Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 11 SB 254/15 - Urteil vom 28.01.2016
Bei Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Dies zugrundegelegt ist bei einem auf Feststellung "eines höheren GdB als 20" gerichteten Antrag bei lebensnaher Betrachtung zunächst davon auszugehen, dass die Feststellung eines GdB beantragt wird, der höher ist als 20. Da zudem Hinweise auf eine irgendwie geartete Obergrenze fehlen, kann die Formulierung vom reinen Wortverständnis her ferner nur so verstanden werden, dass damit ein nach oben offener Antrag gestellt worden ist.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50.
Die 1951 geborene Klägerin wandte sich am 27. Juni 2014 mit dem dafür vorgesehenen behördlichen Vordruck an den Beklagten und beantragte, den GdB sowie jedenfalls das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) festzustellen und ihr einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) auszustellen. Diesem Antrag fügte sie ein Passfoto bei und machte unter Vorlage ärztlicher Unterlagen geltend, dass sie durch Gelenkprobleme, ein Wirbelsäulenleiden, ein Augenleiden, Schlafstörungen, eine Allergie, eine Schwerhörigkeit, ein Venenleiden sowie durch vermutlich auf Rheuma zurückzuführende Beschwerden in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei. Der Beklagte holte Befundberichte ihrer behandelnden Ärzte ein und stellte auf der Grundlage einer ärztlichen Stellungnahme von Dr. Z mit seinem Bescheid vom 25. August 2014 fest, dass der GdB im Fall der Klägerin 20 betrage. Das Vorliegen von Merkzeichen, insbesondere das Vorliegen des Merkzeichens "G", könne nicht festgestellt werden. Zur Begründung führte er aus, dass bei der Klägerin erstens eine Schwerhörigkeit beidseits sowie zweitens eine Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, eine Funktionsbehinderung der Finger und eine Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseits vorlägen, die er intern mit Einzel-GdB von jeweils 20 bewertete.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 2. September 2014 unter dem Betreff "Ihr Bescheid vom 25. 08.2014 über die Feststellung [des] Grades der Behinderung von 20" Widerspruch ein und führte aus, sie gehe davon aus, dass der Beklagte entweder keine vollständigen Arztberichte eingeholt oder die eingeholten Arztberichte nicht in vollem Umfange berücksichtigt habe, und bitte um Einsicht in die Entscheidungsgrundlagen. Nachdem ihr der Beklagte die eingeholten Befundberichte sowie die ärztliche Stellungnahme von Dr. Z übersandt hatte, machte sie mit weiterem Schreiben vom 9. November 2014 geltend, dass sie nunmehr gegen Rheuma medikamentös behandelt werde, wodurch unerwünschte Nebenwirkungen aufträten. Sie sei der Meinung, "dass die Verschlechterung [ihres] Zustandes einen höheren GdB als 20 darstellt", und bitte um erneute Bewertung. Der Beklagte holte daraufhin einen weiteren Befundbericht ein und legte die vorhandenen medizinischen Unterlagen dem Chirurgen/Gefäßchirurgen Dr. L vor, der empfahl, bei der Klägerin erstens eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, zweitens eine Schwerhörigkeit beidseits und drittens eine entzündlich-rheumatische Erkrankung der Gelenke als Behinderungen zu berücksichtigen, diese Behinderungen mit Einzel-GdB von jeweils 20 zu bewerten und den Gesamt-GdB mit 30 festzustellen.
Dieser Empfehlung folgend gab der Beklagte dem Wortlaut seiner Ausführungen nach dem Widerspruch mit seinem Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2015 statt und stellte den GdB unter Wiedergabe der von Dr. L angeführten Funktionsbeeinträchtigungen mit 30 fest. Daneben stellte er fest, dass die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hätten, und verfügte, dass der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen erstattet würden.
Hiergegen hat die Klägerin am 2. Februar 2015 entsprechend der dem Widerspruchsbescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung bei dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben und geltend gemacht, sie habe Anspruch auf Feststellung eines GdB von "mindestens 50". Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt: Entgegen der von dem Beklagten im Klageverfahren vertretenen Auffassung sei ihre Klage zulässig. Obwohl der Beklagte den GdB mit seinem - immerhin mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenden - Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2015 auf 30 angehoben habe, sei sie weiterhin beschwert. Denn ebenso wie mit ihrem ursprünglichen Antrag im Verwaltungsverfahren sei es ihr auch mit ihrem Widerspruch darum gegangen, den Schwerbehindertenstatus zu erlangen. Dies habe sie als juristischer Laie hinreichend dadurch deutlich gemacht, dass sie die Feststellung eines "höheren GdB als 20" beantragt und damit einen nach oben offenen Antrag gestellt habe. Dieser Antrag könne nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Feststellung eines GdB von "mindestens 30" begehrt habe und bereits mit der Feststellung eines GdB von 30 zufrieden gewesen wäre. Soweit der 13. Senat des heute nicht mehr existierenden Landessozialgerichts (LSG) Berlin mit seinem Urteil vom 29. Oktober 2002 - L 13 SB 59/01 - entschieden habe, dass ein Antrag auf Zuerkennung eines GdB von "mehr als 20" nach dem Wortsinn auf die Zuerkennung eines GdB von "mindestens 30" gerichtet sei, weil der nach Zehnergraden abgestuft festzustellende GdB von 30 den nächsten Schritt nach dem GdB von 20 darstelle, könne dem nicht gefolgt werden. Jedenfalls lägen in ihrem Fall aber auch außerhalb des Erklärungsakts selbst liegende Begleitumstände vor, die bei sachgerechter Auslegung ihres Widerspruchsvorbringens den Schluss darauf zuließen, dass sie auch schon im Widerspruchsverfahren die Feststellung eines GdB von (mindestens) 50 begehrt habe. So habe sie im Antragsverfahren auch die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises beantragt und ein Passbild übersandt, woraus ersichtlich sei, dass es ihr um den Schwerbehindertenstatus gegangen sei. Damit komme es in ihrem Fall auf das von dem Beklagten im Klageverfahren angeführte Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. August 1995 - 9 RVs 7/94 - nicht an. Denn dort sei eine fortdauernde Beschwer nur für den Fall verneint worden, in dem der Kläger im Widerspruchsverfahren einen bestimmten Mindest-GdB (dort von 50) verlangt habe und ihm dieser GdB (von 50) zuerkannt worden sei. So liege ihr Fall indes nicht. Des Weiteren sei ihre Klage auch begründet, weil sie unter Funktionsbeeinträchtigungen leide, die mit dem beantragten Gesamt-GdB zu bewerten seien.
Nach entsprechender Anhörung hat das Sozialgericht die Klage mit seinem Gerichtsbescheid vom 27. August 2015 abgewiesen und unter gleichzeitiger Verneinung eines Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin gegen den Beklagten ausgeführt: Die Klage sei unzulässig. Der Beklagte habe dem Widerspruchsbegehren der Klägerin mit seinem Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2015 vollständig abgeholfen. Denn die Klägerin habe ihr Widerspruchsbegehren mit ihrem Schreiben vom 11. November 2014 (gemeint ist das Schreiben vom 9. November 2014) dahingehend konkretisiert, dass es ihr um einen GdB von "mindestens 30" gegangen sei. Soweit sie in diesem Schreiben ausgeführt habe, dass sie einen "höheren GdB als 20" erstrebe, sei diese Erklärung auf der Grundlage der von ihr angeführten Entscheidung des LSG Berlin dahingehend auszulegen, dass sie einen GdB von "mindestens 30" begehrt habe. Außerhalb des Erklärungsakts selbst liegende Begleitumstände, die den Schluss darauf zuließen, dass die Klägerin entgegen dem Wortsinn ihrer Erklärung die Feststellung eines GdB von "mindestens 50" begehrt haben könnte, lägen nicht vor. Denn insoweit komme es nicht auf die Begleitumstände des ursprünglichen Antrags an, der mehrere Monate vor dem Widerspruch gestellt worden sei. Maßgeblich seien vielmehr die Begleitumstände des das Widerspruchsbegehren konkretisierenden Schreibens vom "11". November 2014, die hier zu keiner anderen Auslegung führen könnten. Dies habe zur Folge, dass die Klägerin nach dem von dem Beklagten angeführten Urteil des BSG nach dem Erlass des Widerspruchsbescheides nicht mehr beschwert gewesen sei, weil der GdB auf zumindest den Betrag festgesetzt worden sei, der im Widerspruchsantrag als Mindestbetrag bezeichnet worden sei. Der Klägerin bleibe es unbenommen, einen Neufeststellungsantrag oder einen Überprüfungsantrag zu stellen.
Gegen diesen ihr am 3. September 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15. September 2015 Berufung eingelegt und ihr bisheriges Vorbringen weiter vertieft. Da das Sozialgericht die Klage zu Unrecht abgewiesen habe, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, sei bei zeitnaher Entscheidung über ihre Berufung davon Gebrauch zu machen, die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. August 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 25. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2015 zu verurteilen, den Grad der Behinderung zugunsten der Klägerin für die Zeit ab dem 27. Juni 2014 mit mindestens 50 festzustellen, hilfsweise die Sache an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie den die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 27. August 2015 und einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht auch begründet.
Rechtsgrundlage für diese Entscheidung ist § 159 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Hiernach kann das LSG die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage (zu Unrecht) abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Denn das Sozialgericht hat die Klage - gestützt auf eine fehlende Beschwer der Klägerin - zu Unrecht als unzulässig abgewiesen, ohne eine Sachentscheidung zu treffen.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sind die Sachurteilsvoraussetzungen im Fall der Klägerin zu bejahen. Insbesondere fehlt es für die von ihr form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, mit der sie unter gleichzeitiger Änderung des Bescheides des Beklagten vom 25. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2015 die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung eines GdB von "mindestens 50" für die Zeit ab der Antragstellung bei dem Beklagten am 27. Juni 2014 begehrt, nicht an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Denn eine Erledigung ihres Widerspruchsbegehrens ist durch den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2015 nicht eingetreten, weil der Beklagte ihrem Widerspruch nicht in vollem Umfang abgeholfen hat.
Ob die Behörde einem Widerspruch in vollem Umfang abgeholfen hat, ist anhand eines Vergleichs zu beurteilen, bei dem gegenüberzustellen ist, was der Widerspruchsführer mit seinem Widerspruch begehrt hat und was ihm aufgrund seines Widerspruchs von der Behörde zuerkannt worden ist. Dieser Vergleich ergibt im vorliegenden Fall, dass der Beklagte dem Widerspruchsbegehren der Klägerin nicht zur Gänze stattgegeben hat.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist das Widerspruchsbegehren der Klägerin hier dahingehend zu verstehen, dass sie die Feststellung eines GdB in maximaler Höhe erreichen und lediglich die Zuerkennung von Merkzeichen, insbesondere die Zuerkennung des Merkzeichens "G", nicht mehr geltend machen wollte. Insoweit geht der Senat mit dem Sozialgericht davon aus, dass die Klägerin ihren mit ihrem Schreiben vom 2. September 2014 zunächst nur fristwahrend eingelegten Widerspruch mit ihrem Schreiben vom 9. November 2014 dadurch konkretisiert hat, dass sie erklärt hat, dass "die Verschlechterung [ihres] Zustandes einen höheren GdB als 20 darstellt" und sie um erneute Bewertung bitte.
Wie diese Erklärung zu verstehen ist, ist durch Auslegung zu ermitteln, für die in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG zur Auslegung von Prozesserklärungen (vgl. hierzu z. B. BSG, Urteil vom 22. März 1988 - 8/5 a RKn 11/87 - juris) die Auslegungsregel des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches gilt. Danach ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften. Maßgebend ist, wie die Erklärung nach den Gesamtumständen zu verstehen ist, wobei neben dem Wortlaut der Erklärung auch alle sonstigen Umstände des Falles, wie z. B. sonstige Schreiben, vorherige Erklärungen sowie der Inhalt der Verwaltungsvorgänge zu beachten sind, soweit sie für den Empfänger der Erklärung erkennbar gewesen sind. Entscheidend ist der objektive Erklärungswert, d. h. die Erklärung muss so ausgelegt werden, wie der Empfänger sie bei Berücksichtigung aller Umstände verstehen konnte, wobei für den Fall, dass - wie hier - ein Verpflichtungsbegehren in Rede steht, nach dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden so genannten Meistbegünstigungsgrundsatz im Zweifel davon auszugehen ist, dass der Erklärende alles begehrt, was nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommt.
Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin mit ihrem Widerspruch geltend gemacht, dass der GdB zu ihren Gunsten in maximaler Höhe festzustellen sei. Insoweit ist bei lebensnaher Betrachtung zunächst davon auszugehen, dass die Klägerin die Feststellung eines GdB beantragt hat, der höher ist als 20. Da Hinweise auf eine irgendwie geartete Obergrenze fehlen, kann die Formulierung vom reinen Wortverständnis her ferner nur so verstanden werden, dass damit ein nach oben offener Antrag gestellt worden ist. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass die Klägerin - was der Beklagte aus dem Antragsformular objektiv erkennen konnte - keine Juristin ist und ihre Wortwahl deshalb daran gemessen werden muss, was von juristischen Laien üblicherweise mit der gewählten Formulierung zum Ausdruck gebracht wird. Üblicherweise wird von juristischen Laien damit jedoch ein Begehren ausgedrückt, das alle Behinderungsgrade erfasst, die den genannten Wert (hier 20) überschreiten. Eine Beschränkung auf den nächst höheren Wert ist damit vom Wortsinn her nicht verbunden, was auch dann nicht anders beurteilt werden könnte, wenn unterstellt werden müsste, dass der betroffene Antragsteller bei Abgabe der Erklärung wusste, dass der GdB nach den insoweit einschlägigen Bestimmungen des SGB IX nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen ist (a. A. LSG Berlin, Urteil vom 29. Oktober 2002 - L 13 SB 59/01 - juris).
Auch die sonstigen für den Beklagten seinerzeit objektiv erkennbaren Umstände des Falles lassen eine Beschränkung des Begehrens nach oben nicht erkennen. Dies gilt bereits vor dem Hintergrund, dass sich die Klägerin mit ihrem ursprünglichen Antrag auf eine Vielzahl von Erkrankungen berufen hat, von denen der Beklagte in dem angefochtenen Ausgangsbescheid nur einigen Behinderungsrelevanz beigemessen hat, und die Klägerin nicht deutlich gemacht hat, dass sie auf die Geltendmachung der in schwerbehindertenrechtlicher Hinsicht unberücksichtigt gebliebenen Erkrankungen verzichten wollte. Dass zur Auslegung des Widerspruchs auf den ursprünglichen Antrag zurückgegriffen werden kann, erscheint dem Senat nach den eingangs wiedergegebenen Auslegungsregeln nicht zweifelhaft. Denn der Antrag umschreibt das ursprüngliche Begehren, das bei (teilweiser) Ablehnung durchaus Rückschlüsse darauf erlaubt, was mit dem dagegen gerichteten Widerspruch gewollt gewesen sein könnte. Dass zwischen der Antragstellung und der Konkretisierung des Widerspruchs naturgemäß eine gewisse Zeit liegt, steht dem nicht entgegen. Insoweit müssten erkennbare Umstände hinzutreten, aus denen sich schließen ließe, dass der Betroffene von seinem ursprünglichen Begehren Abstand genommen haben könnte. Im konkreten Fall steht einem Rückgriff auf das ursprüngliche Antragsbegehren zudem auch deshalb nichts entgegen, weil sich die Klägerin in ihrem das Widerspruchsbegehren konkretisierenden Schreiben vom 9. November 2014 vor allem auf eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes berufen und damit den ursprünglichen Antrag konkludent in Bezug genommen hat. Bereits aus diesem Grund ist für die Auslegung ihres Widerspruchsbegehrens weiterhin von Bedeutung, dass sie mit dem ursprünglichen Antrag auch die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises beantragt und dem Beklagten ein Passbild übersandt hatte, was überhaupt nur dann Sinn hat, wenn sie jedenfalls den Schwerbehindertenstatus erlangen wollte, der rechtlich erst ab einem GdB von 50 zuerkannt werden kann. Nicht geschlossen werden kann indes aus den zuletzt genannten Umständen, dass sich die Klägerin mit der Feststellung eines GdB von 50 begnügen wollte, weil eine solche Beschränkung - anders als nunmehr möglicherweise im gerichtlichen Verfahren - nicht nach außen hin sichtbar geworden ist. Im Gegenteil spricht die Vielzahl der von ihr beschriebenen Beschwerden dafür, dass die Klägerin das maximal Mögliche erreichen wollte, was den Antrag unter Beachtung des Meistbegünstigungsgrundsatzes als einen nur durch den rechtlichen Maximalwert von 100 begrenzten Antrag erscheinen lässt. Dass die Klägerin von diesem Antrag im Widerspruchsverfahren abgerückt sein könnte, lässt sich unter Anlegung der oben genannten Maßstäbe objektiv nicht feststellen. Insbesondere fehlt es an nach außen hin sichtbaren Anhaltspunkten dafür, dass die Klägerin bei Einlegung des Widerspruchs oder Konkretisierung ihres Widerspruchsbegehrens etwaige Kostenrisiken abgewogen haben könnte, zumal dies für sie auch keine wirtschaftliche Bedeutung gehabt hätte, weil sie in dem ohnehin verfahrenskostenfreien Widerspruchsverfahren nicht anwaltlich vertreten gewesen ist.
Dem vorstehend beschriebenen Widerspruchsbegehren hat der Beklagte mit seinem Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2015 nicht in vollem Umfang abgeholfen. Denn er hat den GdB mit diesem Bescheid lediglich mit 30 festgestellt. Dass er diese Feststellung als Stattgabe bezeichnet und der Klägerin einen Anspruch auf Erstattung ihrer kompletten zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen eingeräumt hat, führt im vorstehenden Zusammenhang zu keinem anderen Ergebnis. Denn abgesehen davon, dass er die Feststellung nicht in einem Abhilfebescheid, sondern in einem Widerspruchsbescheid getroffen und die Klägerin des Weiteren über die Möglichkeit der Klageerhebung unterrichtet hat, ist die in Rede stehende Feststellung selbst eindeutig und bleibt hinter dem Widerspruchsbegehren zurück.
Damit kommt es für die Entscheidung über die Berufung der Klägerin auf das Urteil des BSG vom 9. August 1995 - 9 RVs 7/94 - (juris) nicht an. Denn wie die Klägerin diesbezüglich zutreffend dargelegt hat, ist in diesem Urteil eine fortdauernde Beschwer nur für den Fall verneint worden, in dem der Kläger im Widerspruchsverfahren einen bestimmten Mindest-GdB verlangt hat, der ihm mit dem Widerspruchsbescheid auch zuerkannt worden ist. Ein derartiger Fall liegt hier jedoch nach den vorstehenden Ausführungen nicht vor.
Ohne dass es damit im vorliegenden Fall darauf ankommt, weist der Senat allerdings darauf hin, dass die Entscheidung des BSG, die die Höhe des GdB ohnehin nur mittelbar betrifft, weil sie in einem Streitverfahren über die Höhe der Kosten des Vorverfahrens ergangen ist, aus seiner Sicht Bedenken begegnet. Denn sie lässt bereits unberücksichtigt, dass der juristische Laie mit der Wendung "mindestens" möglicherweise auch einen nach oben offenen Antrag verbindet. Zudem erscheint die Begründung des BSG für seine Entscheidung nicht zwingend. Sie schließt an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in die Zahlung von Schmerzensgeld betreffenden Streitverfahren an, in denen der BGH für den Fall, dass sich der jeweilige Kläger die Möglichkeit eines Rechtsmittels offen halten will, die Angabe eines Mindestbetrages verlangt, den er auf jeden Fall zugesprochen haben will und bei dessen Unterschreitung er sich als nicht befriedigt ansehen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 4. November 1969 - VI ZB 14/69 [VersR 1970, 83], Beschluss vom 21. Juni 1977 - VI ZA 3/75 - , Urteil vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95 - , Urteil vom 2. Februar 1999 - VI ZR 25/98 - Urteil vom 30. März 2004 - VI ZR 25/03 - [jeweils juris]). Diese Rechtsprechung des BGH beruht auf der Überlegung, dass der jeweilige Kläger nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung an sich gehalten ist, den eingeklagten Betrag genau zu beziffern, was jedoch in den Streitverfahren auf Zahlung von Schmerzensgeld typischerweise schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, weil die Höhe des Schmerzensgeldes unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach freiem Ermessen des Tatrichters festzusetzen ist. Um den jeweiligen Kläger nun von den mit der Verpflichtung zur Bezifferung verbundenen Risiken freizustellen (verlangt er zu viel, ist dies mit Kostennachteilen verbunden, verlangt er zu wenig, kann ihm das Gericht nur den eingeklagten Betrag zusprechen), erachtet der BGH in diesen Fällen ausnahmsweise einen unbezifferten Klageantrag für zulässig, fordert allerdings die Angabe einer ungefähren Größenordnung des Anspruchs oder die Angabe eines Mindestbetrages, den der jeweilige Kläger auf jeden Fall zugesprochen haben will. Verlangt der Kläger einen Mindestbetrag (üblicherweise wird insoweit ein in das Ermessen des Gerichts gestellter Betrag gefordert, mindestens aber ein konkret bezifferter Betrag), ist er nicht mehr beschwert, wenn ihm das Gericht in der Höhe des konkret bezifferten Mindestbetrages ein Schmerzensgeld zuspricht. Er kann das Urteil dann nicht mehr mit dem Ziel, ein höheres Schmerzensgeld zu erlangen, anfechten. Lediglich dem Gericht sind durch die Angabe des Mindestbetrages nach oben keine Grenzen gezogen; es kann in seiner Entscheidung folglich über den Mindestbetrag auch hinausgehen.
Diese Rechtsprechung will nun das BSG auf die Verfahren übertragen, in denen über die Feststellung eines GdB gestritten wird, weil die Ausgangslage insoweit ähnlich sei. Denn auch der GdB ließe sich nicht errechnen, sondern sei Ergebnis einer Bewertung unter Würdigung sämtlicher Einzelbehinderungen und ihrer wechselseitigen Beziehungen. Genau zu diesem Punkt setzt die Kritik des Senats ein. Die Aussage des BSG ist zwar für sich genommen zutreffend und findet sich - ebenso wie bereits in den früheren bis zum 31. Dezember 2008 maßgeblichen Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) - seit dem 1. Januar 2009 in kodifizierter Form in Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - Versorgungsmedizin-Verordnung - vom 10. Dezember 2008 in jeder ihrer Fassungen wieder. Anders als die Bemessung des Schmerzensgeldes steht die Feststellung des GdB jedoch nicht im freien Ermessen des Tatrichters, sondern bildet exakt das Ausmaß der Behinderung ab, für das im Übrigen auch nicht alle Gesamtumstände des Einzelfalls, sondern lediglich die im Einzelfall feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen und ihre wechselseitigen Beziehungen Bedeutung haben. Ob vor diesem Hintergrund tatsächlich von einer Lage gesprochen werden kann, die der Bemessung des Schmerzensgeldes ähnlich ist, erscheint zweifelhaft, wobei der Senat nicht verkennt, dass es den betroffenen Klägern ohne geeignete Beratung oftmals nicht möglich sein wird, den in ihrem Fall bestehenden GdB korrekt zu bestimmen, sie im Streitfall (bei anwaltlicher Vertretung) ebenfalls Kostenrisiken ausgesetzt sind und bei der Entscheidung an ihren jeweiligen Anträgen festgehalten werden müssen. Wie bereits ausgeführt, kommt es hierauf jedoch im vorliegenden Fall nicht an, weil die Klägerin ihr Begehren im Widerspruchsverfahren gerade nicht beschränkt hat.
Mangels Erledigung des in Rede stehenden Widerspruchsbegehrens konnte der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts keinen Bestand haben. Im Rahmen der von ihm gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung hat sich der Senat veranlasst gesehen, die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen, weil er dem Erhalt des Instanzenzuges im vorliegenden Fall den Vorrang gegenüber dem Interesse der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung eingeräumt hat. Insoweit hat er neben dem Umstand, dass die Klägerin die Zurückverweisung selbst hilfsweise beantragt und sich auch der Beklagte mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt hat, berücksichtigt, dass das Sozialgericht zwar bereits Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt hat, sie für sich genommen aber nicht ausreichen, eine fundierte Sachentscheidung zu treffen. Vielmehr muss hier noch zumindest ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt werden, auf dessen Grundlage zu entscheiden sein wird, an welchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Klägerin tatsächlich leidet, ob und gegebenenfalls in welcher Ausprägung sie Behinderungsrelevanz haben und in welchen wechselseitigen Beziehungen sie gegebenenfalls stehen, um das Ausmaß der Behinderung beurteilen zu können. Zudem ist der Rechtsstreit insgesamt auch erst seit dem 2. Februar 2015 bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anhängig, was im Verhältnis zu anderen Rechtsstreiten, in denen ebenfalls medizinische Fragen zu klären sind, noch nicht als übermäßig langer Zeitraum anzusehen ist, der im Interesse der Verwirklichung der Rechtsschutzgarantie einer baldigen Entscheidung zugeführt werden müsste.
Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Sie muss der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten bleiben (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 159 Rdnr. 5 f), bei der das Sozialgericht auch zu prüfen haben wird, ob die mit dem Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2015 zugunsten der Klägerin getroffene Entscheidung über die Kosten des Widerspruchsverfahrens unangetastet zu bleiben hat.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.