Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 102/08 - Urteil vom 23.11.2011
Ein essentieller Tremor, der mittels Hirnschrittmachers in dem Sinn erfolgreich behandelt wird, dass es klinisch zu einer weitgehenden Symptomreduktion kommt, ist mit einem GdB von 30 angemessen bewertet.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei dem 1957 geborenen Kläger zuletzt 2002 einen GdB von 50 festgestellt. Dessen Verschlimmerungsantrag vom 18. August 2004 lehnte er nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 2. Februar 2005 ab. Auf den Widerspruch des Klägers zog der Beklagte verschiedene im Rentenverfahren erstattete Gutachten bei. Auf der Grundlage der gutachterlichen Äußerung des Praktischen Arztes B vom 14. März 2005 und der prüfärztlichen Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2005 zurück. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) seelisches Leiden (30),
b) essentieller Tremor, DBS-Stimulator-Implantation beidseits (30),
c) Schlafapnoesyndrom (20),
d) Bluthochdruck, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Herzrhythmusstörungen (10).
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 60 begehrt. Das Sozialgericht hat diverse medizinische Unterlagen, u.a. das im Rentenstreitverfahren eingeholte Gutachten des Nervenarztes Dr. B vom 4. Oktober 2005 und das für die Agentur für Arbeit B Nord erstattete Gutachten der Nervenärztin Dr. W vom 30. Oktober 2006, beigezogen.
Mit Urteil vom 8. April 2008 hat es die Klage abgewiesen: Eine wesentliche Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen, welche die Feststellung eines GdB von mehr als 50 erforderlich machen würde, sei nicht eingetreten. Aus den nervenärztlichen Gutachten ergebe sich, dass das seelische Leiden des Klägers in den unteren Bereich der stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einzuordnen sei. Für die Implantation eines Hirnschrittmachers könne kein GdB festgestellt werden. Die Bewertung des essentiellen Tremors mit einem Einzel-GdB von 30 sei von dem Beklagten zu hoch vorgenommen worden, da er nicht mehr ständig, sondern nur noch zeitweise auftrete. Das beatmungspflichtige Schlafapnoesyndrom sei entsprechend den Bewertungsvorgaben zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden. Die übrigen Leiden des Klägers seien in ihren Auswirkungen zu gering, als dass sie die Höhe des GdB beeinflussen könnten.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, dass seine multiplen Beeinträchtigungen stärkere Auswirkungen zeitigten, als dies seitens des Sozialgerichts angenommen worden sei. Nicht hinreichend geklärt seien insbesondere seine unkontrollierten Erregungszustände, die ihn nicht nur bei der von ihm erstrebten Arbeitsaufnahme, sondern auch im engeren sozialen Bericht behinderten.
Auf den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 4. Juni 2009 hat der Beklagte das Gutachten des Chirurgen R vom 23. November 2010 eingeholt. Nach Untersuchung des Klägers ist der Gutachter zu dem Schluss gekommen, dass der GdB unverändert 50 beträgt. Dieser Einschätzung folgend hat der Beklagte den Verschlimmerungsantrag mit Bescheid vom 13. Dezember 2010 abgelehnt, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausgegangen ist:
a) seelisches Leiden (30),
b) essentieller Tremor, DBS-Stimulator-Implantation beidseits (30),
c) Schlafapnoesyndrom (20),
d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, operierte Wirbelsäule, künstliche Bandscheibe (20),
e) Bluthochdruck, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Herzrhythmusstörungen (10),
f) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen (10).
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Nervenarztes Dr. A vom 23. August 2011, der bei dem Kläger auf seinem Fachgebiet neben dem essentiellen Tremor und der DBS-Stimulator-Implantation beidseits ein neurasthenisches Syndrom bei komplexer Entwicklungsstörung (Lese-Rechtschreib-/Rechenstörung) im Sinne einer leichteren psychovegetativen Störung festgestellt und mit einem Einzel-GdB von nur 20 bewertet hat. Der Gesamt-GdB sei mit 30 zu bemessen.
Der Kläger hat hierzu angemerkt, dass der Tremor sich tagesabhängig gebessert habe, jedoch seien starke Muskelkrämpfe hinzugekommen seien. Jede falsche Bewegung verursache Schmerzen in der Wirbelsäule, im Becken und in der linken Schulter. Die Ausübung körperlicher Liebe sei ihm kaum noch möglich, sein Gangbild habe sich verschlechtert.
Die Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2008 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 2. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2005 sowie in der Fassung des Bescheides vom 13. Dezember 2010 zu verpflichten, bei ihm ab 18. August 2004 einen Grad der Behinderung von 60 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die Klage abzuweisen.
Er hält an seiner Entscheidung fest.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung und die Klage gegen den während des Berufungsverfahrens erlassenen Bescheid vom 13. Dezember 2010 sind unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von mehr als 50.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2004, 2005 und - zuletzt - 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - abgelöst haben.
Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte für den essentiellen Tremor einen Einzel-GdB von 30 angesetzt hat. Dieser ist, worauf der Sachverständige Dr. A in seinem Gutachten hingewiesen hat, mittels Hirnschrittmachers erfolgreich behandelt worden, wodurch es klinisch zu einer weitgehenden Symptomreduktion gekommen ist. Dem Umstand, dass diese Besserung - wie der Kläger vorträgt - tagesabhängig ist, wird durch den Einzel-GdB von 30 Rechnung getragen.
Durch die Bewertung seines seelischen Leidens seitens des Beklagten mit einem Einzel-GdB von 30 wird der Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Nach Teil B Nr. 3.7 (Bl. 27) der Anlage zu § 2 VersMedV sind stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Es ist zweifelhaft, ob bei dem Kläger seelischen Störungen dieses Grades vorliegen.
Der Gutachter Dr. A hat dargelegt, dass der Kläger an einem neurasthenischen Syndrom leidet. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen ist der Kläger hierdurch in seiner Belastbarkeit eingeschränkt. Unter den Aufregungen des Alltags leidet er stärker als eine Vergleichsperson und reagiert dann einerseits mit Reizbarkeit bis hin zum Unverständnis und einer Begehrensvorstellung, andererseits mit Erschöpfungssymptomen, die sich in einer Fokussierung auf körperliche Beschwerden zeigt. Eine wesentliche Änderung ist gegenüber den Verhältnissen im Zeitpunkt der Antragstellung (August 2004) nicht eingetreten. In seinem Gutachten hat Dr. A das Ausmaß des seelischen Leidens als leichte psychovegetative Störung eingeschätzt, für die er einen Einzel-GdB von 20 angesetzt hat. Hierbei hat er sich im Rahmen der Vorgaben in Teil B Nr. 3.7 (Bl. 27) der Anlage zu § 2 VersMedV gehalten, die für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen einen GdB von 0 bis 20 vorsehen.
Ob die seelischen Behinderungen mit einem Einzel-GdB von 30 oder nur 20 zu bewerten sind, kann offen bleiben, da sich hierdurch keine Änderung der Höhe des Gesamt-GdB ergibt.
Das Wirbelsäulenleiden des Klägers ist mit einem Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Für Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) schreibt Teil B Nr. 18.9 (Bl. 90) der Anlage zu § 2 VersMedV einen GdB in dieser Höhe vor. Einen GdB von 30 ist erst bei Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) möglich. Für das Vorliegen von Schäden an der Wirbelsäule dieses Ausmaßes bestehen keine Anhaltspunkte. Die Halswirbelsäulen-Operation verlief erfolgreich; ein radikuläres Syndrom hat der Sachverständige Dr. A nicht feststellen können und dementsprechend einen Einzel-GdB von 20 für ausreichend erachtet.
Nach Teil B Nr. 8.7 (Bl. 45) der Anlage zu § 2 VersMedV ist das Schlafapnoesyndrom mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, da die Notwendigkeit einer kontinuierlichen nasalen Überdruckbeatmung besteht. Die Bewertung der internistischen Leiden des Klägers - Blut-hochdruck, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Herzrhythmusstörungen im Sinne eines metabolischen Syndroms - mit einem Einzel-GdB von 10 ist nicht zu beanstanden. Für die im Laufe des Berufungsverfahrens festgestellte Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen ist ein Einzel-GdB von 10 angemessen, zumal sich bei der Untersuchung des Klägers im Rahmen der Begutachtung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen klinisch keine Hörstörung gezeigt hat. Die weiteren von dem Kläger vorgetragenen Beschwerden sind nach den überzeugenden Ausführungen des Gutachters als Ausdruck seines zentralen Leidens, der seelischen Störung, zu verstehen, die seine Wahrnehmung der Behinderungen maßgeblich beeinflusst.
Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Bei dem Kläger ist der Gesamt-GdB nicht höher als 50 festzusetzen. Der Einzel-GdB für den essentiellen Tremor als führendes Leiden von 30 ist unter Berücksichtigung des seelischen Leidens um einen GdB von 10 heraufzusetzen, und zwar unabhängig davon, ob diese Behinderung mit einem Einzel-GdB von 30 oder - wie es der Gutachter Dr. A vorgeschlagen hat - von nur 20 zu bewerten ist, da sich das neurasthenische Syndrom besonders nachteilig auswirkt.
Im Hinblick auf das mit einem Einzel-GdB von 20 anzusetzende Wirbelsäulenleiden ist der GdB auf 50 zu erhöhen. Zwar ist es nach Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, was in der Regel eine Erhöhung des Gesamt-GdB ausschließt. Vorliegend ist von diesem Grundsatz eine Ausnahme zu machen, da nach den Feststellungen des Sachverständigen das neurasthenische Syndrom zu einer veränderten Bewertung von Schmerzen und Spannungszuständen führt.
Eine weitere Heraufsetzung des Gesamt-GdB mit Rücksicht auf das mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete Schlafapnoesyndrom ist nicht möglich, da es sich auf die vorgenannten Behinderungen nicht verstärkend auswirkt. Insoweit ist es nicht gerechtfertigt, von dem Grundsatz abzuweichen, dass Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen.
Die internistischen Leiden - Bluthochdruck, Übergewicht, Fettstoffwechselstörung, Herzrhythmusstörungen im Sinne eines metabolischen Syndroms - und Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen sind nicht geeignet, die Höhe des Gesamt-GdB zu beeinflussen, da sie nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten ist. Denn nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, - von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen - nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.