Bayerisches Landessozialgericht - Az.: L 10 B 11/06 AS ER - Beschluss vom 16.11.2005
Weder aus dem Beschluss des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes vom 29.04.1999 - 12 CE 98.2658 noch aus der gesetzlichen Regelung oder aus verfassungsrechtlichen Gründen ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Begriff der Angemessenheit bei den Leistungsempfängern, die bereits eine bestimmte Wohnung bewohnen, anders zu bewerten ist als bei Leistungsempfängern, die während des Leistungsbezugs umziehen.
Gründe:
I.
Streitig ist die Übernahme der angemessenen Kosten für die Unterkunft gemäß
§ 22 Abs 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1963 geborene Antragstellerin (ASt) bewohnte eine 39 qm große
Einzimmerwohnung (Miete 270,00 EUR zuzüglich 100,00 EUR Nebenkosten). Sie bezog
unter Berücksichtigung eigenen Einkommens Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes von der Antragsgegnerin (Ag), wobei Leistungen für die
Unterkunft in Höhe von 334,85 EUR und Heizungskosten in Höhe von 29,60 EUR als
angemessen angesehen worden waren.
Am 05.07.2005 stellte sie einen Kurzantrag auf Fortzahlung von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes. Nach ihrer Scheidung am 18.03.2005 teilte sie
am 18.07.2005 der Ag mit, ihr sei mit Schreiben vom 05.07.2005 vom Vermieter
fristlos zum 19.07.2005 die Wohnung gekündigt worden. Die Ag erbat von der ASt
bis Ende Juni über den neuen Wohnort informiert zu werden. Am 20.07.2005
schloss die ASt einen Mietvertrag über eine 49 qm große Zweizimmerwohnung ab
01.08.2005 zu einem Gesamtpreis in Höhe von 395,00 EUR (315,00 EUR Grundmiete,
80,00 EUR Nebenkosten, 630,00 EUR Kaution) und übersandte diesen Mietvertrag
der Ag.
Mit Bescheid vom 15.08.2005 bewilligte die Ag Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes für Juli 2005 unter Berücksichtigung der bisher für
angemessen gehaltenen Unterkunftskosten für die gekündigte Wohnung und ab
August 2005 bis Dezember 2005 unter Berücksichtigung von Mietkosten inkl.
Nebenkosten in Höhe von 218,00 EUR zuzüglich Heizungskosten. Die reinen
Unterkunftskosten der neu angemieteten Wohnung in Höhe von 348,45 EUR inkl.
Nebenkosten zuzüglich Heizungskosten seien unangemessen hoch. Eine Zusicherung
nach § 22 Abs 2 SGB II sei nicht eingeholt bzw. erteilt worden. Die Kaution
werde auch nicht übernommen.
Hiergegen legte die ASt am 29.08.2005 Widerspruch ein, über den noch nicht
entschieden worden ist.
Am 10.10.2005 hat die ASt den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim
Sozialgericht Nürnberg (SG) beantragt. Sie leide an einer schweren
psychosomatischen Erkrankung.
Mit Beschluss vom 16.01.2005 hat das SG die Ag verpflichtet, ab 01.10.2005
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung von
Gesamtaufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 395,00 EUR zu gewähren.
Nachdem bis Juli 2005 eine Gesamtmiete von 385,00 EUR von der Ag für angemessen
gehalten worden sei, seien auch die nunmehr entstehenden Aufwendungen in Höhe
von 395,00 EUR noch als angemessen anzusehen, insbesondere nachdem für die ASt
eine Notsituation bestanden habe und ihr ein erneuter Umzug nicht schon wieder
zugemutet werden könne.
Die dagegen beim Bayer. Landessozialgericht eingelegte Beschwerde hat die Ag
damit begründet, es bestehe keine Gefahr, dass die ASt vom Verlust dieser
Wohnung bedroht sei. Wegen der angespannten Wohnungssituation in E. werde ein Überschreiten
der noch als angemessen anzusehenden Miete inkl. Nebenkosten zuzüglich
Heizungskosten in Höhe von 300,00 EUR um 10 % bei Leistungsempfängern
toleriert, die bereits bei Beginn des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II in
dieser Wohnung wohnten. Nachdem die ASt auf Grund einer Notsituation umziehen
musste, aber die Zusicherung gemäß § 22 Abs 2 SGB II nicht erteilt werden
konnte, sei als angemessene Miete lediglich ein Betrag von 218,00 EUR (inkl.
Nebenkosten ohne Heizungskosten) laut der Rechtsprechung des Bayer.
Verwaltungsgerichtshofes anzusehen, zumal es die ASt versäumt habe, die Ag
rechtzeitig von der Kündigung der bisherigen Wohnung zu informieren und für
die ASt auch die Möglichkeit bestanden habe zumindest für vorübergehend eine
Obdachlosenunterkunft bzw. ein Frauenhaus aufzusuchen oder in ein Hotel zu
ziehen, bis eine günstigere Wohnung hätte gefunden werden können. Im Übrigen
könne sie auch untervermieten. Die Ag hat die hierzu ergangene Weisung 79/04 übersandt,
auf die zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen wird. Hiernach ist bei
einer Anmietung einer Wohnung während des Leistungsbezuges nicht ein Betrag von
300,00 EUR zuzüglich Heizungskosten, sondern lediglich von 218,00 EUR zuzüglich
Heizungskosten als angemessen anzusehen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie
die Gerichtsakte erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173
Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig. Das SG hat ihr nicht abgeholfen (§
174 SGG). Die Beschwerde ist auch zum Teil begründet.
Nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Frage der Kaution. Die Übernahme
der Kaution hat die ASt im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht
- mehr - beantragt. Allerdings wird die Ag im Rahmen des noch laufenden
Widerspruchsverfahrens zu prüfen haben, ob der Antrag auf Übernahme der
Kaution evtl. bereits bei der Vorsprache am 18.07.2005 gestellt worden ist. Außerdem
hat sich die Klägerin in einer Notsituation befunden.
Der Beschluss des SG ist insoweit aufzuheben, als die Ag zu Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes ab 01.10.2005 in Höhe von 395,00 EUR
verpflichtet worden ist. Die Ag durfte im Rahmen des einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens lediglich zu Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung
von Aufwendungen für die Wohnung inkl. Nebenkosten in Höhe von 300,00 EUR zuzüglich
Heizungskosten allein für den Monat Dezember 2005 verpflichtet werden. Im Übrigen
muss der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt werden.
Gemäß § 86 b Abs 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes im Zuge eines streitigen Rechtsverhältnisses zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint
(sog. Regelungsanordnung). Vorliegend handelt es sich um eine
Regelungsanordnung, denn die ASt begehrt die vorläufige Gewährung von
Leistungen.
Eine Regelungsanordnung im Sinne des § 86 b Abs 2 Satz 2 SGG setzt sowohl einen
Anordnungsgrund (Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten
auf eine Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist), als auch einen
Anordnungsanspruch (materielles Recht für das einstweiliger Rechtsschutz
geltend gemacht wird) voraus, wobei zwischen Anordnungsgrund und
Anordnungsanspruch eine Wechselbeziehung besteht. An das Vorliegen des
Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei
summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache
sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage
offensichtlich unzulässig oder mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet,
so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen
Anordnung abzulehnen. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu
machen (§§ 86 b Abs 2 Satz 4 SGG, 920 Abs 2, 294 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Vorliegend ist ein teilweises Obsiegen der ASt in der Hauptsache sehr
wahrscheinlich. Gemäß § 22 Abs 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und
Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese
angemessen sind. Die Ag hält die Kosten für Unterkunft inkl. Nebenkosten zuzüglich
Heizungskosten in Höhe von 300,00 EUR für angemessen. Allerdings geht sie
davon aus, dass dieser Wert nur bei Leistungsempfängern anzuwenden ist, die
beim Beginn des Leistungsbezuges bereits in der entsprechenden Wohnung wohnen.
Hierbei wird von der Ag eine um 10 % höhere Miete noch toleriert. Bei
Leistungsempfängern, die während des Leistungsbezuges umziehen, will die Ag
jedoch aus dem Beschluss des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes vom 29.04.1999 - 12
CE 98.2658 - einen anderen Begriff der Angemessenheit entnehmen. Weder dieser
Beschluss noch die gesetzliche Regelung oder aus verfassungsrechtlichen Gründen
ergeben sich jedoch Anhaltspunkte dafür, dass der Begriff der Angemessenheit
bei den Leistungsempfängern, die bereits eine bestimmte Wohnung bewohnen,
anders zu bewerten ist als bei Leistungsempfängern, die während des
Leistungsbezugs umziehen. Gegebenenfalls mag die Ag den Begriff der angemessenen
Kosten zu Unrecht auf 300,00 EUR bei denjenigen Leistungsempfängern, die
bereits bei Leistungsbeginn eine Wohnung bewohnen, festgelegt haben. Hierfür
mag der Beschluss des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes konkrete Hinweise geben. Für
die Möglichkeit einer unterschiedlichen Behandlung gegenüber Leistungsempfängern,
die während des Leistungsbezuges umziehen, finden sich jedoch darin keine
Hinweise. Damit hat auch die ASt Anspruch darauf, dass eine Wohnung bis 300,00
EUR inkl. Nebenkosten noch als angemessen angesehen wird.
Die darüber hinausgehenden Aufwendungen für die Wohnung inkl. Nebenkosten in Höhe
von 48,45 EUR hat die Ag nicht zu berücksichtigen. Diese Kosten sind
unangemessen. Insbesondere ist bislang nicht von der ASt dargelegt worden, dass
ihr kein günstigerer Wohnraum zur Verfügung gestanden habe. Auf einen
Aufenthalt in einer Obdachlosenunterkunft bzw. im Frauenhaus kann die ASt auch
nicht verwiesen werden.
Die vor Abschluss des Mietvertrages von der ASt nicht eingeholte Zusicherung gemäß
§ 22 Abs 2 SGB II hindert eine Übernahme der angemessenen Kosten für die
Unterkunft durch die Ag nicht. Diese Zusicherung soll lediglich zum Schutze der
Leistungsempfänger dienen.
Nachdem somit ein zumindest teilweises Obsiegen der ASt sehr wahrscheinlich ist,
sind an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nur geringe Anforderungen zu
stellen. Ein solcher kann bereits darin gesehen werden, dass die Klägerin evtl.
die Kosten für die Unterkunft nicht aufbringen kann, und von daher Reaktionen
des Vermieters zu befürchten sind.
Nachdem jedoch der Bescheid vom 15.08.2005 Leistungen lediglich bis 31.12.2005
bewilligt hat, hat die Ag auch lediglich bis zu diesem Zeitpunkt im Rahmen des
einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die erhöhten Unterkunftskosten zu tragen.
Soweit die ASt allerdings Leistungsansprüche für zurückliegende Zeiträume
geltend macht - nämlich die höheren Mietkosten für Oktober und November 2005
-, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Maßgeblicher Zeitpunkt für die
Beurteilung des Anordnungsgrundes, also die Eilbedürftigkeit der Sache, ist in
jeder Lage des Verfahrens, insbesondere also noch im Beschwerdeverfahren, der
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Ist die Sache zu diesem Zeitpunkt
nicht im o.g. Sinne dringlich, so kann eine einstweilige Anordnung nicht (mehr)
ergehen. Mithin ist es die ständige Rechtsprechung auch des erkennenden
Senates, dass vorläufige Regelungen von Leistungsansprüchen, die abgelaufende
Bewilligungszeiträume betreffen, regelmäßig nicht mehr nötig sind, um
wesentliche Nachteile abzuwenden. Für solche Zahlungsverpflichtungen kann die
ASt hinreichenden Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren suchen. Hinsichtlich
der Miete für Oktober und November 2005 handelt es sich spätestens im
Zeitpunkt des Beschlusses des Sozialgerichtes vom 16.11.2005 um bereits
abgeschlossene Zeiträume. Die Leistungen für diese beiden Monate sind bereits
gewährt worden und die Miete - auch für November 2005 - ist bereits gezahlt
worden.
Nach alledem ist der Beschluss des SG Nürnberg sowohl hinsichtlich der Höhe
als auch hinsichtlich des Zeitraumes, für den die Beklagte zur höheren
Leistungsgewährung verpflichtet wurde, abzuändern. Die Ag hat allein für den
Monat Dezember 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung
von Unterkunftskosten inkl. Nebenkosten in Höhe von 300,00 EUR vorläufig zu
erbringen. Im Übrigen ist der Antrag der ASt auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung abzulehnen gewesen. Die Beschwerde der Ag mit dem Begehren, den Antrag
der ASt vollständig abzuweisen, hat nur teilweise Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf die entsprechende Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).