Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 210/12 - Urteil vom 22.04.2015
Bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G"
erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des
Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h.
altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt
werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa
zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird.
Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend,
dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das
Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber
hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung
des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen
einschränken muss.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Zuerkennung des Merkzeichens G.
Bei dem 1947 geborenen Kläger hatte der Beklagte im Juni 1995 einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Auf einen Neufeststellungsantrag des Klägers vom 10. Juli 2007 stellte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 31. Januar 2008 einen GdB von 50 fest und zwar auf der Grundlage eines Gutachtens der Fachärztin für Chirurgie Dr. L nach Untersuchung des Klägers am 10. Juli 2009. Danach lagen beim Kläger mit jeweiligem Einzel-GdB in Klammerzusatz vor:
• nach dem OEG anzuerkennende Schädigungsfolge (20),
• muskulär unvollständig
kompensierter vorderer Kreuzbandriss des rechten Kniegelenks,
• Läsion des
Innenmeniskus (20),
• operativ behandelter Bruch des 5. Mittelhandknochens
rechts mit verbliebenden Restbeschwerden, reizlose Operationsnarbe (10,)
•
degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung (40),
•
chronisch venöse Insuffizienz des Beines (10),
• Neigung zur nervösen Dysregulation (10).
Nach Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G vom 28. April 2008 setzte der Beklagte mit Bescheid vom 30. Juli 2008 den GdB auf 60 herauf und füge den vorgenannten Funktionsstörungen die weitere Störung psychische Störung (GdB 30) hinzu.
Mit seinem hier gegen gerichteten Widerspruch begehrte der Kläger die weitere Zuerkennung des Merkzeichens G. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2010 wies der Beklagte nach Einholung eines Gutachtens durch den Facharzt für Orthopädie J vom 20. April 2010 zurück.
Mit der am 13. Juni 2010 erhobenen Klage hat der Kläger zunächst die Feststellung eines höheren GdB als 60 und der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens G begehrt, sich dann jedoch auf das Merkzeichen beschränkt. Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B vom 20. September 2011 eingeholt und die Klage mit Urteil vom 23. August 2012 abgewiesen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. B gestützt. Soweit sich der Kläger auf psychosomatische Störungen bezogen habe, sei dies unerheblich, da psychisch erkrankte Personen, deren Leiden nicht mit Anfällen gleichzusetzen seien und nicht zu Störungen der Orientierungsfähigkeit führten, sondern lediglich mit Angstzuständen einhergingen, nicht in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt seien. Das Urteil ist der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 30. August 2012 zugestellt worden.
Mit der am 29. September 2012 erhobenen Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. A vom 3. Juni 2013. Danach leide der Kläger an einer neurasthenischen Entwicklung auf dem Boden einer anankastischen Persönlichkeitsstörung, nachdem OEG anerkannten Schädigungsfolgen (einschließlich der Restsymptomatik einer psychogenen Traumareaktion), LWS- und HWS-Beschwerden leichten Grades ohne neurologisches Defizitsyndrom sowie Folgen eines beidseits operierten Krampfaderleidens der Beine mit Restsymptomen einer Teilparese des Nervus Peroneus. Der Gesamt-GdB solle nach Auffassung des Sachverständigen mit 70 bemessen werden. Nach Auffassung des Sachverständigen sei eine Einschränkung des Gehvermögens weder aus somatischen noch aus psychiatrischen Gründen festzustellen.
Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2003 hat der Beklagte ein von ihm sog. "Teilanerkenntnis" dahingehend abgeben, dass der Grad der Behinderung ab September 2010 mit 70 festgestellt werde. Der Kläger ist unter Annahme des "Teilanerkenntnisses" mit Schriftsatz vom 16. August 2013 dem Ergebnis der Begutachtung in Übrigen entgegengetreten und hat die Auffassung vertreten, dass Gutachten gebe seine körperlichen Beeinträchtigungen nur unzutreffend wieder. Insoweit habe sich der fachfremde Sachverständige nicht mit dem orthopädischen Leiden auseinandersetzen können.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat weiter nach § 109 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. H vom 22. März 2014. Aufgrund einer Untersuchung durch den Sachverständigen am 5. März 2014 ist der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, beim Kläger lägen auf orthopädischem Gebiet folgende Funktionseinschränkungen vor:
1. Wirbelsäulenfehlform mit deutlichen degenerativen Veränderungen und deutlichen Funktionsbehinderungen in allen drei Wirbelsäulenabschnitten, insbesondere erhebliche Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule bei Bandscheibenschäden, Spinalkanal- und Neuroforamenstenose im Bereich der LWS und degenerativen Veränderungen, Neuroforamenstenosen und Bandscheibenschäden mit Funktionseinschränkungen der HWS. Claudicatio-Spinalis. 2. mediale Arthrose und retropatellare Condromalazie, Riss des vorderen Kreuzbandes und Innenmeniskusriss mit deutlichen Funktionseinschränkungen des rechten Kniegelenkes 3. Lähmung des Nervus Peroneus im rechten Bein 4. Pigmentstörungen beider Unterschenkel und leichte trophische Störung rechter Unterschenkel bei Zustand nach Warizenoperation beidseits.
Dem zu 1. genannten Leiden sei ein Einzel-GdB von 40, dem zu 2. genannten Leiden ein Einzel-GdB von 30 und dem zum 3. genannten Leiden ein Einzel-GdB von 20 zuzuordnen, dem zu 4. genannten Leiden hingegen ein GdB von 0. Insgesamt betrage der Grad der Behinderung 50. Der Kläger könne infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden. Insoweit weiche er von den vorherigen Feststellungen ab. Offenbar sei die Claudicatio-Spinalis nicht erkannt worden. Seines Erachtens zeigten die Schilderungen des Klägers mit dem klinischen und bildgebenden Verfahren deutlich jenes Krankheitsbild. Auch sei die Streckhemmung im rechten Kniegelenk offenbar nicht erkannt worden.
Der Kläger sieht sich durch das Gutachten in seiner Einschätzung bestätigt. Er beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 23. August 2012 und des Bescheides des Beklagten vom 30. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2010 zu verpflichten, die medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen G mit Wirkung vom 5. März 2014 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Er ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist in dem nach teilweiser Rücknahme noch streitgegenständlichen Umfang auch begründet, denn der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung der medizinischen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab dem 5. März 2014.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch / Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2).
Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 - L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 - L 8 SB 2723/13 -; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 - L 10 SB 154/12 -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - L 11 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die ortsübliche Wegstrecke "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Denn nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. H im Gutachten vom 22. März 2014 wirken sich auf dessen Gehfähigkeit die Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße mit einem GdB von 50 besonders aus, wobei insbesondere auch eine Streckhemmung des rechten Kniegelenkes als ursächlich zu benennen sei, über die die Ausführungen des Vorgutachters keine Bemerkungen enthielten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.