Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über die Zuerkennung des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

1988 wurde bei der Klägerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 festgestellt. Am 24. März 2010 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie auch das Merkzeichen G begehrte. Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 13. Januar 2011 bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 50 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens G ab. Auf den Widerspruch der Klägerin setzte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 2012 bei ihr einen Grad der Behinderung von 60 fest, wies aber im Übrigen den Widerspruch zurück. Dem legte er folgende Behinderungen zugrunde:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, Nervenwurzelreizerscheinung der Wirbelsäule, Wachstumsstörung der Wirbelsäule (Scheuermann) (Einzel-GdB von 30),
2. Funktionsbehinderung des Hüftgelenks beidseits und Funktionsbehinderung des Kniegelenks beidseits, Knorpelschäden am Kniegelenk beidseits, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, chronisch-venöse Insuffizienz (Krampfaderleiden des Beines) beidseits (Einzel-GdB von 20),
3. Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck bei Adipositas per magna und Zustand nach Magenbypass, Fettstoffwechselstörung (Einzel-GdB von 20),
4. Entzündete Darmwandausstülpungen (Einzel-GdB von 20),
5. Durchblutungsstörung des Gehirns (Einzel-GdB von 10).

Mit ihrer Klage beim Sozialgericht Berlin hat die Klägerin das Merkzeichen G begehrt. Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Orthopäden Dr. P eingeholt, der einen Gesamt-GdB von 70 vorgeschlagen und die Voraussetzungen für das Merkzeichen G bejaht hat. Der Gutachter hat folgende Behinderungen bei der Klägerin festgestellt:

1. Funktionsstörung der Wirbelsäule, Halswirbelsäule und Brustwirbelsäule (Einzel-GdB von 30),
2. Funktionsbehinderung des Hüftgelenks und der Kniegelenke beidseits (Einzel-GdB von 20),
3. Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks (Einzel-GdB von 20),
4. Funktionsbehinderung, verursacht durch Herzrhythmusstörungen, Angina Pectoris und eine kardiale Symptomatik (Einzel-GdB von 20),
5. Funktionsstörung durch entzündliche Darmwandausstülpungen (Einzel-GdB von 20),
6. Funktionsstörung durch Durchblutungsstörung des Gehirns (Einzel-GdB von 10),
7. Funktionsstörung durch psychische Störungen, Depression, Schmerzverarbeitungsstörung (Einzel-GdB von 20).

Dem Gutachten folgend hat das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 25. August 2015 den Beklagten zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G ab 24. März 2010 verpflichtet. Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. August 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung des Beklagten wird nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss zurückgewiesen, da der Senat sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verpflichtet, da die Klägerin hierauf einen Anspruch hat.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Nach den gutachterlichen Feststellungen ist der Klägerin diese Wegstrecke nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich.

Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in §§ 145 Abs. 1 Satz 1, 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.). Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter (so BSG, Urteil vom 11. August 2015, B 9 SB 1/14 R).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Klägerin die ortsübliche Wegstrecke "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Der Sachverständige Dr. P hat in seinem Gutachten überzeugend dargelegt, dass bei der Klägerin, bezogen auf die unteren Gliedmaßen und die Lendenwirbelsäule, ein GdB von 40 vorliegt. Diese orthopädischen Behinderungen zeitigen durch das Hinzutreten weiterer Störungen, insbesondere der massiven Adipositas, besonders ungünstige Auswirkungen auf die Gehfähigkeit. Dem schließt der Senat sich an. Denn ein erhebliches Übergewicht gehört nicht zu den Faktoren, die keinen Bezug zu einer Behinderung haben und daher bei der Beurteilung des Gehvermögens unberücksichtigt bleiben (vgl. BSG, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierbei ist es entgegen der Ansicht des Beklagten unerheblich, dass in dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall bei Klägerin ein Narbenbruch mit Vorfall der Baucheingeweide vorgelegen hat, an dem die Klägerin des vorliegenden Streitverfahrens nicht leidet. Entscheidend ist vielmehr, dass die Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr durch funktionelle Auswirkungen der Adipositas per magna so weit verstärkt werden, dass die zumutbare Wegstrecke auf unter 2 km abgesunken ist (so BSG, Urteil vom 24. April 2008 a.a.O.). Dies ist nach den gutachterlichen Feststellungen bei der Klägerin der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.