Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 111/16 - Urteil vom 15.06.2017
Nach Abschnitt B 9.1.1. Ziff. 3 VMG besteht, wenn die Leistungsbeeinträchtigung bei einer Einschränkung der Herzleistung bereits bei alltäglicher leichter Belastung auftritt, hinsichtlich des GdB ein Bewertungsspielraum zwischen 50 und 70. Eine Festsetzung am oberen Rand des Bewertungsrahmens ist geboten, wenn nicht nur die Herzleistungsschwäche vorliegt, sondern darüber hinaus gravierende Lebenseinschränkungen bestehen, die den behinderten Menschen besonders in einem jugendlichen Alter stark betreffen. Das ist der Fall, wenn der behinderte Mensch seinen gesamten Lebensstil sehr stark einschränken muss, um lebensbedrohlichen Situationen vorzubeugen. Zu berücksichtigen ist auch, dass der behinderte Mensch Betablocker einnehmen muss, die zu starken Ermüdungserscheinungen, wie auch z.B. zur Notwendigkeit eines regelmäßigen Mittagsschlafs, führen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erhöhung des Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung des Merkzeichens B.
Die 2001 geborene Klägerin leidet an einem angeborenen Herzleiden, das als katecholaminerge, polymorphe, ventrikuläre Tachykardie zu bezeichnen ist und im Kern auf einer Allergie gegen Adrenalin beruht. Bedingt durch dieses Herzleiden kann es bei der Klägerin zu Herzrhythmusstörungen und zu Herzstillstand kommen. In einem solchen Fall, auch bei Bewusstlosigkeit der Klägerin, wäre die Verabreichung von Adrenalin, das ansonsten bei notfallmedizinischer Behandlung von Bewusstlosigkeit typischerweise verabreicht wird, kontraindiziert und lebensbedrohlich.
Im Jahr 2009 wurde der Klägerin ein so genannter ICD-Defibrillator implantiert, der leichtere Herz-Rhythmusstörungen zur späteren ärztlichen Auswertung aufzeichnet und der sich bei schweren Herz-Rhythmusstörungen selbst auslöst. Eine solche Selbstauslösung nach Bewusstlosigkeit erfolgte bei der Klägerin zuletzt im September 2013.
Am 13. Dezember 2013 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Feststellung eines GdB und die Zuerkennung von Merkzeichen. Nach Durchführung medizinischer Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 2014 einen GdB von 50 zu, lehnte die Zuerkennung von Merkzeichen jedoch ausdrücklich ab. Hierbei wurden auch die Merkzeichen G, B und H angesprochen. Am 13. Februar 2014 legte die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern, hiergegen Widerspruch ein und bezog den Widerspruch ausdrücklich auf den GdB sowie die Merkzeichen G und B. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2014 nach Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen wies die Beklagte den Widerspruch zurück und bezog diesen ebenfalls ausdrücklich auf den GdB sowie die Merkzeichen G und B.
Am 18. März 2014 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben und dabei einen höheren GdB sowie die Merkzeichen G und B begehrt. Im laufenden Klageverfahren hat sie einen Bescheid der Pflegekasse vom 12. Februar 2015 zu den Akten gereicht, in welchem ihr die Pflegestufe I zuerkannt worden war. Ferner hat sie eine Bescheinigung des behandelnden Kinderkardiologen Dr. K vom 19. Februar 2016 zu den Akten gereicht.
Mit Urteil vom 23. Februar 2016 hat das Sozialgericht Berlin die angefochtenen Bescheide abgeändert und den Beklagten zur Zuerkennung des Merkzeichens G verurteilt, weil dessen Voraussetzungen vorlägen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil weder ein höherer GdB noch die Voraussetzungen des Merkzeichens B vorlägen; die Klägerin bedürfe nicht der ständigen Begleitung.
Mit ihrer Berufung zum Landessozialgericht verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Im Berufungsschriftsatz vom 25. April 2016 hat sie sich ausdrücklich auf den GdB sowie die Merkzeichen G und B bezogen. In der Berufungsbegründung, eingegangen am 25. Juli 2016, hat sie sich auf den GdB und die Merkzeichen B und H bezogen; das bereits zugesprochene Merkzeichen G hat sie nicht weiter beantragt und das Merkzeichen H im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 15. Juni 2016 nicht mehr geltend gemacht. Mit Ausführungsbescheid vom 4. April 2016 hat der Beklagte der Klägerin mit Wirkung vom 13. Dezember 2013 das Merkzeichen G zuerkannt.
Die Klägerin meint, die Voraussetzungen für einen höheren GdB seien gegeben, weil die versorgungsmedizinischen Grundsätze für Herzleiden der bei der Klägerin vorliegenden Art im Bereich mittlerer Schwere einen Entscheidungsspielraum von 50 bis 70 zuließen. Gleichfalls seien die Voraussetzungen des Merkzeichens B erfüllt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. Februar 2016 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 14. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2014 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 4. April 2016 zu verpflichten, bei der Klägerin mit Wirkung vom 13. Dezember 2013 einen GdB von 70 und die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs B festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung der Facharzt für innere Medizin Prof. Dr. H am 30. März 2017 ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zur Einschätzung gelangt, die Klägerin bedürfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ständig der Hilfe einer Begleitperson. Der GdB sei mit 50 anzusetzen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist in dem zuletzt aufrecht erhaltenen Umfang auch begründet.
Zunächst steht der Klägerin ab Antragstellung die Feststellung eines GdB von 70 zu. Rechtsgrundlage für die Feststellung ist § 69 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) in Verbindung mit der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizinverordnung; diese Anlage enthält die versorgungsmedizinischen Grundsätze und wird im Folgenden deshalb als VMG bezeichnet.
Nach Abschnitt B 9.1.1. Ziff. 3 VMG gilt Folgendes: Wenn die Leistungsbeeinträchtigung bei einer Einschränkung der Herzleistung bereits bei alltäglicher leichter Belastung auftritt, besteht hinsichtlich des GdB ein Bewertungsspielraum zwischen 50 und 70. Zwischen den Beteiligten ist im Ergebnis nicht mehr streitig, dass diese Voraussetzungen bei der Klägerin vorliegen; sie sind auch durch das im Berufungsverfahren eingeholte medizinische Sachverständigengutachten im Einzelnen bestätigt worden. Streitig ist allein, an welcher Stelle innerhalb des vorgegebenen Bewertungsrahmens die Schwerbehinderung der Klägerin einzuordnen ist. Der Beklagte und insoweit auch der Sachverständige haben eine Einschätzung am unteren Rand vorgenommen; zur Überzeugung des Senats besteht indessen ein solches Ausmaß der Behinderung, dass eine Festsetzung am oberen Rand des Bewertungsrahmens geboten ist. Dies folgt daraus, dass bei der Klägerin keinesfalls nur die vorbezeichnete Herzleistungsschwäche vorliegt, sondern darüber hinaus gravierende Lebenseinschränkungen, die sie besonders in ihrem jugendlichen Alter stark betreffen. So muss die Klägerin ihren gesamten Lebensstil sehr stark einschränken, um lebensbedrohlichen Situationen vorzubeugen; bereits dies geht weit über die Einschränkungen hinaus, die als Normalfall im Sinne der vorgenannten Vorgaben der VMG zu gelten haben. Darüber hinaus muss die Klägerin auch eine Betablocker-Medikation einnehmen, die zu starken Ermüdungserscheinungen, wie auch z.B. zur Notwendigkeit eines regelmäßigen Mittagsschlafes, führt und die Klägerin ebenfalls in ihrer Lebensführung stark beeinträchtigt. Dies lässt es insgesamt als geboten erscheinen, dass der Bewertungsrahmen voll auszuschöpfen und ein GdB von 70 in Ansatz zu bringen ist.
Darüber hinaus steht der Klägerin auch die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches B zu. Rechtsgrundlage ist § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in Verbindung mit Abschnitt D 2. VMG. Nach § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Nach Teil D 2. Buchstabe b VMG ist eine Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, GL oder H vorliegen gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind.
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor. Zunächst besteht bei ihr das Merkzeichen G; sie ist auch bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen. Dies gilt auch und speziell beim Ein- und Aussteigen und während der Fahrt, weil die Klägerin aufgrund ihrer Behinderung bereits nicht in der Lage ist, notwendiges Gepäck, wie etwa eine Schultasche, selbst zu tragen und selbst dafür zu sorgen, dass sie rechtzeitig den ihr zustehenden Sitzplatz einnehmen kann. Bereits hierfür benötigt sie gegenwärtig noch die Hilfe einer Begleitperson. Darüber hinaus ist die Hilfe einer Begleitperson aber auch deswegen notwendig, weil bei der Klägerin während der Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels lebensbedrohliche Situationen eintreten können. Sofern aufgrund der vorhandenen Herzkrankheit ein Herzstillstand und Bewusstlosigkeit eintreten sollten, ist eine Begleitperson erforderlich, die bei ggf. eintreffendem medizinischem Notfallpersonal für die nötigen Hinweise sorgen kann. Insbesondere muss die Begleitperson darauf achten, dass der Klägerin kein Adrenalin verabreicht wird, weil dies für sie eine hohe Gefährdung ihres Lebens darstellen würde.
Hiergegen kann sich der Beklagte nicht mit Erfolg auf das Argument berufen, dass die lebensbedrohlichen Situationen der Klägerin auch außerhalb der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eintreten könnten und dass insoweit ein Merkzeichen nicht vorgesehen sei. Zwar trifft in der Tat zu, dass lebensbedrohliche Situationen bei der Klägerin sowohl bei der Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels als auch unabhängig von der Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels eintreten können und dass der außerhalb der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auftretende Gefahrenbereich nicht durch ein gesondertes Merkzeichen abgedeckt wird. Dies bedeutet aber nicht, dass die im Rahmen der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln gegebenen Gefährdungssituationen nicht durch Merkzeichen abgedeckt werden können. Es besteht kein Rechtssatz dahingehend, dass ein Merkzeichen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die Freifahrt von Begleitpersonen nur dann vergeben werden kann, wenn sich die spezifische Behinderung speziell oder gar ausschließlich bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel verwirklicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst; die kurzzeitige Geltendmachung des Merkzeichens H wirkt sich zur Überzeugung des Senats für die Kostenentscheidung nicht aus.
Die Revision war nicht zuzulassen, Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.