Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 296/08 - Urteil vom 09.06.2011
Ein Lynch-Syndrom ist ein hereditäres non-polypöses Kolonkarzinom (HNPCC), bei dem eine gehäufte Assoziation zu synchronen oder metachronen Zweitkarzinomen besteht. Während bei den nicht heriditären Formen des Kolonkarzinoms nach einer Beobachtungszeit von fünf Jahren selten mit einem Rezidiv oder gar Zweittumor zu rechnen ist, muss beim Lynch-Syndrom von einer solchen Gefährdung in 45 % der Fälle ausgegangen werden. Auch unter Berücksichtigung der psychischen Belastung ist deshalb von einer "Entfernung anderer maligner Darmtumoren" im Sinne von Teil B Nr. 10.2.2 VMG auszugehen, die mit einem GdB von wenigstens 80 während einer Heilungsbewährung von fünf Jahren zu bewerten ist.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im vorliegenden Berufungsverfahren noch über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) für den Zeitraum vom 1. März 2004 bis zum 31. Januar 2009.
Der 1959 geborene Kläger musste sich im Juni 1996 einer Krebsoperation unterziehen, bei der Teile des Dickdarms und ein Wandabschnitt der Harnblase reseziert wurden. Auf dessen Antrag stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 1997 für die Behinderung "Geschwulstleiden des Darmes mit Komplikationen im Stadium der Heilungsbewährung" einen GdB von 80 fest und befristete den Schwerbehindertenausweis bis September 2001. Nach Ablauf der Heilungsbewährung setzte der Beklagte mit Bescheid vom 26. September 2001 unter Zugrundelegung Funktionsbehinderung "Harninkontinenz, Teilverlust des Dickdarms" den GdB auf 20 herab.
Im Januar 2004 wurde bei dem Kläger ein Zweittumor im Dickdarm festgestellt, der eine Darmoperation notwendig machte. Wegen eines postoperativen Darmverschlusses mussten im Februar 2004 der Dünndarm auf 110 cm (Normallänge: 450 bis 480 cm) und der Dickdarm auf 30 cm (Normallänge: 150 cm) verkürzt werden. Auf den Antrag des Klägers erhöhte der Beklagte mit Bescheid vom 6. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2004 den Gesamt-GdB auf 60, lehnte jedoch die Zuerkennung der beantragten Merkzeichen "G", "H" und "RF" ab. Dem legte er folgende (mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde:
a) Dickdarmerkrankung (in Heilungsbewährung), Teilverlust des Dickdarms,
Nachprüfung im Januar 2006 (50),
b) Harninkontinenz (20).
Am 9. September 2004 beantragte der Kläger die Überprüfung dieser Entscheidung. Während des Verwaltungsverfahrens stellte er am 7. März 2005 einen Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Nach versorgungsärztlicher Auswertung der ihm vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere der Befundberichte der Hausärztin Dr. P vom 23. November 2004 und des Rentengutachtens des Chirurgen Dr. Sch vom 7. Juni 2005, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 2006 unter Zugrundelegung der Behinderungen
a) Dickdarmerkrankung (in Heilungsbewährung), Teilverlust des Dickdarms,
funktionelle Darmstörungen, Teilverlust des Dünndarms (60),
b) Harninkontinenz (20),
c) Hauterkrankung (10)
mit Wirkung ab 1. März 2004 einen Gesamt-GdB von 70 fest. Das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "aG" verneinte er.
Mit der am 2. Februar 2006 bei dem Sozialgericht Neuruppin erhobenen Klage hat der Kläger einen Gesamt-GdB von 80 und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG" begehrt.
Das Sozialgericht hat den Befundbericht der den Kläger behandelnden Hausärztin Dr. P vom 31. August 2006 einschließlich diverser Krankenhausberichte eingeholt, die Rentengutachten der Nervenärztin Dr. W vom 28. Juli 2005 und des Nervenarztes Dr. D vom 31. August 2006 beigezogen sowie Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens der Arbeitsmedizinerin Dr. F vom 19. Februar 2008. Die Sachverständige hat folgende Behinderungen bei dem Kläger festgestellt:
seit März 2004
a) Dickdarmerkrankung, funktionelle Darmstörungen durch Teilverlust des Dünn-
und des Dickdarms, Verwachsungsbeschwerden (GdB von 60 während der Heilungsbewährung
von März 2004 bis Januar 2006 - nach Ablauf der Heilungsbewährung ab Februar
2006 GdB von 30),
b) Harninkontinenz (20), seit Juli 2005
c) psychische Störungen (GdB von 20, ab August 2006 GdB von 30), seit August
2005
d) Hautleiden (GdB von 10), seit August 2006
e) Afterschließmuskelschwäche (GdB von 20).
Die Gutachterin hat den Gesamt-GdB für den Zeitraum von März 2004 bis Januar 2006 mit 70, für den Zeitraum von Februar 2006 bis Juli 2006 mit 50 und für den Zeitraum ab August 2006 mit 60 bewertet. Ihrer Einschätzung nach wirkten sich die inneren und seelischen Leiden des Klägers nicht auf dessen Gehvermögen aus.
Mit Urteil vom 10. Juli 2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 80. Zur Begründung ist es der Sachverständigen Dr. F gefolgt. Auch lägen die Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "aG" nicht vor, da die Leiden des Klägers sich nicht auf dessen Gehfähigkeit auswirkten.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Nach dem Auftreten des Rezidivs sei eine Heilungsbewährung von fünf Jahren anzunehmen, während derer ein GdB von 80 festzustellen sei. Jedenfalls sei bereits für die funktionelle Beeinträchtigung durch seine Darmleiden entsprechend der Bewertung des Morbus Crohn ein GdB von 60 angemessen. Hinzu komme die Harninkontinenz, die wenigstens mit einem GdB von 40 zu bewerten sei. Des Weiteren seien die psychischen Störungen mit einem GdB von 30, die Afterschließmuskelschwäche mit einem GdB von 20 und das Hautleiden mit einem GdB von 10 zu berücksichtigen. Insgesamt sei ein GdB von 80 zu bilden. Außerdem sei seine außergewöhnliche Gehbehinderung festzustellen.
Bereits im Februar 2006 hatte der Beklagte das Nachprüfungsverfahren eingeleitet. Während dieses Verfahrens hat der Kläger erneut Antrag auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" gestellt. Auf der Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme zu dem Befundbericht der Hausärztin Dr. P einschließlich des Entlassungsberichts der stationären Reha-Behandlung von November 2005 bis Januar 2006 hat der Beklagte mit Bescheid vom 1. September 2008 den Gesamt-GdB ab Bescheiddatum auf 50 herabgesetzt und die Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "aG" abgelehnt. Dem hat er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:
a) Dickdarmerkrankung, Teilverlust des Dickdarms, funktionelle Darmstörungen,
Teilverlust des Dünndarms - Ablauf der Heilungsbewährung - (40),
b) Harninkontinenz (20),
c) psychische Störungen (20),
d) Hauterkrankung (10).
Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das Gutachten des Chirurgen Dr. B vom 14. April 2010 eingeholt. Der Sachverständige hat folgende Behinderungen, für die ein Gesamt-GdB von 80 angemessen sei, festgestellt:
a) Dünn- und Dickdarmerkrankung und Folgeerscheinungen (60) - Lynchsyndrom
und erhöhte Tumormarker (20), - Kurzdarmsyndrom - Dünndarm (40), - subtotale
Kolektomie (30), - Afterschließmuskelschwäche (20), - Verwachsungsbauch (10 -
20),
b) Harninkontinenz (20),
c) psychische Störungen (30),
d) Hauterkrankung (10).
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 9. Juni 2011 hat der Kläger die Geltendmachung des Merkzeichens "aG" im Hinblick auf die Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung vom 4. Juni 2009 auf die Zeit ab dem 19. Juni 2009 beschränkt.
Mit Beschluss vom 9. Juni 2011 hat der Senat das Verfahren hinsichtlich des GdB für die Zeit ab Februar 2009 und hinsichtlich der Merkzeichen abgetrennt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 10. Juli 2008 aufzuheben, soweit das Verfahren nicht abgetrennt ist, und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 3. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 2006 zu verpflichten, bei dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 6. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2004 für die Zeit vom 1. März 2004 bis zum 31. Januar 2009 einen GdB von 80 festzustellen, ferner den Bescheid des Beklagten vom 1. September 2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, den ärztlichen Sachverständigenbeirat dahingehend zu befragen, ob die Heilungsbewährung nach Nr. 10.2.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bei Auftreten eines Zweitumors mit fünf Jahren anstatt von zwei Jahren Heilungsbewährung anzusetzen wäre, auch wenn das eigentliche Tumorstadium des Zweittumors lediglich den Ansatz einer zweijährigen Heilungsbewährung bedingen würde.
Er hält seine angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit hierüber nach Abtrennung eines Teils des Rechtsstreits im vorliegenden Verfahren zu entscheiden ist, begründet.
Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 3. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 2006 ist in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Denn der Kläger hat nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) einen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 80 für den Zeitraum vom 1. März 2004 bis zum 31. Januar 2009 unter (teilweiser) Aufhebung des Bescheides vom 6. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2004. Das Sozialgericht hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen.
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, u. a. mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Beklagte hat bei Erlass des Bescheides vom 6. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 2004 das Recht unrichtig angewandt, soweit er bei dem Kläger für den Zeitraum vom 1. März 2004 bis zum 31. Januar 2009 einen Gesamt-GdB von lediglich 60 festgestellt hat.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten gelten. Heranzuziehen sind entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 2004, 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - abgelöst haben. Bei dem Kläger lag für den Zeitraum vom 1. März 2004 bis zum 31. Januar 2009 bereits im Hinblick auf das zweite Darmkarzinom ein GdB von 80 vor. Die Einschätzung der Sachverständigen Dr. F, es habe sich um die Entfernung eines malignen Darmtumors im Frühstadium gehandelt, demzufolge der GdB während einer Heilungsbewährung von zwei Jahren nach Nr. 26.10 (S. 80) der AHP 2004 mit 50 anzusetzen sei, wird nicht gefolgt. Die Begründung der Gutachterin, die sich darauf beschränkt hat, auf die im Operationsbericht vom 21. Januar 2004 mitgeteilte Tumorformel T2 N0 M0 zu verweisen, ist im vorliegenden Fall nicht überzeugend.
Zwar sind mit der Ersten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 1. März 2010 (BGBl. I S. 249) in Teil B Nr. 10.2.2 (Bl. 56) der Anlage zur VersMedV (welcher die Nr. 26.10 [S. 80] der AHP 2004 bis 2008 entsprach) die Wörter "nach Entfernung eines malignen Darmtumors im Frühstadium" durch die Wörter "nach Entfernung eines malignen Darmtumors im Stadium (T1 bis T2) N0 M0" ersetzt worden. Es kann offen bleiben, ob diese Regelung rückwirkend auch für den streitbefangenen Zeitraum anzuwenden ist, da es hierauf nicht ankommt. Aus diesem Grund ist auch dem Beweisantrag des Beklagten, den ärztlichen Sachverständigenbeirat dahingehend zu befragen, ob die Heilungsbewährung nach Teil B Nr. 10.2.2 der Anlage zu § 2 VersMedV der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bei Auftreten eines Zweittumors mit fünf Jahren anstatt von zwei Jahren Heilungsbewährung anzusetzen wäre, auch wenn das eigentliche Tumorstadium des Zweittumors lediglich den Ansatz einer zweijährigen Heilungsbewährung bedingen würde, nicht nachzukommen.
Denn vorliegend leidet der Kläger an einem Lynch-Syndrom. Dieses hereditäre non-polypöse Kolonkarzinom (HNPCC) ist, worauf der Sachverständige Dr. B hingewiesen hat, dadurch gekennzeichnet, dass eine gehäufte Assoziation zu synchronen oder metachronen Zweitkarzinomen besteht. Während bei den nicht heriditären Formen des Kolonkarzinoms nach einer Beobachtungszeit von fünf Jahren selten mit einem Rezidiv oder gar Zweittumor zu rechnen ist, muss beim Lynch-Syndrom von einer solchen Gefährdung in 45 % der Fälle ausgegangen werden. Auch unter Berücksichtigung der psychischen Belastung ist hier von einer "Entfernung anderer maligner Darmtumoren" im Sinne von Teil B Nr. 10.2.2 (Bl. 56) der Anlage zur VersMedV auszugehen, die mit einem GdB von wenigstens 80 während einer Heilungsbewährung von fünf Jahren - hier bis zum 31. Januar 2009 - zu bewerten ist.
Hieraus ergibt sich, dass auch der nach § 96 Abs. 1 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordene Bescheid des Beklagten vom 1. September 2008 hinsichtlich der darin enthaltenen Absenkung des GdB aufzuheben ist. Denn am 1. September 2008, dem Zeitpunkt der Herabsetzung des GdB, war die fünfjährige Heilungsbewährung noch nicht abgelaufen. Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung, soweit hierüber zu entscheiden ist, Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.