LSG B-BR - L 11 SB 1021/05 - Urteil vom 08.06.2006
Auch wenn kein Regelfall i.S.d. Nr. 30 Abs. 3 ff AHP vorliegt, kann eine erhebliche Gehbehinderung festzustellen sein. Bei der vergleichenden Betrachtung mit den Regelfällen kann sich nämlich ein Leidenzustand ergeben, der dem der Regelfälle entspricht. Dabei kann dann auch berücksichtigt werden, dass die inneren und orthopädischen Leiden so von einer - an sich keine Behinderung darstellenden - Adipositas per magna verstärkt werden, dass in der Gesamtschau eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin das Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung) beanspruchen kann.
Der 1941 geborenen Klägerin war bereits durch Bescheid vom 31. Januar 1996 wegen insulinpflichtigem Diabetes mellitus, Angina pectoris bei Herzmuskeldurchblutungsstörung, Bluthochdruck, degenerativen Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen und chronischer Bronchitis die Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 zuerkannt worden. Durch Bescheid vom 15. Juli 1998 hatte der Beklagte eine Sehminderung als weitere Behinderung bei einem unveränderten GdB von 50 festgestellt.
Auf den im April 2000 gestellten weiteren Neufeststellungsantrag stellte der Beklagte durch Bescheid vom 16. November 2000 den GdB unter Anerkennung von 1. Insulinpflichtigem Diabetes mellitus 2. Erkrankung der Gebärmutter -in Heilungsbewährung- 3. Angina pectoris bei Herzmuskeldurchblutungsstörung, Bluthochdruck 4. Degenerativen Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen 5. Schwerhörigkeit 6. Chronischer Bronchitis 7. Sehminderung als Behinderungen auf 90 neu fest und entschied, dass weder eine außergewöhnliche noch eine erhebliche Gehbehinderung vorliege. Diese Entscheidungen beruhten auf einer gutachterlichen Stellungnahme des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. F. vom 19. August 2000, die nach Auswertung der von dem Beklagten eingeholten Auskünfte der behandelnden Ärzte der Klägerin abgegeben worden war. Dr. F. hatte die Behinderungen zu 1 und 2 mit einem GdB von je 50, zu 3 mit 30, zu 4 und 5 mit je 20 und zu 6 und 7 mit je 10 bewertet. Mit dem gegen den Bescheid vom 16. November 2000 eingelegten Widerspruch begehrte die Klägerin ua. die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), deren Voraussetzungen aufgrund der inneren Leiden erfüllt seien. Bereits nach kurzen Wegstrecken (10 bis 15 Minuten) trete Atemnot ein, die Einschränkung der Lungenfunktion verursache beim Treppensteigen schon nach einer Etage große Schwierigkeiten. Nach Einholung weiterer ärztlicher Auskünfte von den behandelnden Ärzten wies der Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 08. Juli 2002 zurück. Er führte zur Begründung ua. aus, die Klägerin sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt. Ihr stehe daher das Merkzeichen "G" und somit auch der Nachteilsausgleich "aG", dessen Anforderungen noch weiter gingen, nicht zu.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB und der Merkzeichen "G" und "aG" beantragt. Aufgrund der chronischen Bronchitis mit Asthma bronchiale sowie des schweren Diabetes und der Angina pectoris sei ihre Beweglichkeit erheblich eingeschränkt, sodass bereits nach Wegstrecken von ca. 20 Metern Atemnot eintrete, die eine Pause unumgänglich mache. Darüber hinaus bestünden starke Einschränkungen am Stütz- und Bewegungsapparat.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte F. (Internistin) vom 21. April 2003 und Dipl.-Med. O. (Allgemeinmediziner) vom 23. April 2003 eingeholt, der ausgeführt hat, beim Gehen kurzer Strecken falle ein watschelnd-schwankender Gang auf und die Klägerin "stöhnt nach Luft".
Nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 11. September 2003 ihr Begehren auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G" reduziert hatte, hat das Sozialgericht den Arzt für Innere Medizin Dr. E. zum Sachverständigen ernannt. Dieser hat in seinem fachinternistischen Gutachten vom 17. März 2004 bei der Klägerin 1. Insulinpflichtigen Diabetes mellitus - Einzel-GdB 50 2. Bluthochdruck, beginnende koronare Herzkrankheit - Einzel-GdB 30 3. Nach Unterleibsoperation aufgetretener großer Bauchnarbenbruch mit ausgedehnter Bauchwandschwäche - Einzel-GdB 20 4. Innenohrschwerhörigkeit beidseits - Einzel-GdB 20 5. Chronisch obstruktive Bronchitis - Einzel-GdB 10 6. Sehminderung - Einzel-GdB 10 als Behinderungen festgestellt und ausgeführt, der Gesamt-GdB könne erst nach einer orthopädischen Beurteilung des GdB für die Wirbelsäulen- und Gelenkbeeinträchtigungen gebildet werden. Ein orthopädisches Fachgutachten sei auch zur Beurteilung des Gehvermögens der Klägerin erforderlich, deren internistische Leiden die Gehfähigkeit nicht wesentlich einschränkten.
Daraufhin hat das Sozialgericht den Arzt für Orthopädie Dr. G. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. In seinem fachorthopädischen Gutachten vom 11. Januar 2005 hat der Sachverständige 1. ausgeprägte Bauchwandschwäche mit deutlicher Minderung der Rumpfstatik - GdB 20 2. Hohlrundrücken mit fixierter verstärkter Brustkyphose und statisch-dynamischer Insuffizienz - GdB 10 3. Dysplasiehüften geringen Grades und beginnende Zeichen einer Arthrose mit Funktionsschmerzen und endgradigen Bewegungseinschränkungen beiderseits - GdB 10 4. Arthrose im Oberschenkel - Kniescheibengelenk beiderseits - GdB 10 als Behinderungen festgestellt und den Gesamt-GdB auf zur Zeit 90 eingeschätzt.
Er hat weiterhin ausgeführt, das Gehvermögen werde vor allem negativ durch die erhebliche Bauchwandschwäche, durch den fixierten Hohlrundrücken, die arthrotischen Veränderungen an den Oberschenkel-Kniescheibengelenken beiderseits sowie durch die Arthrosen an beiden Hüftgelenken beeinflusst. Die Adipositas per magna potenziere die funktionellen Störungen des Rumpfes, der beiden Hüft- und Kniegelenke und führe so zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.
Der Beklagte hat der letztgenannten Einschätzung des Sachverständigen eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Versorgungsärztin - Sozialmedizin Dr. G. vom 14. Februar 2005 entgegengehalten, in der ausgeführt ist, bei einer mittleren Funktionsbehinderung der BWS / LWS sowie geringer Funktionsbehinderung der Hüftgelenke seien selbst bei Würdigung des Bauchnarbenbruchs keine medizinischen Voraussetzungen für Merkzeichen entsprechend Nr. 30 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) gegeben.
In der mündlichen Verhandlung am 31. März 2005 hat das Sozialgericht Dr. G. als Sachverständigen persönlich vernommen, der eine schriftliche "Ergänzung" vom 26. März 2005 zu seinem Gutachten übergeben hat. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt dieser Ergänzung und die Anlage 1 zur Sitzungsniederschrift vom 31. März 2005 verwiesen.
Durch Urteil vom 31. März 2005 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" ab 01. Januar 2005 festzustellen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Erläuterungen des Sachverständigen Dr. G. in der mündlichen Verhandlung, dass unter Berücksichtigung der Adipositas und der Veränderungen an den großen Gelenken beider unterer Extremitäten ein GdB von 40 anzunehmen und unter Einwirkung der Adipositas und der funktionellen Störungen der Lenden- und Brustwirbelsäulenabschitte ein GdB von wenigstens 30 zu berücksichtigen sei sowie dass die Behinderungen an den großen Gelenken und der LWS / BWS sich verstärkten, so dass ein GdB von 60 gerechtfertigt erscheine, seien nachvollziehbar. Der Sachverständige habe überzeugend dargelegt, dass der Narbenbruch mit Vorfall der Baucheingeweide zu einem Funktionsausfall der Bauchmuskulatur und pathophysiologisch zur zusätzlichen Belastung besonders des Lendenwirbelsäulenabschnitts und der Brustwirbelsäule führe. Hiernach seien die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" erfüllt.
Gegen das am 11. Juli 2005 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 04. August 2005 Berufung eingelegt und zur Begründung darauf hingewiesen, dass nach Maßgabe der bei der Klägerin festgestellten Behinderungen die Voraussetzungen einer der Regelfälle der Nr. 30 AHP nicht erfüllt seien.
Der Senat hat eine weitere Stellungnahme des Sachverständigen Dr. G. vom 27. Januar 2006 eingeholt, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird.
Der Beklagte vermag den Ausführungen des Sachverständigen keine neuen Gesichtspunkte zu entnehmen. Natürlich sei die Adipositas per magna der Klägerin nicht anzulasten, sie sei jedoch für sich allein keine Behinderung und bedinge keinen GdB. Durch ihre Auswirkungen auf die Haltungs- und Bewegungsorgane sowie auf die Herzleistung würden auch "keine GdB-Höhen" erreicht, die die Inanspruchnahme des streitigen Merkzeichens rechtfertigen könnten. Der Auffassung Dr. G., dass eine Gleichstellung mit den in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP genannten Regelbeispielen gerechtfertigt sei, sei nicht zu folgen. Die Hauptursache für die bei der Klägerin vorliegende Einschränkung der Gehfähigkeit liege nach seiner Auffassung (und wohl auch der von Dr. G.) in der erheblichen Übergewichtigkeit. Bei dieser und der fehlenden Motivation handele es sich gerade um solche Faktoren, die für die Beurteilung der behinderungsbedingten Einschränkung der Gehfähigkeit nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) außer Betracht zu bleiben hätten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 31. März 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Der Verwaltungsvorgang des Beklagten lag dem Senat vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die frist- und formgemäß eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Klägerin ist erheblich gehbehindert, sodass ihr, wie das Sozialgericht zutreffend entschieden hat, zumindest ab 01. Januar 2005 das Merkzeichen "G" zusteht.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX), dessen Regelungen am 1. Juli 2001 in Kraft getreten sind, sind schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich zu befördern.
Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Nach der Rechtsprechung gilt als übliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 - veröffentlicht in BSGE 62, 273, 277 und SozR 3870 § 60 Nr. 2). Dieser Maßstab ist erstmals von den AHP 1996 (Nr. 30 Abs. 2) übernommen und in den zur Zeit gültigen AHP 2004 beibehalten worden. In den Absätzen 3 bis 5 der Nr. 30 geben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein schwerbehinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist.
Nach Nr. 30 Abs. 3 AHP sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- und Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.
Ob die Klägerin diese für die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt, ist zweifelhaft, weil der Sachverständige Dr. G. in seinem orthopädischen Gutachten vom 11. Januar 2005 zwar eine Vielzahl orthopädischer Leiden im Bereich der Lendenwirbelsäule und der unteren Extremitäten beschrieben, für diese jedoch Einzelbehinderungsgrade in Ansatz gebracht hat, die insgesamt nicht ausreichen können, um einen GdB von 50 oder zumindest 40 zu bilden. Die von dem Sozialgericht in dem angefochtenen Urteil gebilligte und übernommene, von Dr. G. in der mündlichen Verhandlung am 31. März 2005 erläuterte Methode, im Hinblick auf die Adipositas für die unteren Extremitäten einen GdB von 40 und für die funktionellen Störungen der Lenden- und Brustwirbelsäule einen GdB von 30 anzunehmen und hieraus einen Gesamt-GdB von 60 zu bilden, ist mit den in Nr. 26.18 AHP geregelten Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Hiernach ergibt sich bei Wirbelsäulenschäden der GdB primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Bei Gesundheitsstörungen der unteren Gliedmaßen (Hüfte, Knie) ist das Ausmaß der durch sie verursachten Bewegungseinschränkungen maßgebend. Das Vorliegen einer Adipositas, die allein keinen GdB bedingt (vgl. Nr. 26.15 Seite 99 AHP), rechtfertigt grundsätzlich nicht die Anhebung der in Nr. 26.18 der AHP festgelegten GdB für Behinderungen am Stütz- und Bewegungsapparat.
Somit ist davon auszugehen, dass bei der Klägerin Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße und / oder der LWS, die für sich einen GdB von 50 bedingen, oder besondere sich auf das Gehvermögen auswirkenden Behinderungen der unteren Gliedmaße mit einem GdB von 40 nicht vorliegen. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. E. bestehen auch keine inneren Leiden, aufgrund deren ein Regelfall des Abs. 3 der Nr. 30 der AHP als erfüllt angesehen werden könnte. Das Vorliegen eines in Abs. 4 und 5 geregelten Sachverhalts kann ausgeschlossen werden.
Die Nichterfüllung eines in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP bestimmten Regelfalles schließt die Feststellung des Merkzeichens "G" jedoch nicht aus. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Nachteilsausgleichs können nämlich auch bei schwerbehinderten Menschen erfüllt sein, bei denen andere als die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP aufgeführten Behinderungen vorliegen. Nach dem Wortlaut des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist es erforderlich, gleichzeitig aber auch ausreichend, dass der schwerbehinderte Mensch "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Die Bewegungsbeeinträchtigung im Sinne dieser Definitionsnorm muss tatsächlich auf eine sich auf das Gehvermögen auswirkende Behinderung im Sinne des Gesetzes ursächlich zurückzuführen sein (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 - a.a.O.- auf Seite 6 des Urteilsabdrucks). In dem genannten Urteil hat das BSG die Entscheidung des Landessozialgerichts bestätigt, das Adipositas und Cerebralsklerose als gesundheitliche Grundlage einer rechtserheblichen Funktionseinbuße im Sinne von Behinderungen und diese als Ursachen einer Bewegungsbeeinträchtigung angesehen hat (aaO Seite 7 des Urteilsabdrucks).
In seiner neueren Rechtsprechung (Urteile vom 13. August 1997 - 9 RVs 1/96 - veröffentlicht in SozR 3-3870 § 60 Nr. 2 - und vom 27. August 1998 - B 9 SB 13/97 R -) hat das BSG an seiner Rechtsprechung festgehalten und ausgeführt, die AHP beschrieben in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen seien, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen könnten. Das Merkzeichen "G" sei daher auch demjenigen zuzuerkennen, der zwar nicht die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP aufgezeigten Behinderungen bzw. Behinderungsgrade aufweise, bei dem aber körperliche Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen, die seine Bewegungsfähigkeit, insbesondere sein Gehvermögen, ebenso herabsetzten wie in den in den AHP beispielhaft genannten Fällen.
Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin, wie der Sachverständige Dr. G. in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005 und der "Ergänzung" vom 26. März 2005 überzeugend herausgearbeitet und in der gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Januar 2006 unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des BSG aufgestellten Kriterien für eine Gleichstellung mit den Regelfällen der Abs. 3 bis 5 der Nr. 30 AHP überprüft und bestätigt hat, erfüllt.
Der Beklagte verkennt bei der vom ihm vorgenommenen Bewertung, dass die Frage, ob eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt, aufgrund einer Gesamtschau aller bei der Klägerin vorliegenden, sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Gesundheitsstörungen zu beurteilen ist und dass keine isolierte Betrachtung und Bewertung der einzelnen Symptomkomplexe erfolgen darf. Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gehvermögen der Klägerin durch eine Kombination von inneren und orthopädischen Leiden, die sich zudem besonders negativ wechselseitig aufeinander auswirken, beeinträchtigt wird. Hierauf hat der Sachverständige Dr. G. in seiner Ergänzung vom 26. März 2005 ausdrücklich hingewiesen. Er hat ausgeführt, der internistisch beschriebene Narbenbruch mit Vorfall der Baucheingeweide führe zu einem Funktionsausfall der Bauchmuskulatur und pathophysiologisch zur zusätzlichen Belastung besonders des Lendenwirbelsäulenabschnitts und der Brustwirbelsäule. Die Wirbelsäule sei aber infolge des Hohlrundrückens mit Teilfixierung der Lenden- und Brustwirbelsäulenabschnitte per se hinsichtlich ihrer Belastungsfähigkeit herabgesetzt, so dass eine ausgeprägte statisch-dynamische Insuffizienz der Wirbelsäule als Achsenorgan des Rumpfes vorliege. Infolge der derartig funktionsgestörten Wirbelsäule sei die Klägerin nun nicht mehr in der Lage, bei einem zusätzlichen Übergewicht von ca. 50 kg eine Wegstrecke von 2 km in 30 Minuten ohne Gefahren für sich oder andere zurückzulegen.
In der auf Veranlassung des Senats abgegebenen gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Januar 2006 ist Dr. G. zu dem Ergebnis gelangt, das Gehvermögen der Klägerin sei wegen der festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten und der damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen der Bewegungs- und Belastungsfähigkeit in gleich hohem Maße eingeschränkt wie in den in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP (beispielhaft) genannten Fällen. Nach Einschätzung des Sachverständigen ist das Gehvermögen der Klägerin auf 250 Meter reduziert. Es beträgt also 12,5% (ein Achtel) der Gehstrecke, die üblicherweise im Ortsverkehr zurückgelegt wird.
Der Senat hat keine Bedenken, den Feststellungen und gutachterlichen Einschätzungen des Sachverständigen Dr. G. in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005, der "Ergänzung" vom 26. März 2005 und der gutachterlichen Stellungnahme vom 27. Januar 2006, gegen die der Beklagte keine substantiierten Einwendungen erhoben hat, zu folgen. Ein vernünftiger Zweifel daran, dass die Klägerin eine Wegstrecke von 2 Kilometern nicht mehr zurücklegen kann, ist nach den schlüssigen und in jeder Hinsicht überzeugenden Darlegungen Dr. G. nicht möglich. Selbst der Beklagte räumt in seinem Schriftsatz vom 09. März 2006 eine "bei der Klägerin vorliegende Einschränkung der Gehfähigkeit" ein. Soweit der Beklagte allerdings meint, diese beruhe auf nichtbehinderungsbedingten Faktoren, sodass das Merkzeichen "G" nicht festgestellt werden könne, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Unzutreffend ist insbesondere die Einschätzung des Beklagten, Hauptursache für die bei der Klägerin vorliegende Einschränkung der Gehfähigkeit sei wohl auch nach Auffassung von Dr. G. die erhebliche Übergewichtigkeit. Der Sachverständige hat vielmehr in seinem Gutachten festgestellt, dass das Gehvermögen vor allem negativ beeinflusst wird durch die erhebliche Bauchwandschwäche und die weiteren orthopädischen Behinderungen am Rücken, den Hüften und den unteren Extremitäten. Wörtlich führt er aus, die Adipositas per magna potenziere die funktionellen Störungen des Rumpfes, der beiden Hüft- und Kniegelenke und führe so zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Beweglichkeit im Straßenverkehr. In der "Ergänzung" vom 26. März 2005 erläutert der Sachverständige, dass die verschiedenen Funktionsstörungen an den Haltungs- und Bewegungsorganen, der Narbenbruch, die funktionsgestörte Wirbelsäule, die Überbelastung des Muskelbandapparates, insbesondere der Knie- und Sprunggelenke, die alle dem Druck des außergewöhnlichen Übergewichts ausgesetzt seien, die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese Erläuterungen und seine Aussage bei seiner persönlichen Vernehmung, dass die Adipositas allmählich eine zunehmende Verschlechterung der Belastungsfähigkeit der Wirbelsäule bewirke, widerlegt die Auffassung des Beklagten, Dr. G. sehe das Übergewicht als Hauptursache der Einschränkung der Gehfähigkeit der Klägerin an.
Die massive Adipositas kann entgegen der Auffassung des Beklagten nicht als Hauptursache für die Beeinträchtigung des Gehvermögens der Klägerin angeschuldigt werden. Die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. G. lassen lediglich den Schluss zu, dass sich das Übergewicht verstärkend auf die durch das Zusammenwirken der orthopädischen und internistischen Behinderungen eingeschränkten Gehfähigkeit der Klägerin auswirkt. Ob eine Adipositas per magna als so genannter nichtbehinderungsbedingter Faktor zu werten ist und die Feststellung des Merkzeichens "G" ausschließt, wenn sie die Hauptursache für die Einschränkung des Gehvermögens eines schwerbehinderten Menschen im Sinne der Nr. 30 Abs. 2 AHP ist (verneinend: LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. September 1996 - L 4 Vs 6/96), kann dahinstehen. Sie steht der Anerkennung des schwerbehinderten Menschen als erheblich gehbehindert jedenfalls dann nicht entgegen, wenn sie lediglich das Ausmaß der sich auf das Gehvermögen auswirkenden Behinderungen verstärkt und damit nur einen von mehreren Faktoren für die Beeinträchtigung des Gehvermögens darstellt. Dies gilt in jedem Fall dann, wenn die zumutbare Wegstrecke nicht nur knapp unter dem Grenzwert von 2 km liegt, sondern - wie hier - das Gehvermögen sogar auf 250 Meter (12,5% der üblichen Gehstrecke) limitiert ist. Wegen der Einschränkung des Gehvermögens auf 12,5% der üblichen Gehstrecke kann auch ausgeschlossen werden, dass die von dem Beklagten vermutete fehlende Motivation der Klägerin rechtlich wesentliche Ursache der Wegstreckenlimitierung ist. Eine Gesamtschau aller Umstände mag zwar den Schluss zulassen, dass die Klägerin bei einem mit der entsprechenden Motivation durchgeführten Training und einer Gewichtsreduzierung ihre Gehfähigkeit steigern könnte. Es erscheint jedoch ausgeschlossen, dass sie in absehbarer Zeit Verbesserungen in einem Ausmaß erreichen könnte, dass sie wieder im Stande wäre, Wegstrecken von 2 Kilometern in angemessener Zeit zurückzulegen. Rechtlich wesentliche Ursache für die bei der Klägerin mindestens seit Januar 2005 bestehende erhebliche Gehbehinderung sind deshalb allein die durch die Adipositas per magna verstärkten körperlichen Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen und nicht eine von dem Beklagten vermutete mangelnde Motivation oder andere nicht behinderungsbedingte Faktoren.
Die Berufung des Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Eine Korrektur der von dem Sozialgericht getroffenen Entscheidung, dass außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten seien, weil "die angefochtenen Bescheide im Zeitpunkt des Erlasses rechtmäßig waren", ist, obwohl sie mit § 193 SGG nicht zu vereinbaren ist, nicht möglich, weil die Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt hat.
Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil er der Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beimisst, ob die Voraussetzungen des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX auch durch eine Kombination von inneren und orthopädischen Leiden, die von einer Adipositas per magna verstärkt werden, erfüllt werden können.