L 11 SB 15/02 LSG Berlin - Urteil vom 25. März 2004
1. Für den Nachteilsausgleich „aG“ ist nicht der vollständige Verlust der Gehfähigkeit zu fordern. Diese muss nur so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Nicht zu dem begünstigten Personenkreis gehören somit diejenigen schwerbehinderten Menschen, die noch in der Lage sind, mit zumutbarer Anstrengung und ohne fremde Hilfe längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das BSG (a.a.0.) hat zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen müsse. Diese Voraussetzungen können z.B. vorliegen, wenn wegen einer Pseudarthrosen im Beckenbereich keine schmerzfreie Gehstrecke mehr zurückzulegen ist. Im vorliegenden Fall war weiter zu berücksichtigen, dass durch Fehlstellungen von Händen und Füßen Kompensationsmechanismen fehlten. Das BSG hatte bereits mit Urteil vom 12. Februar 1997 (9 RVs 11/95) darauf hingewiesen, dass eine funktionale Gleichstellung mit dem in der Verordnung zur Straßenverkehrsordnung genannten Personenkreis bejaht werden kann, wenn jeder Schritt des Behinderten mit erheblichen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verbunden ist und die Fortbewegung hierdurch zusätzlich erschwert wird.
2. Pseudarthrosen im Beckenbereich können die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Nachteilsausgleich "aG") rechtfertigen, wenn der Behinderte wegen der Pseudarthrosen selbst kurze Gehstrecken nur unter Schmerzen zurücklegen kann und damit keine schmerzfreie Gehstrecke mehr besteht.
3. “aG“ bei Pseudarthrose im Beckenbereich
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin außergewöhnlich gehbehindert ist und deshalb die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" erfüllt.
Der Klägerin - geboren 1943 - war im Wege der Neufeststellung zuletzt mit Bescheid vom 7. Januar 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 1999 ein GdB von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B" und "G" zuerkannt worden. Die Behinderungen und Einzelbehinderungsgrade waren wie folgt festgestellt worden:
a) Operiertes Brustdrüsenleiden rechts im Stadium der Heilungsbewährung - GdB 60
b) chronisch obstruktive Atemswegserkrankung mit Lungenüberblähung und Rückwirkungen auf das Herz - GdB 50
c) eingeschränkte Herzleistungsbreite, Reizleistungsstörungen - GdB 30
d) Wirbelsäulenverbiegung, Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule und den Gelenken - GdB 30
e) chronische Polyarthritis im Bereich der Schulter-, Finger- und Zehengelenke - GdB 20
f) Krampfadern - GdB 20 g) nervöse Störungen - GdB 10.
Die Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung war abgelehnt worden, da nach Art und Ausmaß der Behinderungen die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" nicht vorlägen.
Mit Schreiben vom 22. Februar 2000 beantragte die Klägerin erneut die Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung unter Hinweis auf die beigefügte Kopie der ärztlichen Überweisung durch die behandelnde Internistin/Rheumatologin Dr. med. H. an Dr. Z. mit dem Vermerk , dass die Klägerin kaum noch laufen könne. In dem eingeholten Befundbericht vom 6. April 2000 gab Dr. H. dazu an, im Vergleich zu dem Vorbefund liege eine Zunahme der Fußbeschwerden insbesondere beider Vorfüße, rechts mehr als links, und des rechten Sprunggelenkes sowie ein rechtshinkender Gang vor. In der von dem Beklagten veranlassten gutachterlichen Stellungnahme vom 22. Mai 2000 führte Dr. Y. aus, dass als neue Behinderung h) Schuppenflechte an zuerkennen sei. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung von "aG" seien jedoch nicht gegeben, da eine Gleichstellung der Klägerin mit dem bevorrechtigten Personenkreis nicht möglich sei. Die Klägerin verwies zur Stützung ihres Begehrens auf ein CT des Beckens vom 8. Juni 2000 mit der Feststellung einer Fraktur des Sitzbeins mit einem quer verlaufenden Frakturspalt ohne Dislokation oder Verschiebung und auf ein Knochenszintigramm des Beckens und des Skelettsystems der Praxis für Nuklearmedizin vom 6. Juni 2000.
Mit Bescheid vom 22. Juni 2000 nahm der Beklagte - unter Beibehaltung des Gesamt-GdB von 100 - die Schuppenflechte als Behinderung zu h) auf und lehnte die Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") ab, da die gesundheitlichen Voraussetzungen dieses Merkzeichen nicht erfüllt seien.
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass sie ohne fremde Hilfe ihre Wohnung nicht mehr verlassen könne, Arztbesuche jedoch nicht verzichtbar seien. Zur Stützung des Begehrens legte sie eine Vielzahl von ärztlichen Unterlagen - u.a. ein MRT der Lendenwirbelsäule vom 23. Juni 2000 sowie Ganzkörperknochen-Szintigraphien vom 15. September 1999 und 20. April 1999, einen Röntgenbefund des Hemithorax vom 22. April 1999, einen CT-Befund des Abdomens vom 20. April 1999 sowie einen Behandlungsbericht des Krankenhauses W. über den stationären Aufenthalt vom 15. bis 28. Februar 1999 wegen einer Hysterektomie - vor.
Der Beklagte veranlasste ein ärztliches Gutachten von der Ärztin M. vom 22. August 2000, die die Behinderungskomplexe zu d) und e) zusammenfasste und den Einzel-GdB auf 40 erhöhte, jedoch die Klägerin keinesfalls als außergewöhnlich gehbehindert ansah. Unter Bezugnahme auf diese gutachterlichen Feststellungen wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 2000 zurück, da nach Art und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "aG" nicht erfüllt seien.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren auf Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung weiter verfolgt. Sie hat ausgeführt, sie könne nicht Treppensteigen, nicht in Busse ein- und aussteigen, insbesondere aber nicht in normalen Parkbuchten ein- und aussteigen. Nur auf Behindertenparkplätzen sei genügend Raum, die Tür weit genug zu öffnen. Ein Verlassen der Wohnung sei unumgänglich, denn bei der bei ihr bestehenden chronischen Polyarthritis und Osteoporose erfolgten keine Hausbesuche durch die behandelnden Ärzte. Nach der Unterleibsoperation im Frühjahr 1999 seien im gleichen Jahr Rippenserienbrüche und im Jahr 2000 ein Sitzbeinbruch festgestellt worden. Auch der Ende 2000 verordnete Faltrollstuhl könne wegen der chronischen Polyarthritis nur mit fremder Hilfe benutzt werden. Ende 2000 sei die Parkraumbewirtschaftungszone bis an ihr Wohnhaus ausgedehnt worden und gleichzeitig seien vor dem Haus völlig unsinnige Halteverbotszonen eingerichtet worden. Trotz des gut sichtbaren Rollstuhlzeichens erhalte sie immer wieder Verwarnungszettel.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befund- und Behandlungsberichten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. vom 8. Dezember 2000, der Internistin und Rheumatologin Frau Dr. H vom 19. Dezember 2000, der Allgemeinmedizinerin Frau K.-S. vom 23. Dezember 2000 und des Orthopäden Dr. L. vom 20. Dezember 2000. Es wurden weiterhin vorgelegt die Behandlungsberichte des I.-Krankenhauses über die stationären Aufenthalte der Klägerin vom 23. August bis 8. September 2000, vom 12. Oktober bis 21. November 2000 und vom 26. Februar bis 20. März 2001 wegen Osteoporomalazie, Kortikoid-induziert mit Spontanfrakturen: rechtes Schambein lateral und Sitzbein medial Ende September 2000, Sitzbeinfraktur links und spontane Rippenfraktur Mai 2000. Die Klägerin hat weiterhin das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MdK) vom 8. Dezember 2000 über die Anerkennung der Pflegestufe I und das MdK-Gutachten vom 28. August 2001 über die Anerkennung der Pflegestufe II übersandt. In der für den Beklagten erstellten gutachterlichen Stellungnahme vom 6. Februar 2001 hat der Chirurg Dr. B. die Neuformulierung und Erweiterung des orthopädischen Behinderungskomplexes unter Erhöhung des diesbezüglichen Einzel-GdB auf 60 vorgeschlagen, jedoch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens "aG" ebenso wie Frau Dr. D. in ihrer nervenfachärztlichen Stellungnahme vom 1. Juni 2001 verneint.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Abklärung des Sachverhalts ein medizinisches Gutachten von dem Arzt M. vom 28. September 2001 eingeholt. Der Sachverständige hat darin ausgeführt, dass vornehmlich die orthopädischen Leiden - wie Wirbelsäulenverbiegung, Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule und an den Gelenken, chronische Polyarthritis, in geringem Maße auch die Herz-Kreislauf-Erkrankung und das Lymphödem sowie das Krampfaderleiden - Auswirkungen auf das Gehvermögen hätten. Außerdem bestehe eine leichte Überlagerung mit dem depressiven Syndrom. Die Gehfähigkeit sei deutlich eingeschränkt. Auf Grund der Gesamtschau der Befunde spreche jedoch mehr dafür als dagegen, dass die Klägerin in Begleitung auch Strecken von mehr als 100 m absolvieren könne. Ihre Gehfähigkeit sei nicht so stark eingeschränkt wie die eines Doppeloberschenkelamputierten. Die Klägerin hat die gutachterlichen Feststellungen des Sachverständigen in vielen Punkten beanstandet und sich zur Stützung ihres Anspruchs auf die ärztlichen Feststellungen in dem weiteren Behandlungsbericht des I.-Krankenhauses vom 19. November 2001 über ihren stationären Aufenthalt vom 20. September bis 16. Oktober 2001 und die dortigen Befundschilderungen über die schwere Osteoporose sowie rheumatoide Arthritis und deren Auswirkungen auf die Gehfähigkeit und Bewegungsfähigkeit berufen.
Durch Urteil vom 24. Januar 2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach den eingeholten Befundberichten und Epikrisen der behandelnden Ärzte und nach dem Gutachten des Sachverständigen M. sowie dem Vortrag der Klägerin selbst stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin dem Kreis der Berechtigten nicht gleichgestellt werden könne. Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung dürfe nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung sei zu beachten, dass die Fortbewegung auf das Schwerste eingeschränkt sein müsse, so dass als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen sei, oder der Betroffene ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein müsse. Ein entsprechender Vergleichszustand sei bei der Klägerin nicht gegeben. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 2. Februar 1988 (in Breithaupt 1988, S. 951) sei der Personenkreis der Schwerbehinderten mit einem Anspruch auf Parkerleichterung eng zu fassen.
Gegen das am 6. März 2002 zugestellte Urteil richtet sich die am 22. März 2002 eingelegte Berufung der Klägerin. Zur Begründung führt sie u.a. aus , dass sich aus dem gesamten Akteninhalt und insbesondere dem Bericht des I.-Krankenhauses vom 19. November 2001 ergebe, dass ihre Gehfähigkeit durch die schwere Osteoporose mit Zustand nach kompletter beidseitiger Beckenringfraktur und Rippenserienfrakturen mit chronischem Schmerzsyndrom und akuter Schmerzexazerbation sowie durch die chronische Polyarthritis mit Vorfußbeteiligung rechts und dem Zustand nach Lungenarterienembolie und Thrombose des rechten Beines 1982, durch Fußfehlstellungen und Fußerkrankungen auf das Schwerste beeinträchtigt sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Januar 2002 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22. Juni 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2000 zu verurteilen, ihr das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein fachorthopädisches Gutachten von Priv. Doz. Dr. med. Z., Arzt für Orthopädie, Rheumatologie-Sozialmedizin, Chefarzt der Orthopädischen Klinik, H.-Klinikum Berlin-Klinikum B., vom 12. Oktober 2003 veranlasst. Der Sachverständige ist darin zu der abschließenden Beurteilung gelangt, die Klägerin sei zwar unter Berücksichtigung der funktionellen Beeinträchtigungen nicht dem Personenkreis der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur Beckenprothesen tragen können, gleichzusetzen. Die Gehfähigkeit der Klägerin sei jedoch in einem ungewöhnlich hohen Maße eingeschränkt, da sie nur noch unter starken Schmerzen mit Spezialstützen in der Lage sei, Wegstrecken zwischen 100 und 300 m zurückzulegen. Die Ausbildung der Pseudarthrosen im Beckenbereich sowie die Darmbeinfrakturen mit weiterer Sinterung hätten dazu geführt, dass sie über keine schmerzfreie Gehstrecke mehr verfüge. Durch die Fehlstellung der Hände und Füße fehle es an Kompensationsmechanismen. Sie könne auch geringe Wegstrecken nur unter großer Anstrengung und unter Schmerzen zurücklegen.
Der Beklagte hat dazu unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Arztes für Chirurgie Dr. O. vom 9. Dezember 2003 die Auffassung vertreten, die im Gutachten dokumentierten objektiven Befunde könnten die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nicht begründen.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen sowie auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Schwerbehindertenakten des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Bei ihr liegt eine die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" rechtfertigende außergewöhnliche Gehbehinderung vor.
Das Merkzeichen "aG" ist gemäß § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) - früher: § 4 Abs. 4 Schwerbehindertengesetz - i.V. mit der auf Grund des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden festzustellen. Nach Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 der VV sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein Betroffener gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). In dem Urteil vom 10. Dezember 2002 (B 9 SB 7/01 R- veröffentlicht in SozR 3-3250 § 69 Nr. 1) hat das BSG darauf hingewiesen, dass es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in bezug auf ihr Gehvermögen offenbar nicht um einen homogenen Personenkreis handele und es sogar möglich sei, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein könne. Solche Besonderheiten seien nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis richte, der dann nicht mehr im Rahmen der Gleichstellung anderer behinderter Menschen zu Vergleichszwecken herangezogen werden könne. Daraus hat das BSG (Urteil vom 10. Dezember 2002) den nach der Überzeugung des Senats richtigen Schluss gezogen, dass sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren habe. Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er längere Wege zu Fuß wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung zurücklegen kann. Nach dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 2002 ist nicht der vollständige Verlust der Gehfähigkeit zu fordern. Diese muss nur so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Nicht zu dem begünstigten Personenkreis gehören somit diejenigen schwerbehinderten Menschen, die noch in der Lage sind, mit zumutbarer Anstrengung und ohne fremde Hilfe längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das BSG (a.a.0.) hat zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen müsse.
Der Senat ist auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass sich die Klägerin - wenn überhaupt - nur mit großer Anstrengung und erheblichen Schmerzen sowie nur mit (fremder) Hilfe (ihres Ehemannes) außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Das ergibt sich eindeutig aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Z. vom 12. Oktober 2003. Nach den für den Senat schlüssigen und überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen ist die Gehfähigkeit der Klägerin in einem ungewöhnlich hohen Maße eingeschränkt, da sie wegen der Pseudarthrosen auch geringe Wegstrecken nur unter großer Anstrengung und unter Schmerzen zurücklegen kann. Die Ausbildung der Pseudarthrosen im Beckenbereich habe, so führt Dr. Z. aus, dazu geführt, dass die Klägerin über keine schmerzfreie Gehstrecke mehr verfüge. Hinzu kämen die Darmbeinfrakturen mit weiterer Sinterung. Durch die Fehlstellungen der Hände und der Füße fehlten die Kompensationsmechanismen. Eindringlich hat der Sachverständige auf die Gefahr von Stürzen hingewiesen, die zu weiteren Frakturen führen könnten. Allein die von dem Sachverständigen beschriebene Gefahr weiterer Stürze bedingt schon die Notwendigkeit einer Begleitperson und zwingt zu dem Schluss, dass die Klägerin sich nur mit fremder Hilfe außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann.
Entscheidend ist für den Senat die von Dr. Z. getroffene Feststellung, dass die Klägerin selbst kurze Gehstrecken nur unter Schmerzen zurücklegen könne, dass eine schmerzfreie Gehstrecke nicht mehr bestehe (Seite 23 des Gutachtens). In dem Urteil des BSG vom 12. Februar 1997 (9 RVs 11/95) ist eine (funktionale) Gleichstellung bejaht worden, wenn jeder Schritt des Behinderten mit erheblichen Schmerzen im Bereich der Extremitäten verbunden ist und die Fortbewegung hierdurch zusätzlich erschwert wird.
Die Feststellungen und die Einschätzungen es Sachverständigen zum Gehvermögen der Klägerin stimmen mit denen der behandelnden Ärzte der Klägerin im Wesentlichen überein. So haben bereits im Dezember 2000 die Allgemeinmedizinerin K.-S. und der Orthopäde Dr. L. die Auffassung vertreten, die Klägerin sei nicht gehfähig, sie benötige einen Rollstuhl bzw. sie könne sich ohne fremde Hilfe nicht fortbewegen. In dem Bericht des I-Krankenhauses vom 19. November 2001 heißt es, "es sollten nur sehr kurze Wegstrecken mit problemlosen Ein- und Aussteigen aus dem PKW bewältigt werden".
Auf das Gutachten des Sachverständigen M. vom 28. September 2001 lässt sich - entgegen der Auffassung des Sozialgerichts - das gegenteilige Ergebnis nicht stützen. Das Gutachten enthält keine eindeutige Aussage zum Gehvermögen der Klägerin. Soweit Herr M. ausgeführt hat, "auf Grund der Gesamtschau der Befunde spreche mehr dafür als dagegen, dass die Klägerin in Begleitung auch Strecken von mehr 100 m in Begleitung absolvieren kann", erscheint es nicht ausgeschlossen, dass er zum Ausdruck bringen wollte, die Klägerin bedürfe für Wegstrecken außerhalb eines Kraftfahrzeuges fremder Hilfe. Insgesamt ist das Gutachten dieses Sachverständigen als Entscheidungsgrundlage nicht geeignet.
Das gilt auch für die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten, insbesondere des Chirurgen Dr. O. vom 9. Dezember 2003, der die zuvor dargestellten Kriterien für das Merkzeichen "aG" nach der (neuen) Rechtsprechung des BSG verkennt, weil er im Wesentlichen darauf abstellt, welchen GdB die Behinderungen der Klägerin im Bereich des Bewegungsapparates erreichen. Diese Betrachtungsweise ist bereits vom BSG in dem Urteil vom 12. Februar 1997 (9 RVs 11/95, Seite 5 des Umdrucks) verworfen worden.
Da sich die Klägerin nur mit fremder Hilfe und nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen kann, ist sie außergewöhnlich gehbehindert. Ihr war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und unter Änderung des streitigen Bescheides des Beklagten das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.