Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 103/14 - Urteil vom 03.09.2015
Die Anhaltswerte der GdB-Tabelle stellen bereits nach dem Wortlaut auf die Körpergröße "nach Abschluss des Wachstums", mithin auf kleinwüchsige Erwachsene ab. Da Gesundheitsstörungen, die erst in der Zukunft zu erwarten sind, bei der Bemessung des GdB nicht zu berücksichtigen sind, ist es ohne Belang, wenn bei einem Elfjährigen, basierend auf dem bisherigen Wachstumsverlauf auf der 50. Perzentile, nach Wachstumsabschluss eine Körpergröße von 130 cm zu erwarten ist.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Bei dem 2004 geborenen Kläger hatte der Beklagte mit Wirkung ab Januar 2005 für die Funktionsbehinderungen
angeborene Knorpelerkrankung mit Wachstumsstörung,
motorische Retardierung
einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G", "B" und "H" festgestellt.
Den Änderungsantrag des Klägers vom 28. April 2010 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 3. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2011 ab. Mit der bei dem Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage hat der Kläger einen GdB von mindestens 80 und das Merkzeichen "aG" begehrt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte, u.a. der Orthopädin Dr. H-S vom 5. November 2012, eingeholt. Der Beklagte hat sich in dem - von dem Kläger angenommenen - Teilanerkenntnis vom 1. März 2013 bereit erklärt, bei dem Kläger ab 16. Dezember 2010, dem Beginn der orthopädischen Behandlung, einen GdB von 60 festzustellen. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
angeborene Knorpelerkrankung mit Wachstumsstörung,
Funktionsstörung der Wirbelsäule,
Funktionsstörung beider Ellenbogengelenke,
Lockerung des Kniebandapparats beidseits.
Mit Urteil vom 8. April 2014 hat das Sozialgericht Potsdam die über das Teilanerkenntnis hinaus weiterverfolgte Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, der durch die Achondroplasie (die Wachstumsstörung) bedingte GdB von 50 sei im Hinblick auf die Bewegungseinschränkung im Ellenbogengelenk stärkeren Grades und die Funktionsbeeinträchtigungen der Kniegelenke, für die jeweils ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen sei, mit Wirkung ab dem 16. Dezember 2010 auf einen Gesamt-GdB von 60 zu erhöhen. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" lägen nicht vor. Mit Bescheid vom 13. Mai 2014 hat der Beklagte sein Teilanerkenntnis ausgeführt.
Mit der Berufung gegen die Entscheidung des Sozialgerichts hat der Kläger sein Begehren zunächst weiter verfolgt.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des am Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité für chronisch kranke Kinder tätigen Facharztes für Pädiatrie Dr. S vom 31. Mai 2015. Der Sachverständige hat den Gesamt-GdB im Zeitpunkt der Untersuchung des Klägers am 17. April 2015 mit 70 bewertet. Das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" hat er verneint.
In der mündlichen Verhandlung vom 3. September 2015 hat der Kläger hinsichtlich des Merkzeichens "aG" die Berufung zurückgenommen. Der Beklagte hat erklärt, bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 17. April 2015 einen Gesamt-GdB von 70 festzustellen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen weiter geführt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 8. April 2014 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 3. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2011 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 13. Mai 2014 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 28. April 2010 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.
Er ist der Ansicht, dass seine Entscheidung zutreffend ist.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 80 mit Wirkung ab dem 28. April 2010.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.
Der Sachverständige Dr. S hat in seinem Gutachten vom 31. Mai 2015 unter Heranziehung von Teil B Nr. 18.7 der Anlage zu § 2 VersMedV vorgeschlagen, einen GdB von 70 festzustellen. Diesem rechtlichen Ansatz des Gutachters ist nicht zu folgen. Denn der Anwendungsbereich des von ihm herangezogenen Anhaltswertes der GdB-Tabelle ist bereits seinem Wortlaut zufolge, der auf die Körpergröße "nach Abschluss des Wachstums" abstellt, auf kleinwüchsige Erwachsene beschränkt. Die vorgegebenen GdB-Werte berücksichtigen dementsprechend allein die aus der Kleinwüchsigkeit folgenden Einschränkungen von Erwachsenen bei der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, also beispielsweise auch im allgemeinen Erwerbsleben (vgl. Teil A Nr. 2a der Anlage zu § 2 VersMedV). Deshalb ist es für die rechtliche Bewertung des GdB ohne Belang, dass bei dem knapp elfjährigen Kläger, basierend auf dem bisherigen Wachstumsverlauf auf der 50. Perzentile, nach Wachstumsabschluss eine Körpergröße von 130 cm zu erwarten ist. Der Anwendbarkeit der Vorgaben in Teil B Nr. 18.7 der Anlage zu § 2 VersMedV steht vorliegend auch der Rechtsgedanke des Teil A Nr. 2h der Anlage zu § 2 VersMedV entgegen, wonach Gesundheitsstörungen, die erst in der Zukunft zu erwarten sind, bei der Bemessung des GdB nicht zu berücksichtigen sind.
Die Höhe des GdB ist deshalb bei dem Kläger individuell unter Beachtung der "besonderen Gegebenheiten" (siehe Teil A Nr. 2d der Anlage zu § 2 VersMedV) zu bemessen, wobei als Vergleichsmaßstab nach Teil B Nr. 1b der Anlage zu § 2 Vers-MedV die in der GdB-Tabelle aufgeführten Bewertungen entsprechend heranzuziehen sind. Ausgehend von den in § 2 Abs. 1 SGB IX niedergelegten Grundsätzen ist bei kleinwüchsigen Kindern darauf abzustellen, inwieweit ihre körperlichen Funktionen von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Im Vergleich zu seinen nicht behinderten Altersgenossen ist der Kläger im ganz besonderen Maße in seinem Gehvermögen und damit im Bereich der Mobilität betroffen. Der Sachverständige hat bei dem Kläger u.a. eine Muskelschwäche der Beine mit Betonung der Unterschenkelmuskeln, eine Muskelhypotonie, eine Störung der Bewegungskoordination und der selektiven motorischen Kontrolle auf Sprunggelenkebene sowie eine Beckenkippung mit Hyperlordose festgestellt und überzeugend darauf hingewiesen, dass insbesondere die Muskelschwäche und die Belastungsschmerzen in den großen Gelenken der Beine die Bewegungsfähigkeit beeinträchtigen. Darüber hinaus ist für die GdB-Bewertung die Dysproportionalität des Körperbaus durch die Verkürzung der unteren Extremitäten von besonderer Bedeutung. Denn die pathologisch veränderte Biomechanik führt nach den gutachterlichen Feststellungen bei dysproportionalem Kleinwuchs zu einer verminderten Belastungs- und Leistungsfähigkeit, die das Gehvermögen des Klägers im erheblichen Umfang einschränken. Insgesamt ist bei dem Kläger allein für die Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen, die sich negativ auf das Gehvermögen auswirken, ein GdB von 80 festzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.