Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 337/09 - Urteil vom 12.05.2011
Die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" setzt voraus, dass die Gehfähigkeit so stark eingeschränkt ist, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das ist nicht der Fall, wenn dem Betroffenen unter Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen beidseits eine Gehstrecke von 150 Metern möglich ist, bis er wegen Schmerzen im linken Kniegelenk stehen bleiben muss.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten noch die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" - außergewöhnliche Gehbehinderung -.
Der Beklagte hatte bei dem 1942 geborenen Kläger im Jahre 1991 einen GdB von 60 festgestellt. Auf dessen Verschlimmerungsantrag vom 25. April 2006 setzte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der ihm vorliegenden medizinischen Unterlagen mit Bescheid vom 6. Juni 2007 einen GdB von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" - erheblich gehbehindert - fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Kunstgelenkersatz des Knies links (50),
b) Fusionsoperation der Halswirbelsäule mit Beckenkammspan und überempfindlicher
Operationsnarbe, Verspannung der oberen Trapeziusmuskulatur und stärkerer
Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule in allen Ebenen mit rezidivierenden
Reizzuständen und Hautempfindungsstörungen (40),
c) Zustand nach Ohroperation rechts, mittelgradige kombinierte Schwerhörigkeit
rechts bei normalem Hörvermögen links, zeitweilige Ohrgeräusche rechts,
Stimmbandlähmung rechts mit ständiger Heiserkeit (30),
d) Fehlhaltung der Brust- und Lendenwirbelsäule mit Funktionsbehinderung der
Lendenwirbelsäule, beginnende degenerative Gelenkveränderungen, Osteom im
rechten Os Ileum (20),
e) rezidivierendes Zwölffingerdarmgeschwürsleiden (10),
f) Bluthochdruck (10).
Den Widerspruch des Klägers wies er auf der Grundlage des Gutachtens des Orthopäden J vom 1. November 2007 mit Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 2008 zurück.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von 100 und der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" begehrt. Das Gericht hat das Gutachten des Praktischen Arztes M vom 10. September 2008 mit ergänzender Stellungnahme vom 22. September 2009 eingeholt, der auf der Grundlage folgender Funktionseinschränkungen zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der GdB durchgängig 80 betrage und die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht vorlägen:
a) Kunstgelenkersatz des linken Kniegelenks mit Funktionseinschränkung,
Reizzustände des linken Kniegelenks und der Hüftgelenke, Beinverkürzung
links, Fußfehlform (50),
b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule nach Versteifungsoperation der
Halswirbelsäule (40),
c) Stimmbandlähmung rechts mit ständiger Heiserkeit, zeitweilige Ohrgeräusche
rechts, Hörminderung rechts (30),
d) Funktionsbehinderung des linken Schultergelenks (20),
e) Bluthochdruck (10),
f) wiederkehrende Oberbauchbeschwerden (10),
g) Diabetes mellitus (10).
Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 26. Mai 2009 die Klage als unbegründet abgewiesen. Die angegriffenen Bescheide seien rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf einen höheren GdB als 80. Den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen und Bewertungen des Sachverständigen M dessen Gutachten vom 10. September 2008 werde gefolgt. Gleiches gelte für das Merkzeichen "aG", dessen Voraussetzungen nach den Darlegungen des Gutachters nicht erfüllt seien. Insbesondere das Vermögen des Klägers, nach der Untersuchung zu seinem ca. 100 Meter entfernt geparkten Pkw zu laufen, schließe eine außergewöhnliche Gehbehinderung aus.
Nachdem der Kläger die gegen diese Entscheidung erhobene Berufung (Az. L 13 SB 266/09) insoweit zurückgenommen hat, als sie sich auch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "B" bezogen hatte, und im vorliegenden Verfahren die Berufung hinsichtlich der Höhe des GdB zurückgenommen hat, begehrt er nur mehr die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG". Er bringt vor, aus den von ihm eingereichten Arztbriefen des A-Klinikums vom 26. Februar und 28. März 2008 ergäbe sich, dass er nur noch 10 bis 20 Meter laufen könne, die einseitige Belastung zur Folgeschäden/Schmerzen an dem jeweils anderen Knie- und Schultergelenk sowie zu Kreislaufsensationen führe, ein Ersatz des rechten Kniegelenks erwogen werde, eine Versteifung des linken Kniegelenks empfohlen werde und dass er auf eine Begleitperson angewiesen sei. Auch habe das Sozialgericht die Taubheit in beiden Füßen nicht berücksichtigt. Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat das am 27. Dezember 2010 bei Gericht eingegangene Gutachten des Orthopäden Prof. - K eingeholt, der auf seinem Fachgebiet folgende Funktionseinschränkungen ermittelt hat:
a) Bewegungseinschränkung mit Beugekontraktur des Kniegelenks links bei
Zustand nach Kniegelenk-Prothesenimplantation (30),
b) Beckenschiefstand mit degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule
bei Beugekontraktur mit funktioneller Beinlängendifferenz zu Ungunsten des
linken Kniegelenks (10),
c) Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule nach Spondylodese Halswirbelkörper
5-7 bei Zustand nach Fraktur (20),
Fachfremd hat der Gutachter neben einer teilweisen Stimmbandlähmung eine Parästhesie/Hypästhesie strumpfförmig im Bereich der Füße und der Unterschenkel beidseits im Sinne einer Polyneuropathie mitgeteilt. Die orthopädischen Leiden hat er mit einem GdB von 50 bis 60 bewertet. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" hat er verneint.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Mai 2009 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 6. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2008 zu verpflichten, bei ihm ab 25. April 2006 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält an seinen Entscheidungen fest.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist, soweit sie sich nicht erledigt hat, unbegründet. Das Sozialgericht hat mit der angegriffenen Entscheidung die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 6. Juni 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2008 ist rechtmäßig, da der Kläger hat keinen Anspruch auf das von ihm begehrten Merkzeichen "aG" hat.
Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von dem Kläger begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind (siehe hierzu auch Nr. 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und - zuletzt - 2008, bzw. Teil D Nr. 3 (S. 115f.) der in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze", welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - mit Wirkung vom 1. Januar 2009 an abgelöst haben.
Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).
Der Kläger ist zwar in seiner Gehfähigkeit beeinträchtigt, jedoch ist sein Gehvermögen nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt, dass er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Übereinstimmend haben die gerichtlichen Sachverständigen verneint, dass der Kläger sich nur mit fremder Hilfe und mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Diese Einschätzung ist überzeugend. Nach den eigenen Angaben des Klägers gegenüber dem Gutachter Prof. Dr. K ist ihm unter Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen beidseits eine Gehstrecke von 150 Metern möglich, bis er wegen Schmerzen im linken Kniegelenk stehen bleiben muss. Ein derartiges Leistungsvermögen schließt die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" eindeutig aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.