Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 11 SB 157/09 - Urteil vom 05.12.2011
Bei sog. Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zur Überprüfung gestellten Bescheids der Zeitpunkt seines Erlasses maßgeblich. Dabei kommt es aber nicht auf den Stand der Erkenntnis bei Erlass, sondern bei Überprüfung an. Erforderlich ist also eine rückschauende Betrachtungsweise im Lichte einer - eventuell geläuterten - Rechtsauffassung zu der bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsakts geltenden Sach- und Rechtslage. In diesem Sinne beurteilt sich die Rechtswidrigkeit nach der damaligen Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt - auch im Zugunstenverfahren - die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 60.
Bei der 1959 geborenen Klägerin, die als Büroangestellte bei der Polizei arbeitet und seit Dezember 2010 arbeitsunfähig erkrankt ist, stellte der Beklagte bestandskräftig einen GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest (Bescheide vom 18. Mai 2001 und vom 25. Januar 2002, letzterer in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2002):
Am 14. Mai 2007 beantragte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB bei dem Beklagten. Dieser holte Befundberichte bei der Ärztin Dr. M. vom 30. Juni (wohl ein Schreibfehler, gemeint gewesen sein dürfte Mai) 2007, dem Facharzt für Orthopädie M. vom 11. Juni 2007 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. S. vom 15. Juni 2007 sowie einen Reha-Entlassungsbericht der K-Klinik - Abteilung Orthopädie - vom 30. Oktober 2006 über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 6. bis 27. Oktober 2006 ein und lehnte den Antrag der Klägerin nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme bei dem Arzt für Innere Medizin und Psychotherapeuten Dr. T. vom 25. Juli 2007 mit Bescheid vom 3. August 2007 ab. Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch holte der Beklagte bei der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G. ein Gutachten ein (undatiert), in dem diese die Leidensbezeichnung in Bezug auf die Wirbelsäule umschrieb mit Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit chronischer Wurzelreizsymptomatik, Bandscheibenvorfall und Vorwölbungen im Halswirbelsäulenbereich, knöcherne Forameneinengungen, wiederkehrende Reizzustände im Lendenwirbelsäulenbereich bei Abnutzungserscheinungen, Haltungsschaden der Wirbelsäule, und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2007 bestandskräftig zurück.
Am 7. Februar 2008 wies der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf einen von ihm mit Schreiben vom 27. November 2007 unter Bezugnahme auf § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) gestellten Überprüfungsantrag hin und bat um Entscheidung. Nach Einholung einer fachchirurgischen Stellungnahme bei der Fachärztin für Chirurgie und Sozialmedizin H. vom 27. Mai 2008 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 10. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2008 ab. Tatsachen, die einen Rücknahmebescheid nach § 44 SGB X rechtfertigen könnten, lägen nicht vor.
Hiergegen hat die Klägerin am 21. Juli 2008 Klage erhoben. Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 23. März 2009 abgewiesen. Der Bescheid vom 10. Juni 2008 sei nicht zu beanstanden, da bei Erlass des Bescheides vom 3. August 2007 Recht nicht unrichtig angewendet worden sei.
Gegen den ihr am 9. April 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 5. Mai 2009 Berufung eingelegt. Sie hat einen Bericht der Unfallkasse B. vom 18. Mai 2009 und einen Nachschaubericht des Arztes Dr. D vom 28. April 2009 zu den Akten gereicht. Hintergrund war ein Arbeitsunfall, den die Klägerin am 14. Januar 2009 erlitten hat. Sie hat des Weiteren einen Befundbericht des Arztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe F. vom 10. Mai 2010 und Arztbriefe des Krankenhauses W, B, vom 10. August 2009, vom 16. August 2009 und vom 20. August 2009 zu den Akten gereicht.
Der Senat hat Befundberichte bei dem Facharzt für Orthopädie M. vom 27. Januar 2010, der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. S. vom 2. Februar 2010, der Diplom-Psychologin und psychologischen Psychotherapeutin R. vom 5. August 2010 sowie dem Facharzt für Orthopädie und Chirotherapeuten Dr. H. vom 11. August 2010 eingeholt.
Der Senat hat des Weiteren ein Gutachten bei der Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. F. vom 31. Januar 2011 eingeholt, das diese nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27. Januar 2011 und einer sich daran anschließenden Zusatzuntersuchung erstellt hat. Dr. F. ist zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege ein GdB von 40 aufgrund von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen vor:
Der von ihr festgestellte Zustand habe auch bereits am 14. Mai 2007 bestanden.
Der Senat hat auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten bei dem Arzt für Allgemein- und Arbeitsmedizin L. vom 7. September 2011 eingeholt, das dieser aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 29. August 2011 erstellt hat. Der Sachverständige L, der im Übrigen unter anderem Kenntnis von einem Reha-Entlassungsbericht der A. Klinik - Abteilung Orthopädie - vom 6. Mai 2011 über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 13. April bis zum 4. Mai 2011 gehabt hat, ist zu dem Ergebnis gelangt, bei der Klägerin liege ein GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen vor:
Der von ihm beschriebene Zustand bestehe unverändert seit 2007. Hinzugetreten sei lediglich die Diagnose einer Schleimbeutelentzündung beider Hüftgelenke seit Herbst 2010.
Die Klägerin beantragt schriftlich,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. März 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2008 zu verurteilen, den Bescheid vom 3. August 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 zurückzunehmen und bei der Klägerin ab dem 14. Mai 2007 einen GdB von mindestens 60 festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und nimmt im Übrigen Bezug auf von ihm übermittelte Stellungnahmen der Fachärztin für Chirurgie Dr. P. vom 4. März 2010, der Versorgungsärztin Dr. B. vom 22. März 2010 und vom 29. Oktober 2010, des Facharztes für Physiotherapie Dr. S. vom 4. Oktober 2010 sowie des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie und Sozialmediziners Dr. S. vom 12. Oktober 2010.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 des SGG i.V.m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist zutreffend. Der angefochtene Bescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 60.
Die Klägerin verfolgt ihren Anspruch einerseits im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X. Da es bei der Feststellung des GdB nicht um Sozialleistungen geht und § 44 Abs. 1 SGB X damit unanwendbar ist (vgl. nur Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 7. April 2011 - B 9 SB 3/10 R - juris), ist Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren insoweit § 44 Abs. 2 SGB X. Danach ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Satz 1). Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Satz 2). Soweit das BSG eine Beschränkung der rückwirkenden Feststellung des GdB durch ein Erfordernis der Offensichtlichkeit für den Fall angenommen hat, dass nach § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme einer unanfechtbar bindenden Feststellung des GdB mit Wirkung für die Vergangenheit zu prüfen ist (vgl. Urteil vom 29. Mai 1991 - 9a/9 RVs 11/89 - juris), muss der Senat vorliegend nicht zwischen einer Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft oder einer solchen mit Wirkung für die Vergangenheit unterscheiden. Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Bescheid vom 3. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 rechtmäßig gewesen ist. Dabei ist innerhalb des Zugunstenverfahrens maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des zur Überprüfung gestellten Bescheides der Zeitpunkt seines Erlasses (vgl. Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 44, Rn. 24 i. V. m. Rn. 9). Dies ist hier in Bezug auf den Bescheid vom 3. August 2007 jedenfalls der 8. August 2007, denn auf diesen Tag hat die Klägerin ihr Widerspruchsschreiben gegen den Bescheid vom 3. August 2007 datiert, so dass ihr der Bescheid vom 3. August 2007 jedenfalls am 8. August 2007 bekannt gegeben worden sein muss (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Stellt man im Übrigen auf den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 ab (so BSG, Urteil vom 4. November 1998 - B 13 RJ 27/98 R - juris; Steinwedel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 44 SGB X, Rn. 37), wäre der 27. November 2007 für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit maßgebend; denn auf den 27. November 2007 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin seinen Überprüfungsantrag datiert, so dass mindestens an diesem Tag der Widerspruchsbescheid bekannt gegeben worden sein muss. Zur Beurteilung der Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 3. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 kommt es im Übrigen nicht auf den Stand der Erkenntnis bei Erlass, sondern bei Überprüfung an. Erforderlich dazu ist eine rückschauende Betrachtungsweise im Lichte einer - eventuell geläuterten - Rechtsauffassung zu der bei Erlass des zu überprüfenden Verwaltungsaktes geltenden Sach- und Rechtslage. In diesem Sinne beurteilt sich die Rechtswidrigkeit nach der damaligen Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht (vgl. Schütze, a. a. O., Rn. 10).
Der Beklagte hat zu Recht mit Bescheid vom 3. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 die Feststellung eines höheren GdB als 40 für die Zeit ab Antragstellung am 14. Mai 2007 abgelehnt. Denn zum Zeitpunkt des Erlasses beider genannten Entscheidungen - also sowohl des Bescheides vom 3. August 2007 als auch des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 - war weder in den rechtlichen noch in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass der Bescheide vom 18. Mai 2001 und vom 25. Januar 2002, letzterer in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2002, vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X), die die Feststellung eines GdB von mehr als 40 erfordert hätte.
Die Klägerin hat aber auch keinen Anspruch auf Änderung der Bescheide vom 18. Mai 2001 und vom 25. Januar 2002, letzterer in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2002, - unmittelbar - nach § 48 Abs. 1 SGB X (zum Nebeneinander von § 44 Abs. 2 SGB X und von § 48 Abs. 1 SGB X vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 10/06 R - juris), was die Blickrichtung insoweit modifiziert, als der Senat nicht nur die Rechtmäßigkeit von in der Vergangenheit liegenden Bescheiden zu prüfen hat, sondern er auch Änderungen der Sach- und Rechtslage bis zum Entscheidungszeitpunkt berücksichtigen muss. Der Senat kann zwar in vorliegendem Einzelfall auch über diesen Anspruch entscheiden, weil er dem Bescheid vom 10. Juni 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2008 entnimmt, dass mit diesem konkludent nicht nur über einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 3. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 nach § 44 SGB X, sondern auch über die Zuerkennung eines höheren GdB als 40 außerhalb des Zugunstenverfahrens entschieden wurde. Es ist aber nach Erlass der Bescheide vom 18. Mai 2001 und vom 25. Januar 2002, letzterer in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2002, durchgehend keine Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen eingetreten (vgl. zur Abgrenzung von § 44 und § 48 SGB X BSG, Vorlagebeschluss vom 28. Mai 1997 - 8 RKn 27/95 - juris). Denn die Klägerin hatte seit dem 14. Mai 2007 zu keinem Zeitpunkt bis zum Entscheidungstag des Senats einen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 (grundsätzlich) die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (vormals Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung (hier maßgeblich Ausgaben 2005 und 2008 - AHP 2005 und 2008) zu beachten, die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 durch die in der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG - Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) - vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten "versorgungsärztlichen Grundsätze" abgelöst worden sind, die inzwischen ihrerseits durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928) und 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124) Änderungen erfahren haben. Die AHP sind zwar kein Gesetz und sind auch nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung im Sinne von antizipierten Sachverständigengutachten, die die möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist grundsätzlich von diesen auszugehen (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R -, bestätigt in BSG, Urteil vom 2. Dezember 2010 - B 9 SB 4/10 R - beide bei juris), weshalb sich auch der Senat für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 grundsätzlich auf die genannten AHP stützt. Für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 ist demgegenüber für die Verwaltung und die Gerichte die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV maßgeblich, mit der die in den AHP niedergelegten Maßstäbe mit lediglich redaktionellen Anpassungen in eine normative Form gegossen worden sind, ohne dass die bisherigen Maßstäbe inhaltliche Änderungen erfahren hätten. Trotz der im Jahre 2010 vorgenommenen Änderungen gelten sie im vorliegenden Fall fort, weil die Änderungen Bereiche betreffen, auf die es hier nicht ankommt.
Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Maßstäben als Grad der Behinderung in Zehnergraden entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 69 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 10; ebenso bereits Teil A Nr. 19 AHP 2005 und 2008, Seite 24 ff.) die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) - ee) der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 10; ebenso zuvor AHP 2005 und 2008 Teil A Nr. 19 Abs. 1, 3 und 4, Seite 24 ff.).
Der GdB bei der Klägerin ist seit dem 14. Mai 2007 durchgehend nicht höher als mit 40 zu bewerten. Dies folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen und vor allem aus dem Gutachten der Sachverständigen Dr. F, die die Klägerin eingehend körperlich untersucht hat und nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt ist, dass bei der Klägerin zum Untersuchungszeitpunkt ein GdB von (nur) 40 vorlag. Für die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen gilt hier Folgendes:
Im Vordergrund stehen bei der Klägerin Wirbelsäulenleiden, deren Bewertung sich nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 89 f., und Teil A Nr. 26.18 AHP 2005 und 2008, Seite 115 f., richtet und die hier mit einem Einzel-GdB von 30 angemessen bewertet sind. Der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden ergibt sich danach primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. Sogenannte Wirbelsäulensyndrome (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie, sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Zu bewerten sind Wirbelsäulenschäden wie folgt:
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. F. ist bei großzügiger Betrachtungsweise das Vorliegen von schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt - hier der Halswirbelsäule - anzunehmen, während in den Bereichen der Lenden- und Brustwirbelsäule nur geringe funktionelle Auswirkungen bestehen. Diese Feststellungen sind überzeugend, weil sie auf objektiv erhobenen Befunden und nach der Neutral-Null-Methode erhobenen Messergebnissen beruhen. Die körperliche Beweglichkeit der Klägerin war nach den Feststellungen der Sachverständigen altersbezogen und unbeobachtet normal, zahlreiche Lagerungs- und Funktionsproben wurden regulär und zügig absolviert. Die von der Klägerin während der Begutachtung zur Verdeutlichung ihrer Beschwerden demonstrierte Halswirbelsäulenbeweglichkeit wurde nicht konstant durchgehalten. Die Muskulatur im Nacken- und Schulterbereich war nach den Feststellungen der Sachverständigen mäßig verspannt, Beugung und Überstreckung der Halswirbelsäule waren um die Hälfte und Neige- und Drehbewegungen bis zu zwei Drittel eingeschränkt. Mit dem oberen Halswirbelsäulensyndrom überlagerte sich eine Reizsymptomatik im rechten Schultergelenk, eine höhergradige Bewegungseinschränkung bestand aber nicht. Es ließen sich auch keine eindeutig segmentbezogenen Sensibilitätsstörungen und auch keine neurologischen Ausfälle an den Armen ausmachen. Die Rumpfwirbelsäule war ganz frei beweglich mit einem Fingerfußbodenabstand von 0 cm. Es ergaben sich nach den Ausführungen der Sachverständigen auch keine Hinweise für das Vorliegen einer chronischen Nervenwurzelreizsymptomatik an den unteren Extremitäten; Motorik, Sensibilität, Kraftentwicklung und Reflexverhalten waren regelrecht. Diese Feststellungen der Sachverständigen Dr. F, die weitgehend denen in den orthopädischen Befundberichten und Rehabilitationsentlassungsberichten entsprechen, werden im Übrigen auch durch den Sachverständigen L. im Wesentlichen bestätigt. Auch dieser geht von dem Vorliegen mittelgradiger bis schwerer funktioneller Auswirkungen im Bereich der Halswirbelsäule aus, demgegenüber die Beschwerden der Lendenwirbelsäule deutlich nachrangiger sind.
Das psychische Leiden ist nach Teil B Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 27, und Teil A Nr. 26.3 AHP 2005 und 2008, Seite 48, hier mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Mit einem GdB von 0 bis 20 sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen zu bewerten. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) sind mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Bei der Klägerin liegen leichtere psychovegetative oder psychische Störungen vor, die mit einem Einzel-GdB von 20 angemessen bewertet sind. Dies ergibt sich bereits aus dem von dem Beklagten eingeholten Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G. (vermutlich im September 2007 erstellt), der gegenüber die Klägerin Platzängste und eine leicht eingeschränkte Lebensweise schilderte, nach deren Feststellungen aber das Denken geordnet, wendig und zielgerichtet war. Mnestische Störungen und wahnhafte Vorstellungen stellte die Ärztin G. nicht fest; affektiv erschien die Klägerin eingeengt schwingend, war aber noch modulierbar. Bei leicht gedrückter Stimmung und ungestörtem Antrieb ist die Bewertung als nur leichtere psychische Störung schlüssig und nachvollziehbar. Diese Feststellungen sind von der Sachverständigen Dr. F. in vollem Umfang bestätigt worden. Danach hat die Klägerin aktuell eine schwierige Kindheit durch Trennung der Eltern und das Aufwachsen mit einem aggressiven Stiefvater geschildert. Sie hat eine Klaustrophobie ohne generelles Vermeidungsverhalten beklagt. Bei den Schlafstörungen, dem Herzrasen, den Schweißausbrüchen, Körpergefühlsstörungen und der verstärkten Schmerzwahrnehmung geht die Sachverständige nachvollziehbar von einer Somatisierung aus, wobei belastende Umgebungsfaktoren in der Kindheit typische Voraussetzungen für die Entwicklung einer solchen Störung seien. Auslöser des jetzigen Beschwerdebildes sei eine aktuelle Mobbingsituation am Arbeitsplatz. Psychopathologisch hat die Sachverständige bis auf eine gedrückte Stimmung, Verdeutlichungstendenzen der körperbezogenen Beschwerden und ein verstärktes Beschwerdeerleben keine weiteren Auffälligkeiten ausmachen können. Von einem stärkeren subjektiven Leidensdruck geht die Sachverständige bei einer Vielzahl nicht genutzter Therapiemöglichkeiten - zuletzt fand eine psychologische Psychotherapie von Ende 2009 bis zum Frühjahr 2010 statt - nachvollziehbar nicht aus. Auch diese Feststellungen werden im Übrigen von dem Sachverständigen L. im Kern bestätigt.
Die weiteren Beschwerden sind mit einem Einzel-GdB von jeweils nicht mehr als 10 zu bewerten. Die Gefäßerkrankung der Hände bewerten beide gerichtlich bestellten Sachverständigen nach Teil B Nr. 9.2 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 49, und Teil A Nr. 26.9 AHP 2005 und 2008, Seite 73f., nachvollziehbar mit einem GdB von 10, was bei den von der Klägerin geschilderten Beschwerden - Missempfindungen, Weißfärbung bei Wechsel von Wärme auf Kälte - angemessen ist.
Das Krampfaderleiden wird von den Sachverständigen nach Teil B Nr. 9.2.3 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 50, und Teil A Nr. 26.9 AHP 2005 und 2008, Seite 74f., mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet. Die Sachverständige Dr. F. legt dies nachvollziehbar dar, denn Schmerzen, ein Schweregefühl der Beine und eine Schwellneigung bei Hitzeeinwirkung bei nicht konsequent getragenen Kompressionsstrümpfen und eine bei Sonografie festgestellte Insuffizienz der oberflächlichen Beinvene links rechtfertigen nicht den Schluss, es könnten eine erhebliche Ödembildung sowie häufig rezidivierende Entzündungen - erst dann wäre ein GdB von 20 bis 30 festzustellen - bestehen.
Die Migräne ist bei bis zu drei Mal im Monat auftretenden Anfällen und einem guten Ansprechen auf Schmerzmittel nach Teil B Nr. 2.3 der Anlage zu § 2 VersMedV, Seite 19f., und Teil A Nr. 26.2 AHP 2005 und 2008, Seite 39, als eine solche mit leichter Verlaufsform mit einem GdB von 10 zu bewerten.
Soweit der Sachverständige L. für die Zeit ab Herbst 2010 Reizerscheinungen beider Hüften bei Verdacht auf Schleimbeutelentzündung mit einem Einzel-GdB von 10 angibt, kann der Senat offen lassen, ob dies zutreffend ist, weil - was auch der Sachverständige L. einräumt - aus dem von ihm angegebenen Leiden keine Änderung des Gesamt-GdB folgt.
Von Vorstehendem ausgehend ergibt sich kein höherer Gesamt-GdB als 40. Das mit maximal 30 zu bewertende Wirbelsäulenleiden kann infolge der von Seiten der psychischen Leiden bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen, die mit 20 zu bewerten sind, um 10 auf 40 erhöht werden. Die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen, die jeweils mit einem Einzel-GdB von höchstens 10 zu bewerten sind und allenfalls zu leichten Einschränkungen führen, wirken sich nicht GdB-erhöhend aus.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil Gründe hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.