger am 12.02.2007 Widerspruch ein, zu dessen Begründung seine Bevollmächtigten vortrugen, dass der angegriffene Bescheid zu Unrecht von einer vorsätzlichen Verursachung der Tatbeiträge des Klägers ausgehe. Am Tage des Tatgeschehens habe dieser in erheblichem Maße Alkohol getrunken und zudem Drogen konsumiert. Er habe sich in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit bis zur völligen Schuldunfähigkeit befunden und daher nicht vorsätzlich handeln können. Hinsichtlich der Kompression des Thoraxes über die Dauer von zwölf Minuten habe auch das LG in seinem Urteil festgestellt, dass die Angeklagten vorsätzlich und uneingeschränkt schuldhaft gehandelt hätten. Demgegenüber habe der Kläger keinen gesteuerten Tatbeitrag geliefert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2007 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch zurück.
Am 18.05.2007 hat der Kläger beim Sozialgericht Köln Klage erhoben, welches den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Düsseldorf (SG) verwiesen hat.
Klagebegründend hat der Kläger auf sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, dass mit Durchsetzung der Blutabnahme eine neue Kausalkette wirksam geworden sei, zu der er keinen Kausalbeitrag mehr gesetzt habe, der nicht vorher schon verwirklicht gewesen sei und sich ausgewirkt habe. Die gewaltsame Blutentnahme habe insbesondere unter Berücksichtigung der geringfügigen Straftaten des Klägers zuvor gegen das Übermaßverbot verstoßen. Ursache der Schädigung sei nicht ein alkoholisierter Zustand und das Randalieren des Klägers, sondern die übermäßige Durchsetzung einer medizinisch nicht sofort erforderlichen Blutentnahme.
Der Kläger hat beantragt,
das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 17.01.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2007 zu verurteilen, ihm wegen des Ereignisses am 15./16.11.2004 Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, die angefochtene Entscheidung sei rechtmäßig. Die im Rahmen des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG zu treffende Billigkeitsentscheidung gehe zu Lasten des Klägers aus.
Das SG hat die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten beigezogen und den Beklagten mit Urteil vom 30.05.2008 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger wegen des Ereignisses am 15./16.11.2004 Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG seien gegeben. Er sei ausweislich der strafrechtlichen Beurteilung des LG Opfer eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Auch das Element, Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat gewesen zu sein, gelte als erfüllt. Die Täter seien nur deshalb nicht wegen einer vorsätzlichen Tat bestraft worden, weil sie einem Irrtum darüber erlegen waren, wie weit die Rechtmäßigkeit ihres Handelns reiche. Für einen solchen Fall sehe § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG ausdrücklich die Anwendung der Entschädigungsvorschrift auch dann vor, wenn bezüglich der Tatausführung nur Fahrlässigkeit zum Vorwurf gemacht werden könne. Ein Versagungsgrund gem. § 2 Abs. 1 OEG liege nicht vor. Die Kammer folge der Auffassung des Klägerbevollmächtigten, dass mit dem Betreten der Polizeiwache ein neuer Handlungskomplex eingesetzt habe. Die verschiedenen Tatbeiträge seien nur insoweit zu betrachten. Das vorher Geschehene könne außer Betracht bleiben. In der Gesamtbetrachtung trete der eigene Tatbeitrag des Klägers, sich gegen die Blutentnahme zur Wehr zu setzen, hinter die für den Eintritt des Erfolgs maßgeblichen Tatbeiträge der Täter als unwesentlich zurück. Zwar habe sich der Kläger heftig auch gegen die Blutentnahme selbst gewehrt. Fraglich sei jedoch bereits, ob dem Kläger dieser Tatbeitrag überhaupt zugerechnet werden könne. Die Blutuntersuchung habe ergeben, dass dieser neben dem Konsum von Opiaten und Beruhigungsmitteln auch eine erhebliche Blutalkoholkonzentration aufgewiesen habe. Die Kammer sei der Auffassung, dass er in diesem Zustande nicht mehr schuldfähig gewesen sei. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er sich in einen schuldunfähigen Zustand versetzt habe, um in diesem Straftaten begehen zu können. Demgegenüber stelle sich der Verursachungsbeitrag der verurteilen Straftäter als eindeutig überwiegend und damit allein ursächlich dar. Aufgrund der Schuldunfähigkeit des Klägers zum Zeitpunkt der Blutentnahme seien die Verurteilten alleinige Herren der Handlungsabläufe gewesen. Ihre Überlegenheit in dieser Situation hätten sie aber nicht dazu genutzt, um besonnen vorzugehen. Vielmehr seien sie über das Maß der ihnen zugestandenen möglichen Gewalteinwirkung weit hinausgeschossen.
Gegen das am 18.07.2008 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15.08.2008 Berufung eingelegt. Er trägt vor, das BSG habe sich mit Urteil vom 10.09.1997 (9 RVg 9/95, SozR 3-3800 § 2 Nr. 7), dem ein fast identischer Fall zugrundegelegen habe, dahingehend geäußert, dass zwar ein Anspruch auf Versorgung dem Grunde nach bestehe. Es habe aber weiter ausgeführt, dass schon eine fahrlässige Selbstberauschung nach § 223a StGB i.V.m. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) und (versuchte) Körperverletzung (§ 223 StGB) ausreiche, um eine nach § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG anspruchsbegründende fahrlässige Körperverletzung des Täters (mit Todesfolge) aufzuwiegen im Sinne einer Mitverursachung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative OEG. Die Parallelen zum vorliegenden Fall seien unübersehbar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.05.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17.01.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2007 verurteilt wird, bei ihm einen hypoxischen Hirnschaden als Folge der an ihm am 16.11.2004 verübten Gewalttat anzuerkennen und dem Kläger ab dem 16.11.2004 eine Beschädigtenrente sowie die übrigen nach dem OEG i.V.m. dem BVG zustehenden Versorgungsleistungen nach einem GdS von 100 zu gewähren.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakten des Beklagten und die beigezogenen Akten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG den Bescheid vom 17.01.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2007 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger Versorgungsleistungen nach dem OEG zu gewähren. Allerdings war der Tenor des angefochtenen Urteils antragsgemäß dahingehend neu zu fassen, als der Beklagte zu verurteilen war, bei dem Kläger einen hypoxischen Hirnschaden als Folge der an ihm am 16.11.2004 verübten Gewalttat anzuerkennen und dem Kläger ab dem 16.11.2004 eine Beschädigtenrente sowie die weiteren nach dem OEG i.V.m. dem BVG zustehenden Versorgungsleistungen nach einem GdS von 100 zu gewähren. Bei dem angefochtenen Urteil hat es sich um ein unzulässiges Grundurteil i.S.d. Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 08.08.2001, B 9 VG 1/00 R, Rdn. 24 ff nach juris, Urteil vom 02.10.2008, B 9 VG 2/07 R, Rdn. 12 nach juris) gehandelt. Aus Gründen der Prozessökonomie hat der Senat von einer Zurückverweisung gem. § 159 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an das SG abgesehen.
Richtiger Klagegegner im Berufungsverfahren ist seit dem 01.01.2008 der für den Kläger örtlich zuständige Landschaftsverband Rheinland (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts Urteil des BSG vom 23.04.2009, B 9 VG 1/08 R, juris Rdn. 24 zum OEG; Urteile vom 11.12.2008, B 9 VS 1/08 juris Rdn. 21 ff zum Soldatenversorgungsgesetz und B 9 V 3/07 R, juris Rdnr 22 f zum BVG).
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, auf seinen Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat (Satz 2).
Ein vorsätzlicher rechtswidriger Angriff in diesem Sinne liegt vor. Durch den sechsten Versuch der Blutentnahme ist der Kläger Opfer eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Der Senat folgt insoweit den zutreffenden Feststellungen des LG in dem Urteil vom 07.06.2006 (23 M 6/05 LG Bonn, S 36 ff), wonach der Kläger Opfer einer fahrlässigen Körperverletzung bzw. fahrlässigen Körperverletzung im Amt geworden ist. Zwar fehlt es an einem Vorsatz der Täter, welche sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befanden. Auch insofern folgt der Senat den Feststellungen des LG im o.g. Urteil. Gem. § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG ist die Anwendung der Vorschrift aber nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme vom Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 10.09.1997, 9 RVg 9/95, juris Rdn. 17; Urteil vom 12.02.2003, B 9 VG 2/02 R, juris Rdn. 22) ist das Opfer eines im Erlaubnistatbestandsirrtum und damit nur fahrlässig handelnden Täters nach der besonderen Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG in den Schutzbereich dieses Gesetzes einbezogen. Aufgrund des schädigenden Ereignisses hat der Kläger auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Gesundheitsstörung, nämlich einen hypoxischen Hirnschaden, erlitten. Wahrscheinlich ist ein solcher Ursachenzusammenhang, wenn mehr für als gegen ihn spricht (vgl. BSG, Urteil vom 26.02.1992, 9 a RV 4/91, SozR 3-3200 § 81 Nr. 3). Der Kläger hat infolge des sechsten Versuches zur Blutentnahme einen Herz- und Kreislaufstillstand erlitten. Dieser ist mit Wahrscheinlichkeit auf das schädigende Ereignis zurückzuführen. Auch insofern nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des LG Bonn (a.a.O., S 31 ff) Bezug.
Als weitere Folge des Herz- und Kreislaufstillstandes hat der Kläger einen hypoxischen Hirnschaden erlitten. Dies ergibt sich bereits aus dem zeitnah erstellten Behandlungsbericht des Neurologischen Rehabilitationszentrums F. vom 08.01.2005. Es handelt sich insofern um einen Hirnschaden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung, für den entsprechend der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit - AHP - 2004, 2005, 2008, Nr. 26.3 A bzw. der Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV (Teil B 3.1.1) - ein GdS von 100 anzusetzen ist, da der Kläger infolge der Schädigung als Schwerstpflegefall versorgt und über eine Magensonde ernährt werden muss und nicht ansprechbar ist. Es bestehen - wovon auch die Beteiligten ausgehen - schwerste Leistungsbeeinträchtigungen, so dass es gerechtfertigt ist, den Bewertungsrahmen voll auszuschöpfen.
Einer Versorgung des Klägers steht - entgegen der Auffassung des Beklagten - auch nicht die Vorschrift des § 2 Abs. 1 OEG entgegen. Gem. § 2 Abs. 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat (erste Alternative) oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (zweite Alternative). Eine Mitverursachung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 erste Alternative OEG setzt voraus, dass der Tatbeitrag des Opfers wesentliche Ursache für die Schädigung i.S.d. im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätslehre geworden sein muss. Das bedeutet, dass das Verhalten des Opfers nach Bedeutung und Tragweite für den Eintritt der Schädigung gegenüber den sonstigen Umständen mindestens annähernd gleichwertig sein muss (BSG, Urteil vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R, SozR 3800 § 2 Nr. 9). In diesem Zusammenhang ist tatförderndes Verhalten des Opfers nicht in jedem Fall leistungsausschließend, sondern nur, wenn es schwer wiegt und vorwerfbar ist (BSG, Urteil vom 17.11.1981, 9 RVg 2/81, SozR 3800 § 2 Nr. 3) und von der Rechtsordnung ebenso missbilligt wird, wie der Angriff des Schädigers (BSG, Urteil vom 07.12.1983, 9 a RV 40/82,Soz R 3800 § 2 Nr. 4). Zu vergleichen sind Tatbeitrag des Schädigers und Tatbeitrag des Opfers. Bei dem Vergleich muss von der - nach den Ermittlungen - für das Opfer bzw. die Hinterbliebenen günstigsten denkbaren Fallgestaltung ausgegangen werden (BSG, Urteil vom 10.09.1997, 9 RVg 9/95, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt Unbilligkeit nicht vor. Der Senat folgt insofern nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage den im Wesentlichen zutreffenden Entscheidungsgründen des SG und nimmt auf diese Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Der Senat ist - mit dem SG - der Auffassung, dass der Sachverhalt in unterschiedliche Tatkomplexe aufzuspalten ist. Allerdings geht der Senat mit dem Landgericht Bonn (a.a.O.) davon aus, dass sowohl die Ingewahrsamnahme des Klägers als auch die ersten fünf Versuche der Blutentnahme durch die späteren Täter rechtmäßig waren. Erst der sechste Punktionsversuch, der schließlich zu Atem- und Kreislaufstillstand geführt hat, war aufgrund des vorherigen Ablaufs der Maßnahmen, ihrer Gesamtdauer, der Art und Weise der neuerlichen Fixierung des Klägers sowie ihrer Dauer nicht mehr gerechtfertigt. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich der Kläger dem Gewahrsam nach Fesselung an Händen und Füßen auf dem Liegegestell nicht mehr entziehen. Er war den Handlungen der Polizeibeamten und des Arztes letztlich hilflos ausgesetzt. Zwar hat er sich auch der sechsten Blutentnahme allem Anschein nach noch widersetzt. Zu berücksichtigen ist insofern jedoch, dass er aufgrund des vorangegangen Alkohol- und Drogenkonsums zumindest nur eingeschränkt schuldfähig war. Darüber hinaus ergibt sich aus den im Strafverfahren eingeholten rechtsmedizinischen Gutachten und Stellungnahmen, dass die Abwehrhandlungen des Klägers ihren Grund auch darin gehabt haben können, dass dieser aufgrund der Fesselung in Bauchlage, des vorherigen Alkohol- und Drogenkonsums sowie seiner hochgradigen Erregung unter mangelnder Sauerstoffversorgung litt. Dies ergibt sich bereits aus dem Merkblatt des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen zum "Positional Asphyxia" Phänomen. Insofern ist es überwiegend wahrscheinlich, dass der durch den Kläger geleistete Widerstand nicht mehr willensgesteuert war. Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine konkrete Gefahr von dem Kläger zum Zeitpunkt der sechsten Blutentnahme nicht mehr ausging, dass die Blutentnahme aufgrund seiner schlechten Venen ohnehin problematisch und bereits fünfmal erfolglos war, dass Dauer, Art und Weise der neuerlichen Fixierung des Klägers mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für diesen verbunden war und dass die Täter diese gesundheitlichen Risiken hätten erkennen können. Darüber hinaus ist aufgrund der Feststellungen im Strafverfahren auch davon auszugehen, dass die Entnahme einer verwertbaren Blutprobe zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich gewesen wäre, so dass sich bei einem entsprechenden Zuwarten die Probleme der Blutentnahme aufgrund der Gegenwehr des Klägers und die damit verbundenen Risiken mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten vermeiden lassen. Bei dieser Sachlage geht der Senat davon aus, dass der Tatbeitrag des Klägers nicht als wesentliche Ursache für die Schädigung im Sinne einer Mitverursachung angesehen werden kann und hinter demjenigen der Täter zurücktritt.
Der Versagungsgrund der Unbilligkeit gem. § 2 Abs. 1 zweite Alternative OEG scheidet ebenfalls aus. Unbilligkeit ist dann anzunehmen, wenn die Eigenarten des Einzelfalles eine staatliche Hilfe nach den allgemeinen Vorschriften des § 1 OEG i.V.m. den maßgeblichen Vorschriften des BVG als sinnwidrig und damit ungerecht bewerten ließen (BSG, Urteil vom 07.11.1979, 9 RVg 2/78, SozR 3800 § 2 Nr. 1). Soweit das Opfer die Schwelle der Mitverursachung nicht erreicht, kann Unbilligkeit nur bei sonstigen, zusätzlichen Gründen erreicht werden (BSG, Urteil vom 15.08.1996, 9 RVg 6/94, SozR 3800 § 2 Nr. 5). An entsprechenden zusätzlichen Gründen fehlt es vorliegend. Abzustellen ist auf die Gesamtumstände des sechsten Versuchs der Blutentnahme. Insofern kann der Widerstand des Klägers gegen seine Festnahme nicht berücksichtigt werden. Der vorliegende Sachverhalt ist zur Überzeugung des Senats und entgegen der durch den Beklagten vertretenen Rechtsaufassung auch nicht mit dem durch das BSG mit Urteil vom 10.09.1997 (9 RVg 9/95, a.a.O.) entschiedenen Sachverhalt vergleichbar. Denn im vorliegenden Falle war die Ingewahrsamnahme des Klägers zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses bereits abgeschlossen. Eine Gefahr für sich oder Andere ging von ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) sind nicht gegeben.