Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 12 SB 21/09 - Urteil vom 07.10.2011
Hat ein Alkoholkranker nach erfolgreicher Entziehungsbehandlung (regelmäßig auftretende) Schwierigkeiten bei der Konfrontation mit Alkohol im Alltag, rechtfertigt dies nicht die Feststellung eines GdB. Wer krankmachende Stoffe meidet, ist nämlich nur dann behindert, wenn er damit in Arbeit, Beruf oder Gesellschaft auffällig wird. Etwas anderes kann gelten, wenn darüber hinausgehende, aus der Alkoholerkrankung resultierende psychische Beeinträchtigungen bestehen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) bei dem Kläger von 50 auf 40 nach Ablauf der Heilungsbewährung für eine Alkoholerkrankung.
Der 1963 geborene Kläger beantragte am 24.4.2002 die erstmalige Feststellung
eines GdB. Zur Begründung verwies er u.a. auf eine Alkoholkrankheit. Das
Versorgungsamt Verden holte diesbezüglich u.a. einen Befundbericht von dem
Facharzt für Allgemeinmedizin J. vom 22.8.2002 sowie einen ärztlichen
Entlassungsbericht von Dr. K. vom 6.11.2002 über die Entwöhnungsbehandlung bei
Alkoholabhängigkeit in der Paracelsus L.klinik ein. Nach erfolgter Auswertung
der eingeholten Berichte und Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst (Dr. M.)
stellte das Versorgungsamt Verden mit Erstfeststellungsbescheid vom 12.3.2003
einen GdB von 40 fest. Die Entscheidung stützte sich auf das Vorliegen einer
• seelischen Behinderung (Einzel-GdB: 30)
• und einer Schuppenflechte (Einzel-GdB:
20).
Ein Bronchialasthma (Einzel-GdB: 10), eine Funktionsbehinderung der
Wirbelsäule bei Bandscheibenschaden (Einzel-GdB: 10), Bluthochdruck (Einzel-GdB:
10) und eine Refluxerkrankung der Speiseröhre (Einzel-GdB: 10) wirkten sich
auf den Gesamt-GdB nicht erhöhend aus. Die daneben bestehende Sehbehinderung
und der Leistenbruch erreichten keinen Einzel-GdB. Zu der seelischen Behinderung
hieß es in dem Bescheid, diese befinde sich im Stadium der Heilungsbewährung.
Daher werde sie derzeit mit einem höheren GdB berücksichtigt, als eigentlich
gerechtfertigt sei. Nach Ablauf der Heilungsbewährung, die im Oktober 2005
ende, werde der GdB überprüft und gegebenenfalls neu festgesetzt. Der gegen
den Bescheid erhobene Widerspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen
(Widerspruchsbescheid vom 22.8.2003); in dem dagegen geführten Klageverfahren
vor dem Sozialgericht (SG) Stade (S 2 SB 185/03) kam der Ärztliche Dienst (Dr.
N., 13.12.2003) des Beklagten zu dem Ergebnis, dass bezüglich der
Schuppenflechte von einem mittelgradigen Befall unter Einschluss sämtlicher
Finger- und Fußnägel ausgegangen werden müsse. Daraufhin stellte der Beklagte
den GdB ab dem 1.4.2002 mit 50 fest (Ausführungsbescheid vom 28.1.2004). Dabei
wurde die Schuppenflechte nun mit einem Einzel-GdB von 30 (statt bisher 20)
festgestellt; im Übrigen blieben die bisherigen Feststellungen unverändert.
Im Januar 2006 forderte der Beklagte im Rahmen der angekündigten
Überprüfung des GdB einen Befundbericht von dem Arzt J. an. Nach dem
Befundbericht vom 8.3.2006 wird u.a. auf den erfolgreichen Verlauf des
Alkoholentzuges verwiesen, was in einer zweiten Mitteilung vom 11.4.2006
nochmals bestätigt wird. Nach einem beigefügten Schreiben der Ärztin für
Neurologie und Psychiatrie Dr. O. vom 10.7.2003 ist der Kläger glaubhaft
trocken. Ein weiter beigefügtes Schreiben des Zentralkrankenhauses P., vom
13.11.2003 kommt zu dem Ergebnis, dass die erhöhten CDT-Werte mit großer
Wahrscheinlichkeit für einen Alkoholabusus im Sinne der Aufnahme von mehr als
60 g Alkohol pro Tag über einen Zeitraum von wenigstens einer Woche sprächen.
Nach einem Schreiben des Klinikums Q. vom 9.3.2004 hätte ein längerfristiger
Konsum von mehr als 60 g Alkohol am Tag zwingend zum Nachweis von
Ethylglucuronid im Haar geführt. Dies sei jedoch nicht nachgewiesen. Damit sei
auch nicht zu befürchten, dass der Kläger zukünftig Kraftfahrzeuge unter
Alkoholeinfluss führen werde. Nach einem sozialmedizinischen Gutachten des
Medizinischen Dienstes der Krankenkassen vom 14.5.2004 ist der Kläger seit der
Alkoholentwöhnung absolut abstinent und besucht regelmäßig
Selbsthilfegruppen. Nach Auswertung der eingeholten Befundberichte und
Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst (Dr. R.) hörte der Beklagte den Kläger
wegen des beabsichtigten Erlasses eines Änderungsbescheides an: Hinsichtlich
der seelischen Behinderung sei die Heilungsbewährung inzwischen abgelaufen. Es
sei nicht zu einem Wiederauftreten der Erkrankung gekommen. Daher ergebe sich
ein messbarer GdB nicht mehr. Hiergegen wandte der Kläger ein, er leide unter
depressiven Zuständen und müsse Neuroleptika einnehmen. Außerdem seien seine
Leberwerte nicht normgerecht. Auf Anregung des Klägers wurde erneut ein
Befundbericht von dem Arzt J. (vom 11.7.2006) eingeholt, nach dessen Auswertung
durch den Ärztlichen Dienst (Dr. S.) am 9.11.2006 eine zweite Anhörung
erfolgte. Mit Bescheid vom 17.1.2007 hob der Beklagte den Bescheid vom 28.1.2004
auf und stellte den GdB ab dem 1.2.2007 mit 30 fest. Die Entscheidung stützte
sich auf das Vorliegen von
• Schuppenflechte (im Bescheid ohne Nennung eines
Einzel-GdB),
• Bronchialasthma (Einzel-GdB: 10),
• Funktionsbehinderung der
Wirbelsäule bei Bandscheibenschaden (Einzel GdB: 10),
• Bluthochdruck (Einzel-GdB:
10) und einer
• Refluxerkrankung der Speiseröhre (Einzel-GdB: 10).
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, er beschäftige sich täglich mit dem Thema Alkohol. Er führe täglich einen geistigen Kampf, um abstinent zu bleiben. Um standhaft bleiben zu können, nehme er an wöchentlichen Treffen eines Suchtkrankenhilfevereins teil. Er gehe davon aus, dass in Folge seiner Alkoholerkrankung bis zu seinem Lebensende eine seelische Beeinträchtigung bestehen werde, da die Alkoholerkrankung nicht heilbar, sondern nur zum Stillstand gebracht worden sei. Es könne jederzeit zu einem Rückfall kommen. Auch jetzt noch läge eine Konfliktsituation vor, der Gamma-GT-Wert betrage noch 60. Auf Anfrage des Beklagten erklärte der Arzt J. am 21.3.2007, der Kläger sei seit längerem nicht mehr in seiner Behandlung gewesen. Nach Auswertung durch den Ärztlichen Dienst (Prof. Dr. T.) - und weiterer Anhörung des Klägers - wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.5.2007 als unbegründet zurück. Zur Begründung wird ausgeführt, bei Gesundheitsstörungen, die zu Rückfällen neigten oder bei denen die Belastbarkeit abgewartet werden müsse, komme für die Zeit der Heilungsbewährung ein höherer GdB in Betracht, als er sich allein aus der funktionellen Beeinträchtigung ergäbe. Sobald der Zeitraum der Heilungsbewährung abgelaufen sei, richte sich die Beurteilung des GdB aber allein nach der tatsächlich bestehenden funktionellen Beeinträchtigung. Im konkreten Fall sei es zu einem Wiederauftreten der Erkrankung nicht gekommen. Damit sei die Heilungsbewährung positiv verlaufen. Insoweit sei auch eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten. Die verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen rechtfertigten einen GdB von 50 nicht mehr.
Hiergegen hat der Kläger am 12.6.2007 Klage vor dem SG Stade erhoben. Zur Begründung hat der Kläger erklärt, infolge der Alkoholerkrankung bestehe eine lebenslängliche seelische Beeinträchtigung. Hinsichtlich der überstandenen Alkoholerkrankung liege auch jetzt noch eine Konfliktsituation vor, da er beim Essen und Trinken ständig darauf achten müsse, nicht etwa Speisen, insbesondere Süßspeisen, Getränke oder Arzneimittel mit alkoholischem Inhalt zu sich zu nehmen. Es bestehe eine ständige psychische Belastung, etwa durch den Geruch oder Geschmack von Alkohol. Der Kläger müsse rückfallvermeidende Maßnahmen ergreifen und beachten. Nach einem Gutachten zu seiner Fahreignung sei bei einem Rückfall damit zu rechnen, dass er innerhalb kürzester Zeit zu seinem früheren Trinkverhalten zurückkehre. Er - der Kläger - müsse deshalb sein Leben entsprechend der Rückfallgefahr gestalten. Dies sei oft anstrengend, belastend und koste Kraft. Eine Heilungsbewährung sei daher nicht gegeben; bei ihm sei weiterhin wegen der überstandenen Alkoholerkrankung ein Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen.
Der Beklagte hat seinerseits darauf verwiesen, dass nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, Ausgabe 2008, Nr. 26.3, S. 48) die Herabsetzung des GdB zu Recht erfolgt sei.
Das SG hat Befundberichte von dem Arzt J. (vom 5.12.2007), der Fachärztin für Allgemeinmedizin U. (vom 20.12.2007) und von dem Hautarzt Dr. V. (vom 3.2.2008) eingeholt. Es hat sodann gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein ambulantes sozialmedizinisches Gutachten von PD Dr. W., S./X., vom 8.9.2008 eingeholt. Nach diesem Gutachten kann der Einzel-GdB für die psychischen Beeinträchtigungen (einschließlich der Alkoholerkrankung) nicht mit mehr als 10 angesetzt werden. Im Ergebnis ist nach dem Gutachten von einem Gesamt-GdB von 40 auszugehen, v.a., weil eine Vielzahl von kleineren Einzel-GdB vorläge.
Daraufhin erkannte der Beklagte mit Schreiben vom 16.9.2008 ab dem 1.2.2007 einen GdB von 40 an (Ausführungsbescheid v. 18.3.2009). Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen. Er hat zugleich ausgeführt, nach seiner Auffassung bestünde zudem aus rechtlichen Gründen ein Anspruch auf einen GdB von 50. Dies resultiere daraus, dass es - entgegen der Auffassung des Beklagten - bei einer "seelischen Beeinträchtigung" keine Heilungsbewährung gebe. Schon aus diesem Grunde sei die Herabsetzung des GdB unzulässig.
Mit Urteil vom 12.12.2008 hat das SG die Klage abgewiesen, soweit ihr nicht durch das Teilanerkenntnis entsprochen war. Die Herabsetzung des GdB von 50 auf nunmehr 40 sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) lägen vor. Bezüglich der Alkoholerkrankung sei eine Heilungsbewährung eingetreten, was zu einer wesentlichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse geführt habe. Die Kammer folge den schlüssigen, widerspruchsfreien und daher überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen PD Dr. W ... Insbesondere sei die Alkoholerkrankung nicht mehr mit einem Einzel-GdB von 30, sondern lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Der Kläger sei durch seinen Alkoholismus weder in seiner Erlebnis-, noch in seiner Gestaltungsfähigkeit wesentlich eingeschränkt. Er könne alkoholfreies Essen und entsprechende Getränke genießen; er unterliege weder in der Familie, noch im Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz irgendwelchen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Es sei ihm möglich, "alkoholfreien Kontakt mit anderen Menschen aufzubauen". Seinen privaten Bereich gestalte der Kläger mit regelmäßigem Musizieren, Lesen, Gesprächen, Shopping etc. Seine emotionale Schwingungsfähigkeit sei normal, seine Grundstimmung ausgeglichen. Von gelegentlich auftretender Traurigkeit könne er sich problemlos ablenken. Somit läge allenfalls eine leichte, durch den Alkoholismus bedingte psychovegetative Störung vor. Etwas anderes ergebe sich auch nicht dadurch, dass bei einer Alkoholerkrankung eine Heilung im medizinischen Sinne nicht erfolgen könne. Der Begriff der Heilungsbewährung sei ein rechtlicher Begriff, der eine Stabilisierung des Gesundheitszustandes bezeichne. Auch im Übrigen habe die Kammer keine Veranlassung, von den Regelungen der AHP 2008 oder den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG, Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10.12.2008, BGBl. I, S. 2412) abzuweichen, die bei einer Alkoholerkrankung eine Heilungsbewährung von zwei Jahren vorsähen. Schließlich sei die Heilungsbewährung auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beklagte die Erkrankung als "seelische Beeinträchtigung" bezeichnet habe. In der gesamten Verwaltungsakte sei mit diesem Begriff stets die Alkoholerkrankung bezeichnet worden. Auch der Bevollmächtigte des Klägers sei stets wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass dieser Begriff sich auf die Alkoholkrankheit bezogen habe. Auch in den AHP 2008 werde die Alkoholerkrankung unter dem Oberbegriff "Nervensystem und Psyche" (26.3) behandelt. Das Wort Alkoholerkrankung werde in den Bescheiden des Beklagten lediglich deshalb nicht verwandt, um die Betroffenen bei Vorlage des Bescheides nicht als Alkoholiker zu stigmatisieren.
Gegen das am 10.3.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.3.2009 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat er erklärt, es seien keine wesentlichen Veränderungen gegeben, die eine Herabsetzung des GdB von 50 auf 40 rechtfertigen könnten. Zwar hätten die AHP grundsätzlich normähnliche Wirkung; im konkreten Fall sei jedoch eine Abweichung von den AHP im Sinne einer Lückenfüllung geboten, da die unterschiedlichen Aspekte der Alkoholkrankheit nach erfolgreicher Therapie in den AHP nicht hinreichend berücksichtigt würden. Hierzu zählten im vorliegenden Fall insbesondere seine Schwierigkeiten, für sich Problemlösungsstrategien bei alltäglichem Ärger, ungerechtfertigten Beleidigungen und Schmähungen zu entwickeln. In solchen Fällen habe er seinen Ärger früher einfach "weggetrunken". Derartige Erlebnisse beherrschten ihn in abnormem Umfang. Eine beherrschende und nachgerade fixierende innere Spannung erzeuge es außerdem, wenn er - ein passionierter Pfeifenraucher - sich eine Pfeife anzünde, weil er sich an seine frühere Gewohnheit erinnere, dazu einen Whisky zu trinken. Die Teilnahme an Feierlichkeiten sei für ihn ein Problem, weil er zum Trinken aufgefordert werde. Beim Essen von Kuchen - er esse gerne Kuchen - bestehe die Gefahr, dass dieser mit Alkohol zubereitet sei und einen Rückfall auslösen könne. Erschwerend komme hinzu, dass Alkoholismus ein gesellschaftliches Tabuthema sei, das er nur schwer ansprechen könne. Er sei außerordentlich sensibilisiert für den Geruch von Alkohol, rieche sogar, wenn ein leerer Fahrstuhl zuvor von einem alkoholisierten Menschen genutzt worden sei. Schließlich werde in den Medien der Genuss von Alkohol weiterhin als Problemlösungsstrategie vorgestellt. Auch dies erzeuge bei ihm ein erhebliches emotionales "Auf und Ab". Insgesamt komme er im Alltag immer wieder in Berührung mit seiner Erkrankung, was ihn banne und in Atem halte. Hieraus folgere eine psychische Behinderung, die durchaus die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von § 69 Abs. 1 SGB IX einschränke. Die beim Kläger auftretenden Beeinträchtigungen, namentlich Ängste, Vermeidungsstrategien und Zwangshandlungen, seien mit denen einer Zwangserkrankung vergleichbar. Nach dem Gutachten von PD Dr. W. seien diese Störungen zwar nicht in den AHP beschrieben. In Betracht komme jedoch eine analoge Anwendung, wobei im Ergebnis eine GdB von 30 bis 40 oder sogar 50 bis 70 in Betracht komme. Demzufolge sei in seinem Falle von einem Gesamt-GdB von mindestens 50 auszugehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 12.12.2008 und den Bescheid des Beklagten vom 17.1.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.5.2007 und in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 18.3.2009 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des SG Stade für zutreffend. Beim Kläger sei eine Heilungsbewährung eingetreten. Damit hätte eine Neufeststellung erfolgen müssen. Insgesamt betrage der GdB jetzt 40. Die Berufungsbegründung rechtfertige keine andere Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf das Sitzungsprotokoll über die mündliche Verhandlung vom 7.10.2011, den sonstigen Inhalt der Prozessakten und der Verwaltungsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind und der Entscheidungsfindung des Senats zu Grunde gelegen haben.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143 f. SGG zulässige Berufung ist unbegründet. Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat daher zunächst auf die Ausführungen des SG Bezug, denen er sich in vollem Umfang anschließt (§ 153 Abs. 2 SGG). Das Vorbringen des Klägers und die Überprüfung der Sach- und Rechtslage im Berufungsverfahren rechtfertigen keine andere Beurteilung.
Rechtsgrundlage für die Neufeststellung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X i. V. m. § 69 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben und damit ein Anspruch neu festzustellen, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ob hiernach der Anspruch insgesamt neu festzustellen ist, ist unter Berücksichtigung eventuell weiter vorliegender Gesundheitsstörungen zu entscheiden. Insoweit sind die objektiven Verhältnisse, die einerseits zum Zeitpunkt der letzten bindend gewordenen, förmlichen Feststellung einer Behinderung tatsächlich vorgelegen haben, mit denen zu vergleichen, die andererseits im Zeitpunkt der Neufeststellung vorliegen (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 27.11.2003, Az. L 18 V 8/03; vgl. auch: Schütze, in: von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 6. Aufl. 2008, § 48 Rn. 5).
Die Behinderung des Klägers und der dadurch bedingte GdB sind nach den Vorschriften der §§ 2, 69 SGB IX festzustellen. Im Interesse der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen erfolgte die konkrete Festsetzung im hier noch maßgeblichen Zeitraum bis zum 31.12.2008 nach Maßgabe der in den AHP in ihrer jeweiligen Fassung niedergelegten Maßstäbe. Diese waren zwar kein Gesetz und nicht aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen, es handelte sich bei ihnen jedoch um eine auf besonderer medizinischer Sachkunde beruhende Ausarbeitung. Sie engte das Ermessen von Verwaltung und Ärzten ein, führte zur Gleichbehandlung und war deshalb auch geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden (BSGE 91, 205).
Unter Beachtung dieser Grundsätze sind das Urteil des SG und die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat zu Recht mit Bescheid vom 17.1.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.5.2007 und in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 18.3.2009 den GdB von 50 auf 40 herabgesetzt. Ein Gesamt-GdB von 50 lag nach Ablauf der Heilungsbewährung für die Alkoholkrankheit (AHP 2005, 26.3, S. 48) nicht mehr vor.
a) Da die Entziehungsbehandlung bis Oktober 2002 erfolgreich durchgeführt wurde, war die Heilungsbewährung von zwei Jahren im Oktober 2004 abgelaufen. Dass mit Bescheid vom 17.1.2007 die streitige Herabsetzung erfolgte, ist nicht deshalb zu beanstanden. Die Entziehungsbehandlung ist auch erfolgreich gewesen; der Kläger ist seit der Entziehung nicht rückfällig geworden. Soweit hieran Zweifel bestanden haben sollten, insbesondere aufgrund eines erhöhten CDT-Wertes im November 2003, sind diese aufgrund einer Haarprobe im März 2004 ausgeräumt worden.
Dass die AHP einer Alkoholerkrankung nach erfolgreicher Entziehung keinen GdB von mindestens 10 zuordnen, ist auch grundsätzlich nicht zu beanstanden. Zwar ist den Gerichten ein Abweichen von den AHP grundsätzlich möglich, falls diese lückenhaft erscheinen oder dem wissenschaftlichen Kenntnisstand im konkreten Einzelfall nicht mehr entsprechen. (BSG, Urt. v. 18.9.2003 - B 9 SB 3/02 R, zit. nach juris, Rn. 21; BSG, Urt. v. 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R, zit. nach juris, Rn. 19 m.w.N.). Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall; die AHP treffen hinsichtlich der Frage der Alkoholerkrankung nach erfolgreicher Entziehung eine ausdrückliche Aussage, so dass jedenfalls eine Regelungslücke ausscheidet. Darüber hinaus waren die AHP zum maßgeblichen Zeitpunkt auch nicht überholt. Dies zeigt sich schon daran, dass die seit dem 1.1.2009 an ihrer Stelle heranzuziehenden VMG insofern nichts anderes enthalten als die AHP 2005; sie stimmen - soweit es die Bewertung der Alkoholkrankheit und -abhängigkeit betrifft - mit den auf den vorliegenden Fall anzuwendenden AHP 2005 überein. Zwar ist durch Art. 1 Nr. 2a) der Ersten Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 1.3.2010 (BGBl. I, S. 249) der Abschnitt 3.8 der VMG neu gefasst worden, er beinhaltet aber weiterhin u.a. die Alkoholkrankheit. Auch insofern gilt weiterhin, dass nach erfolgreicher Entziehung ohne weitere Organschädigungen kein GdB festzustellen ist. Dies ist nach Auffassung des Senats auch im Vergleich zu den anderen Werten der AHP 2005 bzw. der VMG stimmig. Dies gilt etwa, soweit diese die Abhängigkeit von Tabak bzw. Koffein ebenfalls keiner Teilhabebeeinträchtigung zuordnen (3.8 Abs. 1 S. 2 der VMG in der Fassung der Ersten Verordnung zur Änderung der VersMedV). Dass nicht jede Einschränkung auf - etwa - eine bestimmte Nahrung ohne weiteres zur Zuerkennung eines GdB führt, folgt z.B. daraus, dass nach 15.1 der VersMedV (i.d.F. der Zweiten Verordnung zur Änderung der VersMedV, vom 14.7.2010, BGBl. I, S. 928) ein Diabetes, der regelmäßig keine Hypoglykämien auslöst, mit einem GdB von 0 zu bewerten ist. Dass die Bewertung der Alkoholerkrankung nach erfolgreich verlaufener Entziehung im System der VMG stimmig ist, zeigt aber etwa auch der Vergleich mit Allergien gem. 17.2 der VMG (S. 98), da diese vom Betroffenen ebenfalls ein Vermeidungsverhalten einfordern. Denn danach ist selbst bei bis zu zweimal im Jahr auftretenden allergischen Reaktionen durch leicht vermeidlichen Noxen oder Allergene lediglich ein GdB von (nur) 0 bis 10 festzustellen.
Diese Auffassung steht auch im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung insbesondere des Bundessozialgerichts (BSG). Dieses hat sich in dem Beschluss vom 26.1.1994 (9 BVs 44/93, zit. nach juris, Rn. 5) mit der Abstinenz nach Alkoholerkrankung auseinandergesetzt. Es hat ausgeführt, wer krankmachende Stoffe meide, sei nur dann behindert, wenn er damit in den genannten Bezügen, also in Arbeit, Beruf und Gesellschaft auffällig werde. Seien in diesen Bereichen Defizite nicht wahrzunehmen, fehle es zumindest an den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen. Die Abstinenz von Suchtmitteln habe selbst dann keine Behinderung zur Folge, wenn die Abstinenz maßgeblich auf einem regelwidrigem Körperzustand und nicht auf freier Willensentschließung beruhe (zustimmend: LSG Saarland, Urt. v. 27.6.2006 - L 5 SB 118/03).
Im konkreten Fall liegen - ebenfalls entgegen der Auffassung des Klägers - auch keine besonderen Gründe vor, die ein Abweichen von der Bewertung der AHP 2005 rechtfertigen würden. Der Sachverständige PD Dr. W., dem der Senat auch in seiner Bewertung folgt, hat vielmehr überzeugend ausgeführt, dass bei einer Alkoholerkrankung grundsätzlich keine Heilung im medizinischen Sinne möglich ist und dass insofern ein Leben lang ein sehr hohes Rückfallrisiko besteht. Insofern sind die vom Kläger geschilderten Schwierigkeiten auch nicht außergewöhnlich, sondern treten vielmehr regelmäßig bei Alkoholerkrankungen auf, wenn eine erfolgreiche Entziehung durchgeführt worden ist.
b) Bei dem Kläger liegen zudem auch keine aus der Alkoholerkrankung resultierenden psychischen Folgen vor, die ihrerseits einen GdB rechtfertigen würden. Nach dem Gutachten von PD Dr. W. liegen keine stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vor. Der Kläger ist hiernach vielmehr in der Lage, sein Leben zu gestalten; die emotionale Schwingungsfähigkeit ist normal, die Grundstimmung ausgeglichen. Nach dem Gutachten ist der Kläger zudem in der Lage, sich abzulenken, wenn er sich manchmal etwas traurig fühlt. Der Kläger spielt - nach den im Gutachten wiedergegebenen Angaben - Klavier und Orgel, er übt diese Instrumente fast jeden Tag, er liest gerne, surft gerne im Internet, und ist auch gerne mit seiner Frau unterwegs, zum Einkaufen und zum Stöbern (S. 17 des Gutachtens).
c) Auch sonstige, aus der Alkoholerkrankung resultierende und durch die Feststellungen der Beklagten nicht berücksichtigte Folgen sind nicht ersichtlich. Eine im Jahr 2003 noch befürchtete Lebererkrankung besteht nach dem Gutachen von PD Dr. W. nicht; sie ist auch nicht erneut geltend gemacht worden. Die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule wirkt sich nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus. Ein Bandscheibenvorfall hat sich nach dem Gutachten von PD Dr. W. in typischer Weise zurückgebildet und man könnte günstigstenfalls einen Grenzfall zwischen geringen und mittelgradigen funktionellen Auswirkungen annehmen, womit ein höherer GdB als 10 - den auch der Beklagte annimmt - nicht zwingend ist. Auch ist die Feststellung eine Einzel-GdB von 10 für den Bluthochdruck nicht zu beanstanden. Nach dem Gutachten des PD Dr. W. - dem der Senat auch insofern folgt - steht der Annahme eines Einzel-GdB von 20 (S. 75 der AHP 2005, Nr. 26.9) insofern entgegen, dass es an einer diesbezüglichen Behandlung fehlt. Auch bezüglich des Bronchialasthma und der Refluxerkrankung der Speiseröhre ist die Feststellung eines Einzel-GdB von mehr als 10 hiernach - überzeugend - nicht zu rechtfertigen.
d) Die Herabsetzung des GdB aufgrund der Heilungsbewährung ist - entgegen der vom Kläger im Klageverfahren vor dem SG vertretenen Auffassung - auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beklagte die Alkoholkrankheit im Bescheid vom 28.1.2004 als "seelische Behinderung" bezeichnet hat. Insoweit ist auf die zutreffenden Ausführungen des SG zu verweisen.
e) Auch ist die Bildung des Gesamt-GdB zutreffend erfolgt. Nach den AHP 2005 war bei der Bildung des Gesamt-GdB eine Addition der einzelnen Werte ebenso wenig zulässig wie jede andere Rechenmethode (AHP 2005, S. 24). Maßgeblich waren alleine die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen untereinander. Zudem mussten Vergleiche mit Gesundheitsschäden angestellt werden, zu denen in der Tabelle feste GdB/MdE-Werte angegeben sind. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Sodann ist im Hinblick auf weitere Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwiefern hierdurch das Ausmaß des Gesamt-GdB größer wird. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, nicht zu einem höheren Gesamt-GdB; auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf einen höheren GdB zu schließen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Beklagte jedenfalls im Teilanerkenntnis vom 16.9.2008 zu Recht aus den Einzel-GdB von 30, 10, 10, 10, 10 einen Gesamt-GdB von 40 gebildet. Dieses Ergebnis hat auch der Sachverständige PD Dr. W. bestätigt, obgleich er für die seelische Beeinträchtigung einen weiteren Einzel-GdB von 10 angenommen hat.
f) Die Herabsetzung des GdB ist auch in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden; der Kläger ist insbesondere unter Nennung der jeweils eingeholten Befunde und Berichte vom Beklagten vor Erlass des Bescheides vom 17.1.2007 zutreffend mit Schreiben vom 1.6.2006 und vom 9.11.2006 ordnungsgemäß angehört worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den Vorschriften der §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt das teilweise Obsiegen des Klägers entsprechend dem Teil-Anerkenntnis des Beklagten vom 16.9.2008.