Tatbestand:

Streitig ist das Merkzeichen "B" – Notwendigkeit ständiger Begleitung -.

Der geborene Kläger stellte am 10. April 2000 einen formularmäßigen "Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zur Durchführung des Feststellungsverfahrens und auf Ausstellung eines SchwbG-Ausweises". Als Gesundheitsstörung gab er eine Wirbelsäulenerkrankung mit starker Bewegungseinschränkung an. Im Übrigen beantragte er das Merkzeichen "aG" – außergewöhnliche Gehbehinderung -. Nach Veranlassung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme stellte der Beklagte mit Bescheid vom 19. Juli 2000 einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 wegen einer Wirbelsäulenfunktionsminderung fest. Weiterhin wurde ausgeführt, zu den beantragten Merkmalen bedürfe es keiner Feststellung, weil der GdB nicht mindestens 50 betrage und dem Kläger ein Ausweis nicht zustehe.

Auf den Widerspruch des Klägers holte der Beklagte eine ärztliche Auskunft der behandelnden Allgemeinmedizinerin F vom 15. August 2000 ein. Mit Abhilfebescheid vom 27. September 2000 stellte der Beklagte einen GdB von 30 wegen einer Wirbelsäulenfunktionsminderung mit rezidivierenden Nervenreizerscheinungen sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest. Im Übrigen wurde erneut ausgeführt, zu den beantragten gesundheitlichen Merkmalen bedürfe es keiner Feststellung, weil der GdB nicht mindestens 50 betrage und ein Ausweis nicht zustehe. Durch Widerspruchsbescheid vom 3. April 2001 wurde der Widerspruch schließlich im Übrigen zurückgewiesen, da nach den vorliegenden Befunden die beim Kläger bestehende Wirbelsäulenfunktionsminderung lediglich einen GdB von 30 bedinge. Das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" könne schon deshalb nicht festgestellt werden, weil dieses Nachteilsausgleichsmerkmal nur Schwerbehinderten zustehe.

Mit seiner hiergegen gerichteten Klage hat der Kläger zunächst beantragt, einen GdB von wenigstens 70 sowie "die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts" festzustellen. Die Befunde hätten sich stetig verschlechtert, insbesondere sei eine periphere arterielle Verschlusskrankheit hinzugetreten.

Das Sozialgericht Potsdam hat zunächst Befundberichte der Fachärztin für Anästhesie Dr. B vom 18. Juli 2001 und des Chefarztes der Klinik für Neurologie der Landesklinik B Dr. M vom 13. Juli 2001 eingeholt. Daraufhin hat der Beklagte seine Bereitschaft erklärt, den GdB ab Antragstellung auf 40 festzustellen.

In der Folgezeit hat das Sozialgericht das orthopädische Fachgutachten des Dr. R vom 2. November 2001 aus dem Parallelverfahren S 4 RJ 255/01beigezogen, in welchem unter anderem eine Einschränkung der Wegefähigkeit bei einer schmerzfreien Gehstrecke von 200 bis 500 Metern beschrieben wird. Außerdem ist – nachdem der Kläger sich einer Operation unterzogen hatte - noch ein Befundbericht der A-Klinik B vom 6. Mai 2002 nebst Entlassungsbericht vom 5. Oktober 2001 eingeholt worden. Auf Anfrage des Gerichts hat der Ärztliche Direktor der A-Klinik B, PD Dr. K-B mit Schreiben vom 17. Oktober 2002 erklärt, der Kläger leide an einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit Stadium 2 a rechts und 3 b links mit einer schmerzfreien Wegstrecke von unter 100 Metern. Zusammen mit dem Wirbelsäulenleiden rechtfertige dies einen GdB von 60.

Daraufhin hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2002 erklärt bereit zu sein, ab Oktober 2001 einen GdB von 50 sowie das Merkzeichen "G" – erhebliche Gehbehinderung – festzustellen.

Der Kläger hat jedoch die Feststellung eines höheren GdB verlangt und auf weitere medizinische Befunde verwiesen. Er erhalte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit.

Das Sozialgericht hat daraufhin die Akte des Sozialgerichts Potsdam zum Aktenzeichen S 4 RJ 255/01 beigezogen und die gutachterliche Stellungnahme des Dr. R vom 28. Februar 2002 zur Gerichtsakte genommen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 27. August 2003 hat der Kläger die Teilanerkenntnisse des Beklagten vom 6. September 2001 und 20. Dezember 2002 angenommen und gleichzeitig einen höheren GdB ab Oktober 2001 sowie die Merkzeichen "B" und "aG" beantragt. Er hat außerdem ein für die L (L B erstelltes orthopädisches Fachgutachten des Dr. E vom 22. Mai 2003 vorgelegt. Der Beklagtenvertreter hat im Termin zur mündlichen Verhandlung erklärt, keine Bedenken gegen die Einbeziehung des Nachteilsausgleichs "B" zu haben.

Mit Bescheid vom 14. Oktober 2003 hat der Beklagte ab Antragstellung einen GdB von 40 und ab 1. Oktober 2001 einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festgestellt wegen folgender Beeinträchtigungen: 

• Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, außergewöhnliche Schmerzreaktion 
• Arterielle Verschlusskrankheit des Beines beiderseits.

Außerdem hat das Sozialgericht Potsdam Beweis erhoben und eine gutachterliche Stellungnahme des Dr. E vom 14. Januar 2004 zur Frage der Höhe des GdB und des Vorliegens der Merkzeichen "B" und "aG" veranlasst. In dieser Stellungnahme hat Dr. E folgende Diagnosen gestellt: 

• Operativ durch Spondylodese versorgte Spinalstenose bei Segmentinstabilität mit Radikulopathie 
• Operativ versorgte Unterarmfraktur 1982 ohne größere Funktionseinschränkungen 
• Chronisch-rezidivierendes Cervicalsyndrom bei Bandscheibenschäden ohne größere Funktionseinschränkungen 
• Periphere arterielle Verschlusserkrankung vom Oberschenkeltyp beiderseits Stadium II a rechts und II b links nach Fontaine mit Claudicatio spinalis. 
Der GdB sei für den Wirbelsäulenschaden mit 40 und für die arterielle Verschlusserkrankung mit 30 anzusetzen, insgesamt rechtfertige sich ein GdB von 60. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B" und "aG" seien derzeit nicht gegeben.

Daraufhin hat der Beklagte sich mit Schriftsatz vom 31. März 2004 bereit erklärt, den GdB ab Oktober 2001 mit 60 zu bewerten. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen, jedoch weiterhin einen GdB von 70 sowie das Merkzeichen "B" begehrt. Sein Gesundheitszustand habe sich weiter verschlechtert, was vom Sachverständigen nicht berücksichtigt worden sei. Seit Mitte März 2004 betrage die Gehstrecke, die er ohne größere Schmerzen bzw. Pausen zurücklegen könne, nur noch 100 Meter. Außerdem sei es seit Anfang April 2004 mehrfach zu Stürzen gekommen. Mit Bescheid vom 13. August 2004 hat der Beklagte entsprechend dem Teilanerkenntnis ab 1. Oktober 2001 einen GdB von 60 festgestellt.

Schließlich hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Dr. E. In seinem am 3. November 2004 fertig gestellten Gutachten ist er zu folgenden Diagnosen gekommen: 
• Operativ durch Spondylodese versorgte Spinalstenose bei Segmentinstabilität mit Radikulopathie 
• Chronisch-rezidivierendes Cervicalsyndrom bei bekannten Bandscheibenschäden ohne Funktionseinschränkung 
• Operativ versorgte Unterarmfraktur 1982 ohne Funktionseinschränkung 
• Initiale Arthrose der Hüftgelenke ohne Funktionseinschränkung 
• Periphere arterielle Verschlusserkrankung vom Oberschenkeltyp beiderseits nach Stadium II a rechts und II b links nach Fontaine mit Verdacht auf Claudicatio. 
Der Gesamt-GdB betrage 60 bei Einzel-GdB-Werten von 40 für den Wirbelsäulenschaden und 30 für die arterielle Verschlusskrankheit. Der Zustand bestehe seit April 2000. Der Kläger sei zwar in der Lage, in eingeschränkter Weise alleine öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, jedoch könne er die Wegstrecke von zu Hause bis zur nächst gelegenen Haltestelle nicht alleine zu Fuß bewältigen. Er könne alleine in einen Bus und in eine U-Bahn oder S-Bahn oder einen Zug ein- bzw. aus dem Zug aussteigen. Allerdings bestehe eine verminderte Stand- und Haltesicherheit, um während des Anfahrens einen Sitzplatz aufzusuchen. Die Standsicherheit, sich während der Fahrt im Zug stehend aufzuhalten, sei derzeit nicht gegeben. Deswegen sei es ihm momentan nicht zumutbar, alleine öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, nach dem Gutachten liege zwar derzeit die Notwendigkeit für eine ständige Begleitung vor, jedoch nicht auf Dauer.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger nur noch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" beantragt.

Mit Urteil vom 15. Februar 2005 hat das Sozialgericht Potsdam den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 19. Juli und 27. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2001 und unter Berücksichtigung der Teilanerkenntnisse verurteilt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B" ab November 2004 festzustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar habe der Kläger den Nachteilsausgleich "B" erst während des Gerichtsverfahrens geltend gemacht, dabei handele es sich jedoch um eine zulässige Klageerweiterung. Der Kläger habe Anspruch auf das Merkzeichen "B", weil nach den Feststellungen des Gutachters Dr. E eine Stand- und Gangunsicherheit bestehe, weswegen der Kläger während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln fremder Hilfe bedürfe bzw. eine solche Hilfe bereit stehen müsse.

Gegen das am 17. März 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 15. April 2005 eingegangene Berufung des Beklagten. Er macht geltend, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" seien nicht erfüllt. Das Sozialgericht gebe zur Begründung seiner Entscheidung an, dass der Kläger wegen seiner Stand- und Gangunsicherheit während der Fahrt des Verkehrsmittels nicht in der Lage sei, sicher einen Sitzplatz aufzusuchen. Im Übrigen könne der Kläger nur für kurze Zeit in einer bestimmten Position verharren und müsse seine Körperhaltung auch während der Fahrt im Verkehrsmittel wechseln, was nicht ohne fremde Hilfe möglich sei. Er sei demgegenüber der Auffassung, aus dem Gutachten des Dr. E ergebe sich, dass der Kläger alleine in ein Verkehrsmittel ein- sowie aus dem Verkehrsmittel aussteigen und während der Fahrt festhaltend einen Sitzplatz aufsuchen oder den einstiegsnahen Schwerbehindertensitzplatz erreichen könne.

Das Gericht hat zunächst Befundberichte des behandelnden Orthopäden Dr. R-L vom 8. November 2005 und der Fachärztin für Allgemeinmedizin F vom 29. November 2003 eingeholt. Anschließend hat es eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. E zum Vortrag des Beklagten und den neu eingeholten Befundberichten veranlasst. In seiner Stellungnahme vom 21. Februar 2006 hat der Sachverständige seine Beurteilung aufrechterhalten. Er hat darauf hingewiesen, dass es dem Kläger derzeit nicht zumutbar sei, ganz alleine öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Dabei müsse es sich aber nicht um eine dauerhafte Situation handeln. Aus den neuen Befundberichten ergäben sich keine Hinweise auf eine deutliche Verbesserung oder Verschlechterung des Zustandes.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 15. Februar 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das sozialgerichtliche Urteil für zutreffend. Der Sachverständige Dr. E habe eindeutig festgestellt, dass eine Begleitung erforderlich sei. Außerdem sei es zu einer weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, insbesondere bezüglich der Bewegungsfähigkeit gekommen. Inzwischen seien von der Krankenkasse die Kosten für einen starren Zimmerrollstuhl übernommen worden.

Mit Schreiben vom 4. Mai, 29. Mai und 12. Juli 2006 hat der ab 1. April 2006 für die Bearbeitung des Rechtsstreits zuständige 11. Senat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass er die Klage bezüglich des Merkzeichens "B" für unzulässig halten könnte, weil bereits ein angefochtener Bescheid des Beklagten nach § 54 SGG, in welchem dieser über das Merkzeichen entschieden habe, fehle.

Der Kläger ist demgegenüber der Auffassung, es handele sich bei der Beantragung des Merkzeichens "B" in der mündlichen Verhandlung vom 27. August 2003 um eine unschädliche Klageerweiterung nach § 99 Abs. 3 SGG. Das erstinstanzliche Gericht habe ausdrücklich auf die Geltendmachung eines sachgerechten Streitgegenstandes hingewirkt und dementsprechend auch gerade keine Klageänderung nach § 99 Abs. 1 bzw. 2 SGG angenommen. Darüber hinaus habe der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 27. August 2003 auch in die Einbeziehung des Merkzeichens "B" in den Rechtsstreit eingewilligt. Im Übrigen habe der Beklagte in seinen Bescheiden auch über die Höhe des GdB sowie das Vorliegen von Nachteilsausgleichen entschieden. Zwar habe er sich explizit zu "B" nur im Rahmen des Sachvortrages gegenüber dem Gericht geäußert, dies müsse jedoch ausreichend sein. Zur Frage des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "B" sei umfangreich ermittelt und von beiden Beteiligten ausführlich vorgetragen worden. Dass der Beklagte nicht ausdrücklich einen Bescheid zu "B" erlassen habe, habe er – der Kläger - nicht zu vertreten. Eine andere Auffassung würde die prozessualen Erfordernisse überspitzen und nur zu weiteren Kosten und einer verlängerten Verfahrensdauer führen. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass § 99 Abs. 4 SGG Anwendung finde.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Die den Kläger betreffende Schwerbehindertenakte des Beklagten lag dem Senat vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "B". Die auf diesen Nachteilsausgleich gerichtete Klage ist unzulässig, weil eine bescheidmäßige Entscheidung des Beklagten, die einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich wäre, weder im Verwaltungsverfahren getroffen noch im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurde.

In seinem formularmäßigen Antrag an den Beklagten vom 10. April 2000 hatte der Kläger nur die Feststellung eines GdB wegen einer Wirbelsäulenerkrankung sowie des Merkzeichens "aG" begehrt. Mit Bescheiden vom 19. Juli 2000, 27. September 2000 (Abhilfebescheid) und 3. April 2001 (Widerspruchsbescheid) hat der Beklagte über die Höhe des GdB, das Vorliegen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit sowie das Merkzeichen "aG" entschieden. Feststellungen bzw. Ausführungen zu weiteren Merkzeichen finden sich in diesen Bescheiden nicht, insbesondere sind auch keine Leerformeln enthalten wie beispielsweise "weitere Nachteilsausgleiche waren nicht festzustellen".

Mit der Klageschrift hat der Kläger zunächst einen GdB von wenigstens 70 sowie die Feststellung der "gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes" begehrt. Weder in der Klageschrift noch in den folgenden Schriftsätzen wurde der Antrag bezüglich des Merkzeichens konkretisiert oder weiterer Vortrag geleistet, aus welchem sich klare Rückschlüsse darauf ziehen ließen, welches Merkzeichen begehrt werden sollte. Das Klagebegehren konnte daher zunächst in Anbetracht des Vorbringens im Verwaltungsverfahren nur so interpretiert werden, dass der Kläger weiterhin den bisher beanspruchten Nachteilsausgleich "aG" beantragte. Auch der Beklagte hat – über den reinen Klageabweisungsantrag hinaus – keine Äußerungen zu Merkzeichen gemacht. Der Schriftverkehr konzentrierte sich ganz auf die Problematik der Höhe des GdB.

Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2002 hat der Beklagte einen GdB von 50 sowie das Merkzeichen "G" ab Oktober 2001 anerkannt. Der entsprechende Bescheid datiert vom 14. Oktober 2003. Weder das Anerkenntnis noch die beigefügte versorgungsärztliche Stellungnahme vom 10. Dezember 2002 oder der Bescheid vom 14. Oktober 2003 enthalten Ausführungen zu weiteren Merkzeichen.

Erst im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 27. August 2003 sind der klägerische Antrag konkretisiert und nunmehr –unter impliziter teilweiser Klagerücknahme – ein höherer GdB als 50 ab Oktober 2001 sowie die Merkzeichen "B" und "aG" beantragt worden. In diesem Termin hat der Beklagtenvertreter erklärt, gegen die "Einbeziehung des Nachteilsausgleichs "B" keine Bedenken zu haben.

Danach ist von den Beteiligten Vortrag zu den beiden Merkzeichen erfolgt. Darüber hinaus hat das Sozialgericht auch zur Frage des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens ermittelt, erst durch Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des Dr. E und dann durch Einholung eines Gutachtens durch denselben Arzt. In der Zwischenzeit hat der Beklagte am 31. März 2004 ein weiteres Anerkenntnis abgegeben – umgesetzt durch Bescheid vom 13. August 2004 -. Die diesem Anerkenntnis beigefügte versorgungsärztliche Stellungnahme vom 15. März 2004 hat Ausführungen zu "B" enthalten, das Anerkenntnis und der Bescheid jedoch nicht.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger– wieder unter impliziter teilweiser Klagerücknahme – "noch" den Nachteilsausgleich "B" beantragt. Mit Urteil vom selben Tag hat das Sozialgericht das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für "B" ab November 2004 festgestellt. Im Rahmen der Urteilsbegründung hat es die Beantragung von "B" im Klageverfahren als zulässige Klageerweiterung angesehen.

Aus dem dargestellten Ablauf folgt, dass kein Verwaltungsakt des Beklagten vorliegt, durch welchen dieser über das Merkzeichen "B" entschieden hätte. Eine bescheidmäßige Entscheidung des Beklagten zu diesem Nachteilsausgleich war im Rahmen des durchgeführten Verwaltungsverfahrens auch unter dem Aspekt des § 17 Abs. 1 Erstes Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht erforderlich, denn ein GdB von wenigstens 50 ist nicht zuerkannt worden. Daher ist hier die Frage einer – zulässigen – Klageänderung nach § 99 SGG zu stellen. Anders als das Sozialgericht und die Beteiligten meinen, handelt es sich bei der Beantragung des Merkzeichens "B" im Klageverfahren nicht um eine unschädliche Erweiterung des Klageantrags nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG, weil der Kläger mit dem Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "B" einen neuen Streitgegenstand eingeführt und nicht lediglich seinen Klageantrag auf einen höheren GdB bzw. Zuerkennung anderer Merkzeichen erweitert oder ergänzt hat (vgl. Beschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Dezember 1995 – 9 BVs 28/95 – ). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG stellt die Feststellung von Merkzeichen einen von der Höhe des GdB unabhängigen Streitgegenstand dar (vgl. BSG a. a. O. und Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 -). Somit kann nur eine Klageänderung in Frage kommen. Hier kann es wegen § 99 Abs. 4 SGG letztlich dahin stehen, ob es sich um eine – zulässige - Klageänderung bzw. eine Erweiterung des Klageantrags nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG gehandelt hat.

Voraussetzung ist in jedem Fall, dass die - geänderte - Klage zulässig ist (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 8. Aufl. Randnr. 13 a zu § 99). Für eine Klageänderung gelten die üblichen Prozessvoraussetzungen wie für eine neue Klage (vgl. Urteile des BSG vom 16. November 2005 – B 2 U 28/04 R – und 31. Juli 2002 - B 4 RA 113/00 R – sowie - B 4 RA 3/01 R -). Dazu gehört im Falle der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage die Durchführung eines vorherigen Verwaltungsverfahrens mit einem abschließenden Bescheid und eines Vorverfahrens mit einem Widerspruchsbescheid (vgl. Urteil des BSG vom 16. November 2005 – B 2 U 28/04 R -). Liegt – wie hier - kein Verwaltungsakt vor, ist die Klage unzulässig (vgl. BSG a. a. O. sowie Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a. a. O. Randnr. 8 zu § 54).

Auf das Vorliegen eines Verwaltungsaktes kann auch nicht verzichtet werden. Soweit der 9. Senat des BSG in seinen Urteilen vom 15. August 1996 – 9 RVs 10/94 – (SozR 3-3870 § 4 Nr. 13) und 27. August 1998 – B 9 SB 13/97 R – eine andere Rechtsauffassung vertreten hat, kann der Senat dem nicht folgen. In seiner Entscheidung vom 15. August 1996 hat der 9. Senat des BSG ausgeführt, es sei anerkannt, dass es der Nachholung eines förmlichen Widerspruchsverfahrens nicht bedürfe, wenn die prozessführende Behörde mit der Widerspruchsbehörde identisch sei, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes im gerichtlichen Verfahren verteidige und Fragen des Ermessens oder der Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns keine Rolle spielten (Verweis auf BSG SozR 1500 § 78 Nrn. 8 und 15). In dem Falle entspreche das Prozessvorbringen seinem Inhalt nach einer Widerspruchsentscheidung oder jedenfalls sei daraus mit Sicherheit zu entnehmen, dass auch bei Nachholung des Widerspruchsverfahrens eine gerichtliche Auseinandersetzung nicht zu vermeiden sei (Verweis auf BSG SozR 4100 § 136 Nr. 4; BVerwGE 27, 141, 143; 181, 185; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl. 1993, Randnr. 3 zu § 78 SGG). In dieser Konstellation könne das Vorverfahren seinen Zweck, die Verwaltung in die Lage zu versetzen, ihr Handeln im Wege der Selbstkontrolle zu überprüfen und die Gerichte vor unnötiger Inanspruchnahme zu schützen, nicht mehr erreichen; seine Durchführung sei reiner Formalismus. Darüber hinaus könne auch das erst mit einem abschließenden Bescheid endende Verwaltungsverfahren durch den Verlauf eines anhängigen Rechtsstreits entbehrlich werden, weil von einer eigenständigen Verwaltungsentscheidung nichts anderes zu erwarten sei als eine Bestätigung des prozessualen Vorbringens, und die Verwaltung durch rügelose Einlassung oder gar durch ausdrückliches Einverständnis auf ihren Vorrang zur Gesetzesausführung verzichtet habe. In diesem Fall sei eine Entlastung des Gerichts nicht zu erreichen, die Nachholung des Verwaltungsverfahrens würde nur dazu führen, die Beilegung des Streites zu verzögern. Das Ziel der Verfahrensbeschleunigung habe dann Vorrang vor der Einhaltung der Förmlichkeiten. Das Gesetz gebe in § 75 Abs. 5 SGG auch ein ausdrückliches Beispiel für einen solchen Vorrang, wenn es ohne erneutes Verwaltungsverfahren die Verurteilung eines Versicherungsträgers oder eines Landes als Versorgungsträger erlaube. Die enge Auslegung dieser Vorschrift (Verweis auf BSG SozR 5090 § 6 Nr. 4) sei nur Folge ihres Ausnahmecharakters, bedeute aber nicht, dass sonst keine weiteren Fälle eines Absehens von einem selbständigen Verwaltungsverfahren in Betracht kämen. In dem vom 9. Senat zu entscheidenden Fall zog das BSG den Schluss, dass, nachdem der Sachverhalt in medizinischer Hinsicht aufgeklärt gewesen sei, die Versorgungsverwaltung auf den neuen Sachverhalt eingegangen sei und sich abschließend dazu geäußert habe, von der Durchführung eines selbständigen Verwaltungsverfahrens nur eine Verzögerung der Streiterledigung zu erwarten sei.

Ausgangspunkt dieser Argumentation ist, dass ein Widerspruchsverfahren nicht unbedingt erforderlich sei. In seiner vorstehend dargestellten Entscheidung verweist der 9. Senat auf seine alte Rechtsprechung zur Kriegsopferversorgung (Urteil vom 2. August 1977 - 9 RV 102/76 - in SozR 1500 § 78 Nr. 8) noch zur Zeit der Geltung von §§ 78 Abs. 2 und 85 Abs. 4 SGG alter Fassung. § 78 Abs. 2 SGG lautete bis zum 2. Oktober 1990: "In Angelegenheiten der Unfallversicherung, der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten und der Kriegsopferversorgung ist die Anfechtungsklage auch ohne Vorverfahren zulässig, wenn die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt wird, der eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht". § 85 Abs. 4 SGG, der durch das Gesetz vom 30. Juli 1974 eingeführt und durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. März 1993 aufgehoben worden ist, sah vor, dass die Widerspruchsstelle in bestimmten Sachgebieten den Widerspruch, dem sie nicht stattgeben wollte, mit Zustimmung des Widerspruchsführers an das zuständige SG als Klage abgeben konnte. Aus diesen beiden Vorschriften hat der 9. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 2. August 1977 auf eine Alternativität von Klage- und Widerspruchsverfahren geschlossen, die es als entbehrlich erscheinen lasse, das Widerspruchsverfahren durchzuführen, wenn sich die Behörde im Klageverfahren auf einen bestimmten Standpunkt festgelegt habe.

Mit der Aufhebung beider Vorschriften, die damit begründet worden ist, das Widerspruchsverfahren müsse seine Filterfunktion auch gerade im Interesse der Entlastung der Sozialgerichte zurückgewinnen (BT-Drucksache 11/7817 S. 14 zu § 78 SGG sowie BT-Drucksache 12/1217 S. 50 zu § 85 Abs. 4 SGG), ist die Grundlage dieser Rechtsauffassung jedoch nach Auffassung des Senats weitgehend entfallen (vgl. auch das Urteil des 6. Senats des BSG vom 3. März 1999 – B 6 KA 10/98 R – sowie ausführlich Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 8. Aufl., Randnr. 3 c zu § 78 abweichend von der noch in der 5. Aufl. vertretenen Auffassung).

Jedenfalls kann aus der Möglichkeit der Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens nicht auch noch auf eine Entbehrlichkeit des Verwaltungsverfahrens an sich geschlossen werden, denn auf diese Weise würde sich die Rechtsprechung an die Stelle der Exekutive setzen. Die Sozialgerichte als besondere Verwaltungsgerichte sind allein dazu berufen, Verwaltungshandeln zu kontrollieren, nicht aber sich an die Stelle einer Verwaltungsbehörde zu setzen und als erste staatliche Instanz an Stelle der vollziehenden Gewalt verwaltungsaktersetzende Regelungen zu treffen (vgl. Beschluss des BSG vom 16. März 2006 – B 4 RA 24/05 B -). Ein solches Vorgehen der Gerichte verstieße gegen das Gewaltenteilungsprinzip (Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG)). Allein der Aspekt der Praktikabilität und Verfahrensökonomie rechtfertigt es nicht, dieses grundlegende Prinzip der Rechtsordnung auszuhebeln. Denn ansonsten würde das Verwaltungsverfahren gerade in Rechtsstreitigkeiten nach dem SGB IX weitgehend obsolet werden. Angesichts des sich naturgemäß ständig verändernden Gesundheitszustands des Menschen könnten somit während des Gerichtsverfahrens immer neue Streitgegenstände eingeführt werden, über die die Sozialgerichte dann unter Übernahme der Aufgaben der Verwaltung zu entscheiden hätten. Das Prinzip der Gewaltenteilung zwingt auch zu einer engen Auslegung der vom 9. Senat in Bezug genommenen Ausnahmevorschrift des § 75 Abs. 5 SGG, so dass diese Vorschrift hier gerade nicht herangezogen werden kann, um eine Entbehrlichkeit des anzufechtenden Verwaltungsaktes auch in sonstigen Fällen zu begründen.

Es kann daher nicht ausreichend sein, dass die Beteiligten im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens umfangreich zum Merkzeichen "B" vorgetragen haben und dass von gerichtlicher Seite hierzu ermittelt worden ist. Vielmehr ist daran festzuhalten, dass über die Gewährung von Sozialleistungen einschließlich der Leistungen an Behinderte nach dem SGB IX und der nach diesem Gesetz festzustellenden Behinderungen, Behinderungsgrade und gesundheitlichen Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen vor Klageerhebung in einem Verwaltungsverfahren zu befinden ist, das mit einem Verwaltungsakt abschließt, gegen den (erst) die Klage vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zulässig ist ( so auch BSG Urteil vom 16. November 2005 – B 2 U 28/04 R -).

Die Klage ist in diesem Fall deshalb als unzulässig abzuweisen (vgl. Urteil des BSG vom 16. November 2005 – B 2 U 28/04 R -). Der Rechtsstreit war nicht analog § 114 Abs. 2 SGG auszusetzen, denn vorliegend wäre nicht lediglich das Widerspruchsverfahren nachzuholen. Nur für den Fall der Klageerhebung vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens sind die Tatsachengerichte verpflichtet, das Verfahren bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens auszusetzen (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a. a. O. Randnr. 3 a zu § 78 m. w. N.). Dies gilt jedoch nicht, wenn überhaupt kein Verwaltungsakt vorliegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt einerseits, dass die Klage unzulässig ist, soweit sie aufrecht erhalten wurde, der Kläger seine Klage hinsichtlich eines GdB von 70 und des Merkzeichens "aG" zurückgenommen hat und der GdB von 60 nebst Merkzeichen "G" erst ab 1. Oktober 2001 (d. h. nach Klageerhebung) festgestellt worden ist. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Sachverständige Dr. E den gesundheitlichen Zustand seit April 2000 – also seit Antragstellung - für weitgehend unverändert gehalten hat und somit das Merkzeichen "G" und ein GdB von 60 bereits vor Klageerhebung zugestanden haben könnten. Des Weiteren war zu bedenken, dass der Beklagte bereit war, den vom Senat angeregten Vergleich abzuschließen, der Kläger jedoch trotz der mehrfachen schriftlichen Belehrungen des Senats und der ausführlichen Erörterung in der mündlichen Verhandlung an seiner Rechtsauffassung festgehalten hat.

Die Revision ist zuzulassen, weil das Urteil von den Entscheidungen des 9. Senats des BSG (- 9 RVs 10/94 – und – B 9 SB 13/97 R -) abweicht (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG).