Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Der Kläger, der im April 2007 einen Schlaganfall erlitten hatte, beantragte bei dem Beklagten am 19. Juni 2007 die Feststellung eines GdB. Auf der Grundlage der eingeholten medizinischen Unterlagen erkannte ihm der Beklagte mit Bescheid vom 17. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2007 für die Funktionsbehinderungen

Durchblutungsstörung des Gehirns, Gesichtsnervlähmung links (Facialisparese), Hirnschädigung mit Teilleistungsstörung, Halbseitenteillähmung, Neglect nach links

einen GdB von 50 zu. Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat der Kläger einen GdB von 100 begehrt. Das Gericht hat durch Einholung fachärztlicher Gutachten Beweis erhoben. Der Augenarzt Dr. V. hat in seinem Gutachten vom 29. November 2008 eine

beiderseitige Gesichtsfeldeinengung

diagnostiziert, die er mit einem GdB von 30 bewertet hat. In seinem Gutachten vom 12. Mai 2009 mit ergänzender Stellungnahme vom 15. Dezember 2009 hat der Nervenarzt Dr. L. als Funktionsbeeinträchtigungen auf seinem Fachgebiet

- Hirnschaden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung, - depressives Syndrom, - Epilepsie

ermittelt. Unter Berücksichtigung des augenärztlichen Gutachtens hat er den Gesamt-GdB mit 100 eingeschätzt.

Mit Schriftsätzen vom 5. Februar 2009, 18. August 2009 und 12. April 2010 hat der Beklagte bei dem Kläger zunächst einen GdB von 60, dann von 70 und schließlich von 80 ab Antragstellung anerkannt. Diese Teilanerkenntnisse hat der Kläger nicht angenommen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 30. Juni 2010 abgewiesen, soweit sie über die Teilanerkenntnisse des Beklagten hinausgeht. Ein höherer GdB als 80 sei nicht zu begründen.

Mit Ausführungsbescheid vom 12. Juli 2010 hat der Beklagte bei dem Kläger ab 10. Juni 2007 einen GdB von 80 festgestellt. Dem legte er folgende (ausweislich der Stellungnahmen der Versorgungsärztin Dr. H. vom 17. August 2009 und vom 6. April 2010 mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Gesichtsnervenlähmung rechts (10), b) Durchblutungsstörung des Gehirns (30), c) Hirnschädigung mit kognitiven Leistungsstörungen (20), d) psychische Minderbelastbarkeit (20), e) Sprachstörung (40), f) Restlähmung der Gliedmaßen links (30), g) Anfallsleiden (40), h) Gesichtsfeldausfälle (30), i) Krampfaderleiden des rechten Beins (20).

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, dass dem Gutachten des Nervenarztes Dr. L zu folgen sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 30. Juni 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2007 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 12. Juli 2010 zu verpflichten, bei ihm ab 19. Juni 2007 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält an seinen Entscheidungen fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch, dass dieser bei ihm ab 19. Juni 2007 einen GdB von 100 feststellt. Das Sozialgericht hat mit der angegriffenen Entscheidung die Klage deshalb insoweit zu Unrecht abgewiesen.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und - zuletzt - 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - abgelöst haben.

Außerhalb des nervenärztlichen Fachgebiets bestehen bei dem Kläger Funktionseinschränkungen durch Gesichtsfeldeinengungen auf 30° Abstand vom Zentrum, die nach der nachvollziehbaren Einschätzung des Augenarztes Dr. V. in dessen Gutachten vom 29. November 2008 entsprechend Teil B Nr. 4.5 (Bl. 32) der Anlage zur VersMedV mit einem Einzel-GdB 30 zu bewerten sind, und durch ein Krampfaderleiden des rechten Beins, für das ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen ist. Hierüber bestehen zwischen den Beteiligten mit Recht keine Differenzen.

Neben dem depressiven Syndrom, das nach dem überzeugenden Vorschlag des Nervenarztes Dr. L. in dessen Gutachten vom 12. Mai 2009 mit ergänzender Stellungnahme vom 15. Dezember 2009, dem sich insoweit der Beklagte ausweislich der Stellungnahme der Versorgungsärztin Dr. H vom 6. April 2010 zutreffenderweise angeschlossen hat, mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist, leidet der Kläger an Hirnschäden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung.

Entgegen der Auffassung des Beklagten entspricht es nicht den Vorgaben der VerwMedV, zur Beurteilung der Höhe des GdB für diese Funktionsbeeinträchtigung die von ihm ermittelten Folgen der Hirnschädigung einzeln zu bewerten. Vielmehr sieht Teil B Nr. 3.1 (Bl. 20) der Anlage zur VersMedV vor, dass im Vordergrund die unter Teil B Nr. 3.1.1 (Bl. 21) der Anlage zur VersMedV aufgeführte Gesamtbewertung steht. Danach ist für Hirnschäden mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung ein GdB-Rahmen von 70 bis 100 vorgesehen. Die unter Teil B Nr. 3.1.2 (Bl. 21) der Anlage zur VersMedV angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome - nämlich psychische Störungen, zentrale vegetative Störungen, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, kognitive Leistungsstörungen, zerebral bedingte Teillähmungen und Lähmungen, Parkinson-Syndrom und andere extrapyramidale Syndrome sowie epileptische Anfälle - stellen lediglich eine ergänzende Hilfe zur Beurteilung dar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach der VersMedV der zu den einzelnen Syndromen genannte GdB in Einzelfällen höher zu bewerten ist als vergleichsweise Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht auf Hirnschäden zurückzuführen sind. So sieht Teil B Nr. 3.1.2 (Bl. 21) der Anlage zur VersMedV für Hirnschäden mit psychischen Störungen leichten Grades, die sich im Alltag gering auswirken, einen GdB-Rahmen von 30 bis 40 vor, während Teil B Nr. 3.7 (Bl. 27) der Anlage zur Vers-MedV bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen einen GdB-Rahmen von 0 bis 20 und erst bei stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB-Rahmen von 30 bis 40 vorschreibt. Auch diese Regelung zeigt, dass die von dem Beklagten gewählte Einzel-Bewertung keinen Rückhalt in der VersMedV findet.

An den genannten Vorgaben hat der Sachverständige Dr. L. sich orientiert, indem er die erforderliche Gesamtbewertung vorgenommen hat. Er hat betont, dass er die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in seinem Gutachten nur deshalb aufführt, um seine Gesamteinschätzung zu verdeutlichen. Hierbei handelt es sich um eine Sprechstörung mit deutlicher Kommunikationsstörung, sehr seltene epileptische Anfälle, eine leichte Restlähmung und Tonusstörung der Gliedmaßen, einen Neglect und eine leichte Hirnleistungsschwäche.

Im Übrigen unterliegt die Bewertung der nachrichtlich mitgeteilten Funktionsbeeinträchtigungen durch den Gutachter keinen Bedenken. Die Sprechstörung mit deutlicher Kommunikationsstörung festgestellt hat er zutreffend mit einem GdB von 50 bewertet. Denn nach Teil B Nr. 7.11 (Bl. 42) der Anlage zur VersMedV ist für schweres Stottern ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 vorgesehen. Aufgrund der von dem Gutachter dargestellten außergewöhnlichen psychoreaktiven Störungen, die der Kläger erfährt, ist der GdB entsprechend den Vorgaben in Teil B Nr. 7.11 (Bl. 43) der Anlage zur VersMedV auf 50 anzuheben. Die von dem Sachverständigen vorgenommenen Bewertungen der sehr seltenen epileptischen Anfälle mit einem GdB von 40 und der leichten Restlähmung und Tonusstörung der Gliedmaßen mit einem GdB von 30 entsprechen Teil B Nr. 3.1.2 (Bl. 22) der Anlage zur VersMedV. Für den Neglect hat er - zusammengefasst mit der Gesichtsfeldeinengung - einen GdB von 30 angesetzt. Auch dies ist nicht zu beanstanden. Die gutachterliche Bewertung der leichten Hirnleistungsschwäche, die sich insbesondere mit Konzentrations- und Ausdauerstörungen manifestiert, mit einem GdB von 30 entspricht dem unteren Bereich des in Teil B Nr. 3.1.2 (Bl. 21) der Anlage zur VersMedV vorgesehenen GdB-Rahmens.

Im Rahmen seiner Gesamtbewertung hat der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass bei dem Kläger - insbesondere unter Berücksichtigung des depressiven Syndroms und der Beeinträchtigungen auf augenärztlichem Fachgebiet - ein Gesamt-GdB von 100 festzustellen ist. Denn die Hirnleistungsschwäche, die Depression, die Sprechstörung und die Sehstörung mit dem Neglect verstärken sich wechselseitig. So führen die Hirnleistungsschwäche und die Sehstörung mit dem Neglect in gegenseitiger Ergänzung zu einer allgemeinen Verunsicherung des Klägers und verstärken damit dessen Sprechstörung. Hierdurch werden wiederum dessen Schwierigkeiten, sich im Unfeld Hilfe zu suchen, verstärkt. In deren Folge tritt ein sozialer Rückzug des Klägers mit Verstärkung der depressiven Symptomatik ein, wodurch therapeutisch angelernte Übungserfolge wieder zunichte gemacht werden. Daneben kommt es zu einem ängstlichen Rückzug des Klägers aufgrund der Befürchtung, wieder einen epileptischen Anfall zu erleiden, zu einem soziophobischen Rückzug aufgrund der als beschämend und irritierend wahrgenommenen Sprechstörung und zu einer Verunsicherung, sich im Straßenverkehr zu bewegen, aufgrund der Sehstörung und der Restlähmung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.