Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Bei dem 1939 geborenen Kläger war 2002 ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Auf dessen Verschlimmerungsantrag vom 13. Oktober 2009 stellte der Beklagte bei ihm nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 4. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2010 einen Grad der Behinderung von 40 fest und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule bei Bandscheibenschaden mit Wurzelreizerscheinungen, Cervikal- und Lumbalsyndrom (Einzel-GdB von 30),
- Kniegelenkarthrose beidseitig bei Meniskusoperation (Einzel-GdB von 30),
- Dienstunfallfolgen (Einzel-GdB von 10),
- Periarthrosis humeroscapularis links mit rezidivierenden Schmerzen, Epicondylitis links (Einzel-GdB von 10).

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der anwaltlich vertretene Kläger "weiterhin die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" verfolgt. Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2011 hat er vortragen lassen, es lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" vor, da laut ärztlichen Feststellungen seine Gehstrecke unter 500 Meter liege. Unter dem 23. November 2011 hat er nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) "zur Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" beantragt, den Orthopäden Dr. Sch zu hören.

In dem am 14. Mai 2012 bei dem Sozialgericht eingegangenen Gutachten hat der Sachverständige unter Annahme eines Gesamt-GdB von 50 die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bejaht, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausgegangen ist:
- Wirbelsäulenschaden im cervikalen und lumbalen Abschnitt mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen (Einzel-GdB von 30),
- Bewegungs- und Belastungseinschränkung beider Kniegelenke mittleren Grades mit erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Einzel-GdB von 30),
- Schäden der oberen Gliedmaßen mit Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenks geringen Grades (Einzel-GdB von 10),
- Schäden der unteren Gliedmaßen mit geringgradigen Bewegungseinschränkungen des linken Hüftgelenks (Einzel-GdB von 10),
- geringgradige Schwerhörigkeit beider Ohren (Einzel-GdB von 10).

Das Sozialgericht hat das Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. Sp vom 28. September 2012 eingeholt, der das vorangegangene Gutachten im Ergebnis bestätigt hat. Der Sachverständige hat folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt:
- Wirbelsäulenschaden im cervikalen und lumbalen Bereich (Einzel-GdB von 30),
- krankhafte Störungen an den Kniegelenken (Einzel-GdB von 40),
- Einschränkung im Schultergelenk (Einzel-GdB von 10),
- Schwerhörigkeit (Einzel-GdB von 10).

An dieser Bewertung, insbesondere hinsichtlich der Kniegelenkerkrankung, welcher der Beklagte entgegengetreten ist, hat der Sachverständige auch in seiner Stellungnahme vom 18. März 2013 unter Hinweis auf die in schwerem Ausmaß vorliegenden Bandinstabilitäten festgehalten.

Das Sozialgericht hat - im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung - mit Urteil vom 12. September 2013 den Beklagten verpflichtet, bei dem Kläger ab Oktober 2009 einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festzustellen. Der Beklagte ist dem mit Ausführungsbescheid vom 9. Juli 2014 nachgekommen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten, der meint, das Sozialgericht sei zu Unrecht dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Sp gefolgt. Vielmehr seien die Funktionseinschränkungen der Kniegelenke lediglich mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Hieraus ergebe sich ein Gesamt-GdB von 40. Mangels Schwerbehinderung des Klägers habe dieser keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G".

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. September 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass die sozialgerichtliche Entscheidung zutreffend ist.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 12. September 2013 den Beklagten zu Recht verpflichtet, bei dem Kläger ab Oktober 2009 einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" festzustellen.

Es war insbesondere nicht deshalb an einer Entscheidung über die Höhe des GdB gehindert, weil diese nicht Gegenstand des Klageverfahrens gewesen wäre. Vielmehr ergibt sich aus der Auslegung des Vorbringens des anwaltlich vertretenen Klägers, dass er mit seiner Klage einen GdB von 50 begehrt hat. Zwar bezieht sich der Klageantrag seinem Wortlaut zufolge nicht auf die Höhe des GdB, sondern allein auf das Merkzeichen "G". Der offenbar als Textbaustein eingefügte Satz "Dem Kläger steht der im Klageantrag geltend gemachte GdB zu" (Seite 2 der Klageschrift vom 30. September 2010) geht deshalb ins Leere. Auch den weiteren Schriftsätzen der Prozessbevollmächtigten des Klägers ist nicht zu entnehmen, dass neben dem Merkzeichen "G" die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 begehrt wird. Hinzu kommt, dass die Prozessbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, eine im Hinblick auf das Merkzeichen bindende Festlegung des GdB sei nicht erfolgt; vielmehr seien die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G", zu denen auch der GdB von 50 gehöre, in jedem Fall zu prüfen. Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung wäre es sogar konsequent, die Höhe des GdB nicht zum Gegenstand des Klageverfahrens zu machen. Jedoch legt der Senat die Prozesserklärung vorliegend danach aus, wie ein verständiger Beteiligter sie gemeint haben würde. Danach war es zur Verfolgung der Zuerkennung des Merkzeichens "G" erforderlich, einen GdB von 50 zu erlangen, um zu verhindern, dass der Bescheid vom 4. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2010 insoweit bestandskräftig wird, als dort ein Gesamt-GdB von 40 festgestellt wurde. Denn wegen der bindenden Feststellung des GdB von 40 wäre die Zuerkennung des Merkzeichens "G" von vornherein nicht möglich gewesen, da diese die Schwerbehinderteneigenschaft voraussetzt. In diesem Sinne hat auch das Sozialgericht den Antrag ausgelegt.

1. In der Sache hat der Kläger Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".

Die - zwischen den Beteiligten allein im Streit stehende - Bewertung der Funktionseinschränkungen der Kniegelenke hat sich an den Regelungen in Teil B Nr. 18.14 der Anlage zu § 2 VersMedV auszurichten. Hieraus ergibt sich ein Einzel-GdB von 40. Denn bei dem Kläger liegen beidseitige Bewegungseinschränkungen mittleren Grades im Kniegelenk vor. Dies entnimmt der Senat den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sp. Unerheblich ist, dass die von beiden Gutachtern übereinstimmend erhobenen Bewegungsmaße der Kniegelenke (Streckung/Beugung rechts: 0-10-110 und links: 0-10-100) nicht die in Teil B Nr. 18.14 genannten Werte (Streckung/Beugung rechts: 0-10-90 und links: 0-10-90) erreichen. Denn hierbei handelt es sich ausdrücklich nur um Beispiele für Bewegungseinschränkungen. Vielmehr ist vorliegend die erhebliche Instabilität entscheidend: Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist sowohl im Bereich des Innen- als auch des Außenbandes eine Lockerung eingetreten; ebenso ist das vordere und hintere Kreuzband gelockert. Als Folge dieser Störung kommt es zu einem erheblichen Reizzustand bei der Fortbewegung.

Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Der höchste Einzel-GdB von 40 für die unteren Extremitäten ist im Hinblick auf das Wirbelsäulenleiden des Klägers, das mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten ist, um einen Zehnergrad auf 50 zu erhöhen. Die übrigen Funktionsbehinderungen des Klägers wirken sich nicht erhöhend aus, da sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind.

2. Der Kläger hat auch Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G".

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2).

Nach den gutachterlichen Feststellungen ist dem Kläger diese Wegstrecke nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich, und zwar "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Denn auf die Gehfähigkeit des Klägers wirken sich nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen die schwere beidseitige Kniearthrose mit Beugekontraktur, der Muskelverlust im Bereich des Oberschenkels und die Fehlbelastung sowie die degenerative Erkrankung der Lendenwirbelsäule negativ aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.