Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" - erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.

Auf den Antrag des Klägers vom 26. Juni 2000 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 5. Juli 2001 in der Fassung der Abhilfebescheide vom 29. Oktober 2001 und 27. März 2002 sowie in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2002 bei ihm einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest, wobei er zuletzt folgende (verwaltungsintern mit den sich aus den Klammerzusätzen ergebenden Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte:

a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen (40), 
b) hirnorganisches Psychosyndrom (30).

Er wies den Widerspruch des Klägers insoweit zurück, als dieser einen höheren GdB und die Merkzeichen "G" und "H" geltend machte.

Mit seiner bei dem Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage hat der Kläger seine Ansprüche auf Festsetzung eines GdB von mindestens 70 und Zuerkennung des Merkzeichens "G" verfolgt. Das Sozialgericht hat das Gutachten des Orthopäden Dr. R vom 8. Juli 2004 mit ergänzender Stellungnahme vom 27. September 2004 eingeholt, der einen Gesamt-GdB von 60 vorgeschlagen hat: Aufgrund eines Unfalls im Januar 2003 beständen Beschwerden im Bereich des linken Sprunggelenks. Seit diesem Zeitpunkt hätten auch die Beschwerden der Kniegelenke und der Wirbelsäule zugenommen. Eine deutliche Verstärkung der Schwerhörigkeit sei zwischen September 2004 und Juni 2004 eingetreten.

Daraufhin hat der Beklagte, gestützt auf die Stellungnahme des Versorgungsarztes Dr. J vom 6. August 2004, mit Schriftsatz vom 11. August 2004 ein Teilanerkenntnis dergestalt abgegeben, dass er ab Juni 2004 einen GdB von 70 feststellen werde. Hierbei ist er von folgenden Behinderungen ausgegangen:

a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule (40), 
b) Schwerhörigkeit beidseitig, Gleichgewichtsstörungen (40), 
c) Beeinträchtigung der Gehirnfunktion (30), 
d) Funktionsbehinderung des Schultergelenks beidseitig, Kraftminderung des rechten Unterarms (10), 
e) Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseitig, Funktionsbehinderung des oberen Sprunggelenks links, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig (10).

Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen, seine Klage hinsichtlich des Merkzeichens "G" weiter aufrechterhalten. Mit Bescheid vom 14. Juni 2005 hat der Beklagte das Teilanerkenntnis ausgeführt.

Das Sozialgericht Neuruppin hat den Beklagten mit Urteil vom 9. März 2005, berichtigt mit Beschluss vom 5. April 2005, verpflichtet, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen. Die Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten seien mit einem GdB von 50 zu bewerten. Diese setzten sich aus einem Einzel-GdB von 40 für das Wirbelsäulenleiden und Einzel-GdB von jeweils 10 für die Beschwerden der Kniegelenke und des linken Sprunggelenks zusammen.

Hiergegen hat der Beklagte Berufung eingelegt, über deren Rechtzeitigkeit zwischen den Beteiligten Streit bestanden hat. Mit Zwischenurteil vom 5. April 2006 zum Az. L 26 SB 27/05 hat das Landessozialgericht festgestellt, dass die Berufung des Beklagten zulässig ist. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 19. September 2007 als unzulässig verworfen.

Der Beklagte hat zur Begründung der Berufung insbesondere vorgebracht, die Bewertung der Funktionsstörungen der unteren Extremitäten mit einem GdB von 50 sei nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens sei für die - allein maßgeblichen - Beeinträchtigungen der Lendenwirbelsäule ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen, der durch die insgesamt mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertenden leichtgradigen Einschränkungen der unteren Extremitäten nicht zu erhöhen sei.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Orthopäden Dr. K vom 24. August 2008 mit ergänzender Stellungnahme vom 21. Oktober 2009, der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" bejaht hat. Ferner hat der Senat neben verschiedenen Entlassungsberichten das Gutachten des Allgemeinmediziners B vom 17. Oktober 2011 eingeholt. Der Sachverständige ist zu der Einschätzung gelangt, dass der Kläger in der Lage sei, ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 9. März 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, das Gutachten des Allgemeinmediziners B sei nicht zu verwerten, da dieser nicht über die notwendigen fachärztlichen Kenntnisse verfüge. Im Übrigen fehle eine Auseinandersetzung mit den vorangehenden gutachterlichen Stellungnahmen.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil den Beklagten im Ergebnis zu Recht verpflichtet, dem Kläger das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Merkzeichens sind bei dem Kläger erfüllt.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.

Denn Nr. 30 Abs. 3 bis 5 der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), wobei vorliegend entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 1996, 2004, 2005 und - zuletzt - 2008 heranzuziehen sind, gibt an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit tragen die Anhaltspunkte dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze", die am 1. Januar 2009 in Form einer Rechtsverordnung in Kraft getreten sind, enthalten hinsichtlich der Bewertung des Merkzeichens "G" keine grundsätzliche Änderungen, so dass es keiner Entscheidung darüber bedarf, ob sie mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage überhaupt Anwendung finden dürfen.

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G". Die Sachverständigen Dr. R und Dr. K haben übereinstimmend und überzeugend festgestellt, dass der Kläger eine Wegstrecke von 2000 m, die im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt wird, nicht innerhalb von 30 Minuten zurücklegen kann. Dieser Zustand besteht auch infolge einer Behinderung, die das Gehvermögen des Klägers einschränkt.

Allerdings lässt sich die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht allein auf eine behinderungsbedingte orthopädische Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei dem Kläger keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV). Zu Unrecht hat das Sozialgericht hierbei einen Einzel-GdB für die Wirbelsäule von 40 herangezogen, da mit diesem Wert die gesamte Wirbelsäule zu bewerten ist. Hinsichtlich des Merkzeichens "G" ist allein auf die Lendenwirbelsäule abzustellen. Unter Berücksichtigung der gutachterlich erhobenen Befunde haben - wovon auch der Beklagte ausgeht - die Wirbelsäulenschäden an der Lendenwirbelsäule des Klägers schwere funktionelle Auswirkungen, die nach Teil B Nr. 18.9 der Anlage zu § 2 VersMedV mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sind. Die übrigen Einschränkungen der unteren Extremitäten, nämlich die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke und des oberen Sprunggelenks links, erhöhen diesen GdB von 30 nicht, und zwar unabhängig davon, ob sie zusammengefasst mit einem Einzel-GdB von 10 oder jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Denn nach Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV führen (von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen) zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Nach den Feststellungen der Gutachter sind bei dem Kläger auch keine Behinderungen an den unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule mit einem GdB unter 50 gegeben, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, was beispielsweise bei einer Versteifung des Hüftgelenks, einer Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 anzunehmen wäre (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).

Eine rein orthopädische Betrachtungsweise wird den Behinderungen des Klägers jedoch nicht gerecht. Dementsprechend sieht Teil D Nr. 1d Satz 3 der Anlage zu § 2 VersMedV vor, dass die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit auch auf innere Leiden gestützt werden kann. Zu berücksichtigen ist vorliegend der chronisch rezidivierende Schwindel, an dem der Kläger leidet und den der Beklagte (unter "Gleichgewichtsstörungen") zu Recht im Ausführungsbescheid vom 14. Juni 2005 als Behinderung aufgeführt hat. Der Sachverständige Dr. K hat nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass die Beeinträchtigung des Klägers bei der Teilnahme am Straßenverkehr durch mehrere Teilkomponenten verursacht wird. Dessen Gehfähigkeit wird insbesondere durch das Zusammenspiel der orthopädisch-funktionellen Defizite der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule mit dem Schwindel eingeschränkt. Denn nach den Feststellungen des Gutachters beeinflussen die Gleichgewichtsstörungen mit Desorientiertheit und teilweise erheblichen Schwindelattacken maßgeblich die sichere Fortbewegung vor allem im öffentlichen Raum. Hierbei ist es unerheblich, ob der Schwindel auf das hirnorganische Psychosyndrom, auf eine Erkrankung des Hörorgans oder - wie der Sachverständige B im Gutachten vom 17. Oktober 2011 gemeint hat - auf eine Somatisierungsstörung zurückzuführen ist. Denn nach Teil A Nr. 2a der Anlage zu § 2 VersMedV ist der GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrer Ursache (also final) bezogen. Abzustellen ist vielmehr auf die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen. Entgegen der Ansicht des Beklagten tritt der Schwindel bei dem Kläger auch nicht allein nachts beim Umdrehen auf. In der ergänzenden Stellungnahme zu seinem Gutachten hat der Sachverständige Dr. K ausdrücklich dargelegt, der Kläger habe ihm gegenüber beschrieben, dass der Schwindel nicht nur beim nächtlichen Lagewechsel, sondern auch im Straßenverkehr auftrete. Auch wird den weiteren Bedenken des Beklagten nicht gefolgt, dass der Schwindel nur anamnestisch beschrieben worden ist. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger hieran leidet. Bereits in dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten des Orthopäden Dr. R hat der Sachverständige, den Angaben des Klägers folgend, vorgeschlagen, die Gleichgewichtsstörungen mit leichter Unsicherheit und Schwindelerscheinungen als Behinderung aufzunehmen. Auch im Entlassungsbericht der Klinik S vom 22. September 2009 wird von häufiger Schwindligkeit und Gehunsicherheit berichtet. Schließlich hat der Gutachter Dr. K dargelegt, gegen die Glaubhaftigkeit der vom Kläger gemachten Angaben spreche nicht, dass er bei der körperlichen Untersuchung keine Schwindelsymptome habe auslösen können. Denn die Ergebnisse der klinischen und röntgenologischen Untersuchung ließen eine derartige Einschätzung zu. Dem schließt der Senat sich an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits. Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens vor dem Sozialgericht ist berücksichtigt, dass der Beklagte der während des Klageverfahrens eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers durch das Teilanerkenntnis hinsichtlich der Höhe des GdB Rechnung getragen hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.