Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Bei der 1950 geborenen Klägerin war 2006 ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Auf deren Verschlimmerungsantrag vom 5. November 2007 stellte der Beklagte nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 22. Januar 2008 bei ihr einen GdB von 40 fest, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausging:
- entzündlich-rheumatische Gelenkerkrankung, psychosomatische Störungen (Einzel-GdB von 30),
- Magenerkrankung (Einzel-GdB von 10).

Auf den Widerspruch der Klägerin, mit dem sie auch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "aG" begehrte, setzte der Beklagte nach erneuten Ermittlungen und auf der Grundlage des versorgungsärztlichen Hinweises, die Internistin Dr. M habe in ihrem Befundbericht vom 13. Juni 2007 von einer Nephrektomie links berichtet, mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2008 den Gesamt-GdB auf 50 ab Antragstellung herauf, lehnte aber die Zuerkennung des beantragten Merkzeichen ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
- Exostose-Syndrom, entzündlich-rheumatische Gelenkerkrankung, psychosomatische Störungen (Einzel-GdB von 40),
- Verlust einer Niere (Einzel-GdB von 30),
- Magenerkrankung (Einzel-GdB von 10).

Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat die Klägerin zunächst einen Gesamt-GdB von 80 und das Merkzeichen "G" begehrt.

Nach Anhörung der Klägerin hat der Beklagte mit Bescheid vom 1. September 2010 den Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2008 insoweit zurückgenommen, als ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt wurde. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass der Gesamt-GdB lediglich 40 betrage, da die Beeinträchtigung "Verlust einer Niere" nicht vorliege. Tatsächlich sei eine Nierentumor-Exzision links durchgeführt worden, wobei die Niere erhalten geblieben sei. Ein schutzwürdiges Interesse der Klägerin in den Bestand des Bescheides sei unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme nicht zu erkennen. Es liege im öffentlichen Interesse, ungerechtfertigte Aufwendungen zu vermeiden.

Die Klägerin hat daraufhin ihr Klagebegehren auf die Aufhebung des Rücknahmebescheides vom 1. September 2010 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" gerichtet.

Das Sozialgericht hat das Gutachten des Internisten Prof. Dr. Dr. S vom 17. September 2011 eingeholt, der bei der Klägerin eine schwere somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert hat. Der Gesamt-GdB betrage 40.

Ferner hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. P vom 4. Januar 2012 eingeholt, der den Gesamt-GdB mit 50 eingeschätzt hat. Neben die somatoforme Schmerzstörung mit einem Einzel-GdB von 40 trete ein phobischer Schwankschwindel, der einen Einzel-GdB von 20 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bedinge.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. April 2012 abgewiesen: Der Beklagte habe den Gesamt-GdB zu Recht auf 40 herabgesetzt. Der Bewertung des Sachverständigen Prof. Dr. P werde nicht gefolgt. Denn nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom März 1998, bestätigt durch die Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 11. Juli 2000, müssten für die Annahme einer psychischen Erkrankung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die einen GdB von 50 bedinge, alle sozialen Lebensbereiche und damit auch die familiäre Ebene betroffen sein. Dies sei bei der Klägerin nicht der Fall, da deren Beziehung zu ihren Familienmitgliedern harmonisch und gut sei. Das Merkzeichen "G" käme bei einem Gesamt-GdB von 40 nicht in Betracht.

Mit der Berufung wendet der Kläger sich gegen diese Entscheidung.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Allgemeinmediziners Dr. S vom 20. März 2014 mit ergänzender Stellungnahme vom 16. September 2014. Der Sachverständige hat bei der Klägerin folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt:
- Depression, Somatisierungsstörung / Fibromyalgiesyndrom (Einzel-GdB von 50),
- Magen- und Zwölffingerdarmbeschwerden (Einzel-GdB von 10),
- Funktionsstörung der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule (Einzel-GdB von 10),
- Schultergelenkfunktionsstörung bei Verschleiß, Verkalkung und Schultereckgelenkverschleiß (Einzel-GdB von 10).

Den Gesamt-GdB hat der Sachverständige mit 50 eingeschätzt. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" lägen nicht vor.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. April 2012 und den Bescheid des Beklagten vom 1. September 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 22. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2008 zu verpflichten, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" mit Wirkung ab 5. November 2007 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

1. Der angegriffene Herabsetzungsbescheid vom 1. September 2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden darf, soweit er rechtswidrig ist.

Der Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2008 war, soweit er von dem Beklagten aufgehoben worden ist, nicht rechtswidrig. Denn bei der Klägerin war ein Gesamt-GdB von 50 festzustellen.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei waren als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) in der Fassung vom 2008 heranzuziehen.

Der von dem Sozialgericht als Sachverständiger herangezogene Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. P hat in seinem Gutachten vom 4. Januar 2012 überzeugend - und im Einklang mit dem Sachverständigen Prof. Dr. Dr. S in dessen Gutachten vom 17. September 2011 - dargelegt, dass die somatoforme Schmerzstörung mit einem Einzel-GdB von 40 einzuschätzen ist. Ausdrücklich hat Prof. Dr. P darauf hingewiesen, dass die Behinderung der Klägerin die Kategorie für schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten nicht erfüllt. Dieser Bewertung, die den Vorgaben in Nr. 26.3 der AHP 2008 entspricht, schließt der Senat sich an. Vorliegend ist allerdings zu berücksichtigen, dass im Falle der KIägerin ein phobischer Schwankschwindel hinzu tritt. Diese Behinderung ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu würdigen. Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen stellen die Schmerzstörung und die Schwindelerkrankung unterschiedliche Funktionsstörungen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit der Klägerin dar. Das Hinzutreten des schwindelbedingten Einzel-GdB von 20 zum führenden schmerzbedingten Einzel-GdB von 40 führt deshalb zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB auf 50.

2. Der Klägerin steht ab dem 5. November 2007 ein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens G zu.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die AHP 2008 beschrieben dazu in Nr. 30 Abs. 3 bis Abs. 5 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, juris, Rn. 12). Nichts anderes gilt im Ergebnis für den Zeitraum nach dem Außerkrafttreten der AHP 2008 (vgl. Urteil des Senats vom 28. November 2014, L 13 SB 73/13).

Die AHP 2008 gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (Bundessozialgericht a.a.O. mit weiteren Nachweisen).

Die so verstandenen gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G erfüllt die Klägerin. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) steht zur Überzeugung des Senats fest, dass sie infolge ihrer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne Gefahr für sich Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Zwar ist die Klägerin nicht aufgrund von orthopädischen oder internistischen Beeinträchtigungen daran gehindert, ortsübliche Strecken zurückzulegen. Im Falle der Klägerin besteht die Besonderheit indessen darin, dass sie unter einem psychogen verursachten, behinderungsbedingten Schwankschwindel leidet, der als psychogene Gangstörung zu bewerten ist. Dies hat insbesondere der Sachverständige Prof. Dr. P zweifelsfrei festgestellt. Diese Gangstörung führt dazu, dass die Klägerin ohne fremde Begleitung keine nennenswerten Wege unter ortsüblichen Bedingungen zurücklegen kann und damit insgesamt das Gehvermögen im Rechtssinne erheblich beeinträchtigt ist.

An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts dadurch, dass die psychogene Gangstörung der Klägerin weder unter die hirnorganischen Anfälle nach Nr. 30 Abs. 4 AHP 2008 fällt noch als Störungen der Orientierungsfähigkeit nach Nr. 30 Abs. 5 AHP 2008 anzusehen ist. Denn die vorgenannten Beispiele beschreiben lediglich Regelfälle, bei denen die Voraussetzungen des Merkzeichens G als erfüllt anzusehen sind, sie sind indessen nicht abschließend, sondern dienen bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab (BSG, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, juris, Rn. 12). Der Senat hat keine Zweifel, dass die behinderungsbedingte psychogene Gangstörung der Klägerin so schwer wiegt, dass sie ohne weiteres mit den genannten Regelbeispielen der hirnorganischen Anfälle oder der Störungen der Orientierungsfähigkeit vergleichbar ist. Sie gehört nicht zu den Faktoren, die bei einer Betrachtung einer behinderungsbedingten Gangstörung außer Betracht zu haben bleiben, sondern stellt eine schwerwiegende gesundheitliche Einschränkung dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.