Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 10 SB 112/04 - Urteil vom 27.08.2008
Die Aufzählung der Funktionsbeeinträchtigungen in § 146 SGB IX - hirnorganische Anfälle und Störung der Orientierungsfähigkeit -, die die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr rechtfertigen, ohne dass die Gehfähigkeit tatsächlich betroffen ist, ist abschließend. Als nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt gelten daher psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nur mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergeht, z.B. mit Verstimmungen, Antriebsminderung und Angstzuständen, ohne dass relevante Störungen der Orientierungsfähigkeit bestehen. Diese Beeinträchtigungen sind auch nicht "Anfällen" gleichzusetzen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - G -" und "Notwendigkeit ständiger Begleitung - B -".
Die am ..... 1958 geborene Klägerin beantragte am 18.06.2002 erstmals, bei ihr den Grad der Behinderung (GdB) sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G und B festzustellen. Das Versorgungsamt Dortmund zog daraufhin medizinische Unterlagen der behandelnden Ärzte bei und setzte nach deren Auswertung den GdB für die bei der Klägerin vorliegende Teilhabebeeinträchtigung mit dem angefochtenen Bescheid vom 19.08.2002 auf 30 fest. Folgende Funktionsstörungen lagen der Entscheidung zugrunde: Sehnerv- und Gesichtsnervlähmung mit einem GdB von jeweils 20 sowie Polyneuropathie, Seelenleiden, Bluthochdruck, Wirbelsäulensyndrom und ein Hautleiden mit einem GdB von jeweils 10. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G und B lägen bereits deswegen nicht vor, weil die Klägerin nicht schwerbehindert sei.
Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass aufgrund ihrer Schmerzen die Dosierung der Schmerzmittel (Trileptal, Anafranil und Neurotral 3 Mal/Tag) sehr hoch sei. Das führe dazu, dass sie nicht allein aus dem Haus gehen könne und ständig auf Hilfe Anderer angewiesen sei. Nach ergänzender versorgungsärztlicher Stellungnahme wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2002 zurück.
Mit der dagegen gerichteten Klage begehrt die Klägerin, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G und B festzustellen. Bezüglich des zunächst ebenfalls strittigen GdB hat das Land nach Auswertung der vom Sozialgericht eingeholten Gutachten angeboten, einen GdB von 50 anzuerkennen; die Klägerin hat dieses Regelungsangebot angenommen.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 19.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2002 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - G -" und "Notwendigkeit ständiger Begleitung - B -" ab Juni 2002 festzustellen.
Das beklagte Land hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hat die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für die begehrten Nachteilsausgleiche nicht vorlägen.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat Beweis erhoben durch Einholung medizinischer Sachverständigengutachten vom Arzt für Innere Medizin Dr. G. und vom Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Z. Anschließend hat es mit Urteil vom 29.10.2004 das damals noch beklagte Land unter Abänderung der Bescheide vom 19.08.2002 und 16.10.2002 verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr - G -" und "Notwendigkeit ständiger Begleitung - B -" ab Juni 2002 festzustellen. Die Klägerin sei dem anspruchsberechtigten Personenkreis zuzuordnen, denn sie sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, weil eine Einschränkung des Gehvermögens aufgrund von Störungen der Orientierungsfähigkeit vorliege und sie nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen könne, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Das stehe aufgrund des Sachverständigengutachtens von Dr. Z. zur Überzeugung der Kammer fest. Dabei sei zu beachten, dass die nach Absatz 5 der Nr. 30 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) (fortan: AHP) vorgegebenen Bewertungen den vorliegenden Fall nicht hinreichend berücksichtigten. Es handele sich bei der Klägerin aus neurologisch-psychiatrischer Sicht um medikamentenbedingte Orientierungsstörungen. Aus rein internistischer Sicht seien ihre Orientierungsstörungen aufgrund der vorliegenden Erkrankungen nicht zu erklären. Die Auswirkungen der erforderlichen Medikamenteneinnahme seien so umfassend, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, zu Fuß Wegstrecken bis zwei Kilometer ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere in circa 30 Minuten zurückzulegen, denn es bestehe eine starke Gangunsicherheit und Verlangsamung des Gehens. Die Klägerin könne die Medikamente auch nicht absetzen. Das ergebe sich nicht zuletzt auch aus dem Entlassungsbericht der B.-Klinik in HBM über ein Rehabilitationsverfahren von Dezember 2003 bis Januar 2004. Danach könnten die bei der Klägerin vorliegenden Leiden ausschließlich medikamentös beeinflusst werden. Eine Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit komme auch bei besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht, so dass auch das Vorliegen eines GdB von lediglich 50 ausreichen könne. Die Klägerin habe auch einen Anspruch auf Anerkennung der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich B. Nach § 146 Abs. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sei ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen notwendig, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen seien. Diese in Nr. 30 AHP näher definierten Voraussetzungen stellten auch auf Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen ab. Die vom Sachverständigen Dr. Z. dargelegten Gefahren beim Ein- und Aussteigen und auch während der Fahrt infolge von Gleichgewichtsstörungen wiesen eindeutig darauf hin, dass bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ständige Begleitung erforderlich sei.
Mit der hiergegen gerichteten Berufung begehrt die Beklagte die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und die Abweisung der Klage. Sie hält die vom SG herangezogenen Argumente für eine Gleichstellung der Klägerin mit den in den AHP ausdrücklich genannten Personenkreisen und damit die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs G für nicht überzeugend. Hinsichtlich des Nachteilsausgleichs B fehle im Urteil zudem eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Nr. 32 der AHP. Der Schweregrad der Behinderungen der Klägerin in seinen funktionellen Auswirkungen auf ihre Sicherheit und die Dritter sei nicht vergleichbar mit demjenigen von Querschnittsgelähmten, Ohnhändern und Blinden, die in den AHP ausdrücklich erwähnt würden. Bei einem Anfallsleiden müsse eine mittlere Anfallshäufigkeit vorliegen, um die Voraussetzungen der begehrten Nachteilsausgleiche zu erfüllen, denn nur in diesem Fall käme ein GdB von 70 für diese Leiden in Betracht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Dortmund vom 29.10.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 29.10.2004 zurückzuweisen.
Zur Begründung nimmt sie auf ihr Vorbringen in erster Instanz sowie auf das erstinstanzliche Urteil Bezug.
Der Senat hat Befund- und Behandlungsberichte des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M. und des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. L. sowie die medizinischen Unterlagen der Rentenakte der Klägerin beigezogen und eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. G. aus erster Instanz nach erneuter Untersuchung der Klägerin eingeholt. Anschließend hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung nervenfachärztlicher Gutachten von Dr. K. vom 20.06.2005 sowie von Dr. V. vom 18.10.2005 und vom 02.04.2007 nebst ergänzender Stellungnahmen vom 17.08.2007 und vom 31.03.2008. Ferner hat der Senat auf Antrag der Klägerin ein nervenfachärztliches Gutachten von Dr. S., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 05.12.2006 nebst ergänzender Stellungnahme vom 02.01.2008 eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsvorgänge der Beklagten betreffend die Klägerin sowie die medizinischen Unterlagen aus der Rentenakte der Klägerin Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die statthafte und auch im übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.
Die Klägerin hat ihre Klage zutreffend zunächst gegen das Land NRW gerichtet. Entsprechend war im Berufungsverfahren zunächst das Land Berufungskläger. Infolge von Artikel 1 des Gesetzes zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (VersAEinglG) des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen (Straffungsgesetz) vom 30.10.2007 (GV. NRW S. 482) ist jedoch ein Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes eingetreten. Berufungsbeklagte ist seit dem 01.01.2008 nicht mehr das Land NRW, sondern die Stadt Dortmund (vgl. Urteil des Senats vom 05.03.2008 - L 10 SB 40/06 -). Ihr wurden von der Stadt Bochum, dem Wohnort der Klägerin, die Feststellungsverfahren nach den §§ 69, 145 SGB IX zur Durchführung im eigenen Namen übertragen.
Die Klägerin wird durch den Bescheid vom 19.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.10.2002 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Sie hat keinen Anspruch darauf, dass bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G und B festgestellt werden.
Gemäß § 146 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (ob durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Eine übliche Wegstrecke ist eine solche von 2 km, die bei normalem Gehtempo (ca. 4 km/h) in etwa 30 Minuten zurückgelegt wird (BSG, Urteile vom 13.08.1997 - 9 Rvs 1/96 - und vom 27.08.1998 - B 9 SB 13/97 R -).
Nach Nr. 30 Abs. 3 bis 5 der AHP, denen im Interesse einer objektiven und objektivierbaren Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist (BSG, Urteil vom 11.10.1994 - 9 RVs 1/39 -, SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 5), sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, des Knie- und Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen bei dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen. Bei hirnorganischen Anfällen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, sind bei allen Sehbehinderungen mit einem GdB von wenigstens 70, bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Bei geistig Behinderten sind entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn die behinderten Menschen sich im Straßenverkehr auf Wegen, die sie nicht alltäglich benutzen, nur schwer zurecht finden können. Unter diesen Umständen ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei geistigen Behinderungen mit einem GdB um 100 immer und mit einem GdB um 80 oder 90 in den meisten Fällen zu bejahen. Bei einem GdB unter 80 kommt eine solche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit nur in besonders gelagerten Einzelfällen in Betracht (zu diesen Regelfällen vgl. BSG, Urteil vom 13.08.1997 - 9 RVs 1/96 -; Urteil des Senats vom 17.01.2007 - L 10 SB 101/03 -).
1. Gesundheitsstörungen am Stütz- und Bewegungsapparat, die ihr Gehvermögen derart einschränken, dass sie nicht in der Lage ist, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, d.h. Wegstrecken von 2 km bei normalem Gehtempo (ca. 4 km/h) in etwa 30 Minuten, bestehen bei der Klägerin nicht. Denn es liegen weder sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule vor, die für sich einen GdB von 50 bedingen und die deshalb dazu führen, dass die Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erfüllt angesehen werden, noch bestehen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkende Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen oder Lendenwirbelsäule mit einem GdB von 40.
2. Ebenso wenig liegen internistische Leiden vor, welche die körperliche Leistungsfähigkeit in dem in den AHP Nr. 30 Abs. 3 vorgegebenen Ausmaß dauernd schwer beeinträchtigen. Weder dem internistischen Gutachten des Sachverständigen G. noch den ärztlichen Berichten und Krankengeschichten lassen sich dafür Anhaltspunkte entnehmen. Nach den Untersuchungen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen G. besteht bei der Klägerin vielmehr kardiologisch ein Normalbefund. Lediglich die hypotone Kreislaufstörung ist nach Nr. 26.9 AHP wegen der geringen Leistungsbeeinträchtigung mit einem GdB von 10 zu bewerten.
3. Die Vorgaben der AHP Nr. 30 Abs. 4 erfüllt die Klägerin ebenfalls nicht. Denn es liegt kein hirnorganisches, insbesondere epileptisches Anfallsleiden vor.
Entgegen der Auffassung des Sachverständigen S., des SG und der Klägerin rechtfertigen die Nebenwirkungen (insbesondere der Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Konzentrationsstörungen etc.) ihrer wegen der Trigeminusneuralgie unvermeidbaren Medikamenteneinnahme keine analoge Anwendung von Nr. 30 Abs. 4 AHP. Bei dem dort ausdrücklich bezüglich einer entsprechenden Anwendung aufgeführten Diabetes mellitus mit häufigen hypoglykämischen Schocks ist erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr zu schließen, wenn die Anfälle zudem überwiegend am Tage auftreten. Eine mittlere Anfallshäufigkeit ist nach den AHP Nr. 30 Abs. 4 i.V.m. der Nr. 26.3 bei generalisierten (großen) und komplex-fokalen Anfällen mit Pausen von Wochen, bei kleinen und einfach-fokalen Anfällen mit Pausen von Tagen gegeben.
Unter "Anfällen" in dieser Häufigkeit leidet die Klägerin nicht. Sie selbst hat in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Senats vielmehr angegeben, beispielsweise 2008 nur zwei Mal gestürzt zu sein. Die Pausen zwischen den Anfällen betragen somit weder - wie bei kleinen und einfach-fokalen Anfällen erforderlich - Tage noch - wie bei generalisierten (großen) und komplex-fokalen Anfällen erforderlich - Wochen, sondern Monate.
Auch der Sachverständige S., der eine Gleichstellung bejaht, erkennt offenbar die insoweit bestehenden Probleme. Er vergleicht daher die Zahl der mehrmals am Tag bei der Klägerin auftretenden Schmerzanfälle mit der in Nr. 30.4 AHP geforderten Häufigkeit der hirnorganischen Anfällen. Das überzeugt nicht, weil er ebensowenig wie die Klägerin selbst akute Schmerzanfälle für die Einschränkung der Gehfähigkeit verantwortlich macht, sondern die dauerhaft vorliegenden Nebenwirkungen der Medikamente gegen die Gesichtsnervenschmerzen.
Soweit die Klägerin - bestätigt vom Sachverständigen S. - vorträgt, regelmäßig beim Gehen zu Taumel und Fallen zu neigen, rechtfertigt auch dies keine Gleichstellung mit den in Nr. 30.4 AHP genannten Personen. Im Gegensatz zu den dort ausdrücklich aufgeführten epileptischen Anfällen erlauben es die Beschwerden der Klägerin noch, Vorsichtsmaßnahmen in Gestalt der Nutzung eines Rollators, des sich Abstützens an Dingen oder Personen, des rechtzeitig Hinsetzens etc. zu ergreifen und so Stürze zumindest in den meisten Fällen zu vermeiden. Das ist bei dem mit einem epileptischen Anfall verbundenen Bewusstseinsverlust nicht möglich. Mit Anfällen im Sinne des Ziff. 30 Abs. 4 AHP Leben sind daher nur hirnorganische Anfälle vergleichbar, insbesondere epileptische Anfälle, aber auch hypoglykämische Schocks bei Zuckerkranken, also Anfälle, die mit Bewusstseinsverlust und Sturzgefahr verbunden sind (BSG, Beschluss vom 10.05.1994 - 9 BVs 45/93 -; LSG Saarland, Urteil vom 06.11.2007 - L 5 SB 72/06 70 -; Urteil des Senats vom 17.01.2007 - L 10 SB 101/03 -).
Im Übrigen steht nach der Beweisaufnahme fest, dass die Klägerin zumindest nicht dauerhaft an den von ihr geklagten Beschwerden wie Schwindel, Tremor, Benommenheit, Verwirrtheit, Desorientiertheit, Konzentrationsstörungen, verschwommenes Sehen, Schwindel, Koordinationsstörungen, Müdigkeit, Trunkenheitsgefühl, Gangstörungen und Angst leidet. Zwar sind die von der Klägerin geklagten Beschwerden ausweislich der zu den Akten gereichten Medikamentenzettel nicht selten Nebenwirkungen der von ihr genommenen Medikamente Afranil 75 mg, Ramipril AAA 5 mg sowie Lyrica 150 mg. Die Sachverständigen G., K. und V. konnten jedoch die von der Klägerin geklagten Beschwerden bei fünf Begutachtungsterminen nicht feststellen. Soweit die Klägerin diesen Umstand wiederholt damit erklärt, sie habe bei den Untersuchungen einen "guten Tag" gehabt, steht auch das dem geltend gemachten Anspruch entgegen. Träfe das zu, so fehlte es an einer dauerhaften erheblichen Beeinträchtigung der Gehfähigkeit der Klägerin und somit an der Vergleichbarkeit mit den in Nr. 30.4 AHP ausdrücklich erwähnten hirnorganischen Anfällen mit zumindest mittlerer Anfallshäufigkeit.
Zudem ist dem Sachverständigen K. in seiner Auffassung zu folgen, dass die von der Klägerin angegebenen Beschwerden beim Gehen jeden Tag aufträten, wären sie tatsächlich im Wesentlichen auf die regelmäßige Medikamenteneinnahme zurückzuführen. Die von der Klägerin zumindest zugestandenen "guten Tage" sprechen hingegen dafür, dass der Schwindel, die Gangunsicherheit etc. (wesentlich) psychisch (mit-) bedingt sind. Der Abschlussbericht der Brunnen Klinik in HBM, in der die Klägerin Ende 2003/Anfang 2004 vier Wochen lang und damit deutlich länger als bei einem einzelnen Begutachtungstermin beobachtet werden konnte, geht insoweit davon aus, dass die Angststörungen der Klägerin überwiegende Ursache bilden. Diese Ansicht bestätigen überzeugend die Sachverständigen K. und V. in ihren Gutachten und Stellungnahmen. Für sie streitet auch, dass kein Sachverständiger wesentliche Gangunsicherheiten bei der Klägerin feststellen konnte. Selbst der Sachverständige S. beschreibt das Gangbild als lediglich "etwas schlurfend unsicher". Schließlich sprechen auch Tonus und Ausprägung der Muskulatur der unteren Extremitäten der Klägerin sowie die Fußsohlenbeschwielung gegen das von ihr vorgetragene Verhalten, das Gehen längerer Gehstrecken vermeiden zu müssen. Da alle Sachverständigen die strittigen Gehstörungen der Klägerin zumindest durch ihre psychischen Leiden als wesentlich mitverursacht ansehen, steht auch dieser Umstand einer analogen Anwendung von Nr. 30.4 AHP entgegen. Die Aufzählung der Funktionsbeeinträchtigungen in § 146 SGB IX, hirnorganische Anfälle und Störung der Orientierungsfähigkeit, die die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr rechtfertigen, ohne dass die Gehfähigkeit tatsächlich betroffen ist, ist nämlich abschließend (BSG, Beschluss vom 10.5.1994 - 9 BVs 45/93 -). Als nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt gelten daher psychisch erkrankte Personen wie die Klägerin, deren Leiden nur mit sonstigen Beeinträchtigungen oder Störungen einhergeht, z.B. mit Verstimmungen, Antriebsminderung und Angstzuständen, ohne dass relevante Störungen der Orientierungsfähigkeit bestehen. Diese Beeinträchtigungen sind auch nicht "Anfällen" gleichzusetzen (BSG, Beschluss vom 10.5.1994 - 9 BVs 45/93 -).
4. Es liegen auch keine Störungen der Orientierungsfähigkeit vor, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen. Nach den in den AHP Nr. 30 Abs. 5 aufgeführten Regelbeispielen ist eine solche Störung der Orientierungsfähigkeit anzunehmen nicht nur bei einer Sehbehinderung mit einem GdB von wenigstens 70 sondern auch bei einer Sehbehinderung mit einem GdB von 50-60 in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. eine geistige Behinderung). Diese Voraussetzungen sind schon deshalb nicht erfüllt, weil die Sehminderung der Klägerin lediglich einen GdB von 20 bedingt. Gegen diese Einschätzung hat die Klägerin weder im Verwaltungs- noch Gerichtsverfahren Einwände erhoben.
Entgegen der Auffassung der Klägerin sind die Nebenwirkungen (insbesondere die Orientierungsstörungen, Konzentrationsstörungen etc.) ihrer wegen der Trigeminusneuralgie unvermeidbaren Medikamenteneinnahme nicht vergleichbar mit Orientierungsstörungen aufgrund psychischer Leiden. Zwar sind auch die Sachverständigen Z. und S. dieser Ansicht, sie beachten jedoch nicht, dass die AHP für diese Fallgestaltung zusätzlich einen GdB von 100 fordern, der nach keinem der eingeholten Gutachten vorliegt und den bestandskräftig festgestellten GdB von 50 bei weitem übersteigt. Zudem haben die Sachverständigen G., K. und V. Orientierungsstörungen bei der Klägerin bei fünf Begutachtungsterminen nicht feststellen können. Die Klägerin hat dies wiederholt damit zu erklären versucht, dass sie an diesen Untersuchungstagen in guter Verfassung gewesen sei. Selbst wenn das zuträfe, lägen keine dauerhaften Störungen der Orientierungsfähigkeit vor. Eine Vergleichbarkeit mit den in Nr. 30.5 AHP aufgeführten dauerhaft schwerst seh- oder geistig Behinderten Personen wäre nicht gegeben. Zudem stellt sich auch hier das Problem, dass nach keinem Gutachten die Medikamentennebenwirkungen von den keine Gleichstellung rechtfertigenden Auswirkungen der Angststörungen der Klägerin abgegrenzt werden können.
5. Aus diesen Gründen ist auch nicht im Wege einer Gesamtschau die Annahme zu rechtfertigen, die Bewegungsfähigkeit der Klägerin im Straßenverkehr sei erheblich im Sinne des § 146 Abs. 1 SGB IX beeinträchtigt.
Die Voraussetzungen für das Merkzeichen B liegen bereits deshalb nicht vor, weil der Klägerin weder der Nachteilsausgleich G noch H zusteht (Nr. 32.2 AHP).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).