Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" - erhebliche Gehbehinderung.

Dem 1944 geborenen Kläger war zuletzt durch Bescheid vom 10. Mai 1996 in der Fassung eines Widerspruchsbescheides vom 18. September 1996 ein Grad der Behinderung (GdB) von insgesamt 60 zuerkannt worden; das Vorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" war in diesen Bescheiden abgelehnt worden. Im November 2001 beantragte der Kläger die Neufeststellung des bei ihm bestehenden GdB, wobei er ausführte, unter einer erheblichen Gehbehinderung zu leiden. Beigefügt waren das Ergebnis einer in der C. durchgeführten MRT-Untersuchung des rechten Kniegelenkes vom 9. September 2001, ein Entlassungsbericht der R-Klinik vom 5. Februar 2001 über eine Behandlung des Klägers in der Zeit vom 9. bis 30. Januar 2001 sowie ein Bericht der Röntgendiagnostik des K. vom 9. Januar 2001 über Untersuchungen von Thorax, Halswirbelsäule (HWS) und Brustwirbelsäule (BWS). Das seinerzeit zuständig gewesene Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin - Versorgungsamt - holte hierzu einen Befundbericht des behandelnden Facharztes für Orthopädie Dr. A. vom 27. November 2001 sowie eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Arztes B. vom 14. Dezember 2001 ein und zog Röntgenbefunde des I. des Klinikums vom 23. Juli 2001 betreffend die Hände und Kniegelenke sowie einen Kernspintomographiebefund der BWS der Praxis vom 31. Januar 2002 bei. Er veranlasste ferner eine weitere Röntgenuntersuchung des Klägers durch den Arzt für Röntgenologie MD G. (Befund vom 18. Februar 2002 betreffend das rechte Sprunggelenk und beide Füße). Eingeholt wurde ferner ein Befundbericht der Laboratoriumsmedizin im U. betreffend ein großes Blutbild vom 22. Februar 2002. Mit Datum vom selben Tage erstellte die Ärztin für Orthopädie P. nach einer Untersuchung des Klägers ein versorgungsärztlich-orthopädisches Gutachten, in dem u.a. ausgeführt ist, dass sich ein GdB von 50 für Gesundheitsstörungen der unteren Gliedmaßen einschließlich der Wirbelsäule nicht ableiten ließe, weshalb das Merkzeichen "G" begründende Funktionsstörungen nicht festgestellt werden könnten. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin stellte dem folgend durch Bescheid vom 1. März 2002 einen Gesamt-GdB von 70 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest, deren verwaltungsintern festgesetzte Einzel-GdB sich (hier und im Folgenden) aus den Klammerzusätzen ergeben:
a) Degeneratives Wirbelsäulenleiden mit schweren funktionellen Auswirkungen an der Halswirbelsäule und gering- bis mittelgradigen Funktionseinschränkungen der Lenden- und Brustwirbelsäule (40),
b) Zustand nach Sprungbeinfraktur rechts, Fersenvarusstellung, beginnende Kniearthrose rechts mit Synovialitis und Ganglionbildung bei Meniskusdegeneration (20),
c) Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Zustand nach Hirninfarkt (20),
d) Gicht mit Gelenkbeteiligung an Händen und Füßen, Medikamentenunverträglichkeit (20),
e) chronische Gastritis, Refluxoesophagitis bei Hiatushernie (10).

Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens "G" lägen nicht vor. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch, mit dem er ausführte, weder 2000 noch 500 m im Straßenverkehr in einem Stück zurücklegen zu können. Beigefügt waren eine ärztliche Stellungnahme der behandelnden Ärztin Prof. Dr. G. vom 25. März 2002, in der ebenfalls ausgeführt ist, dass der Kläger nicht in der Lage sei, in üblicher Zeit 2000 m zu laufen, da es in der letzten Zeit zu einer drastischen Verschlechterung der Situation des rechten Kniegelenkes sowie zu einer Zunahme der Beschwerden im Wirbelsäulenbereich gekommen sei, sowie u.a. ein Arztbericht des Arztes für Orthopädie-Rheumatologie Dr. Z. vom 4. Oktober 2001. Der Kläger brachte ferner eine ärztliche Bescheinigung des Dr. A. vom 8. April 2002 bei, der ausführte, sich aus fachorthopädischer Sicht den Ausführungen der Prof. Dr. G. vollinhaltlich anzuschließen. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin holte hierzu eine versorgungsärztlich -chirurgische Stellungnahme des Arztes für Chirurgie Dr. O. vom 13. Mai 2002 ein, der ausführte, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht gegeben seien. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin wies den Widerspruch des Klägers daraufhin durch Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2002 zurück.

In das hiergegen geführte Klageverfahren trat wegen eines während des Klageverfahrens erfolgten Wohnsitzwechsels des Klägers an die Stelle des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin der Beklagte in das Verfahren ein.

Zur Begründung der Klage hat der Kläger vorgetragen, dass an seinem rechten Kniegelenk eine wesentliche medizinische Veränderung eingetreten sei, die es ihm unmöglich mache, größere Strecken zu Fuß zurückzulegen; außerdem habe sich sein Gesamt-GdB erhöht.

Das Sozialgericht hat Befundberichte des Facharztes für Orthopädie Dr. A. vom 19. August 2002 und Prof. Dr. G. vom 30. August 2002 eingeholt, letzterem war u.a. ein "Befundbericht Klinische Chemie" vom 23. August 2002 nebst Urinstatus sowie ein Sonographiebefund vom 9. September 2001 beigefügt. Das Sozialgericht hat ferner durch den Arzt für Orthopädie Dr. E. ein orthopädisches Fachgutachten eingeholt, auf das Gutachten vom 28. Februar 2003 und die Rückäußerung vom 26. Juli 2003 wird Bezug genommen. Dr. E. kam zu dem Ergebnis, dass beim Kläger folgende Erkrankungen auf orthopädischem Gebiet bestünden: 1. Ein recidivierendes Halswirbelsäulensyndrom im Sinne von Hinterkopf-Nacken-Schulterschmerzen mit neurologischen Störungen auf dem Boden ausgeprägter degenerativer Wirbelveränderungen mit Einengungen der Nervenwurzelaustrittslöcher. Im MRT nachgewiesene Bandscheibenvorfälle. 2. Eine angeborene Bewegungseinschränkung beider Ellenbogengelenke. 3. Belastungsabhängige Arthralgien der Fingergelenke rechte Hand. 4. Ein BWS-Syndrom im Sinne von Dorsalgien und Intercostalneuralgien auf dem Boden deutlicher degenerativer Wirbelveränderungen. Im MRT initiale Bandscheibenvorwölbung. 5. Ein LWS-Syndrom im Sinne von Lumbalgien und Lumboischialgien auf dem Boden erheblicher degenerativer Wirbelveränderungen. Im Magnetresonanztomogramm nachgewiesener Bandscheibenvorfall. 6. Funktionseinschränkung beider Hüftgelenke bei Adipositas. 7. Ein geringgradiger Verschleißzustand am rechten Kniegelenk und am Kniescheibengleitlager. Degenerative Meniskopathie. 8. Eine deutliche Fußfehlform beidseits. Ein geringer Verschleißzustand der Großzehengrundgelenke - Hallux rigidus mit Reizzustand rechts und häufigen Gichtanfällen. 9. Ein geringgradiges Krampfaderleiden. 10. Ein überreichlicher Ernährungszustand. 11. Eine Gehbehinderung.

Eine Bewegungsprüfung habe im Bereich der BWS-LWS eine nur gering über die Altersnorm hinausgehende Funktionsminderung erbracht. Bei der Funktionsprüfung an den Kniegelenken seien keine Beschwerden angegeben worden. Die geringe Einschränkung der Beugung (die Bewegungsausmaße für beide Knie beträgen 130-0-5) sei durch das Übergewicht des Klägers zu erklären (120 kg bei 1,82 m). Es habe keine länger andauernde wesentliche Minderbelastbarkeit des rechten Beines im Vergleich zu links und keine messbare Differenz bei der vergleichenden Umfangsmessung des Muskelmantels nachgewiesen werden können. Die Fußfehlstatik sei als Funktionsbeeinträchtigung wie folgt zu bezeichnen: "Deutliche Fußfehlstatik ohne funktionelle Auswirkungen. Beginnender Verschleißzustand beider Großzehengrundgelenke - Reizzustand rechts bei häufigen Gichtanfällen mit Minderung der Steh- und Gehbelastbarkeit." Anamnestisch seien starke Schmerzen seitens des rechten Großzehengrundgelenkes besonders beim Abrollen des Fußes angegeben worden. Das rechte Großzehengrundgelenk habe sich erheblich verdickt und deformiert gefunden. Es seien Druckschmerzen der Gelenkkapsel und eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung festgestellt worden. Zur GdB-Bildung ist ausgeführt, dass die erhebliche schmerzhafte Funktionsbehinderung der HWS sowie die schmerzhafte Funktionsbehinderung seitens der BWS und LWS mit Nervenwurzelreizzuständen bei nachgewiesenem Bandscheibenvorfall mit einem GdB von 40 zu würdigen sei. Der geringe Verschleißzustand des rechten Kniegelenkes mit degenerativer Meniskopathie sowie die Fußdeformität mit schmerzhafter Funktion sei mit einem GdB von 20 großzügig gewürdigt. Die Gichtdiathese mit Gelenkbeteiligung der Hände und Füße bei Medikamentenunverträglichkeit sei mit einem GdB von 20 ebenfalls großzügig bewertet. Die unter den Punkten 5, 7 und 8 bezeichneten Leiden bedingten zusammengefasst einen GdB von 40. Die Gichtdiathese mit dem sehr schmerzhaften Entzündungszustand des rechten Großzehengrundgelenkes wirke sich besonders ungünstig auf die Gehfähigkeit aus. Aus Anlass der Begutachtung sei eine Gehprüfung durchgeführt worden, bei welcher der Kläger eine Strecke von 600 m in 15 Minuten mit kurzen Pausen nach 350 m und dann alle 50 m zurückgelegt habe. Es sei eine Gehgeschwindigkeit von 2,4 km pro Stunde erreicht worden. Nach der Gehprüfung sei eine Erholungspause im Sitzen erforderlich geworden. Der Kläger sei also nicht in der Lage, 2000 m in 30 Minuten zurückzulegen. In seiner Rückäußerung vom 26. Juli 2003 hat Dr. E. weiter darauf verwiesen, dass der vom Kläger benutzte Gehstock deutliche Gebrauchsspuren aufgewiesen habe. Das Gangbild sei in Straßenschuhen und barfuß unauffällig vorgeführt worden. Bei der Gehprüfung sei anfangs eine fast normale Gehgeschwindigkeit mit fast normalem Gangbild nur angedeutet links hinkend erreicht worden. Bei einer demonstrativen Tendenz wäre vom Kläger von Anfang an eine deutliche Gehbehinderung vorgeführt worden. Das Tempo wie auch das Schrittbild hätten sich während der Gehprobe verändert. Das Tempo sei 350 m beibehalten worden, dann sei der Kläger fünf Sekunden stehen geblieben. Dann habe sich die Gehgeschwindigkeit auf ca. die Hälfte eines normalen Fußgängers verlangsamt, das Hinken hätte sich verstärkt gehabt. Nach jeweils 50 m sei der Kläger dann für fünf bis zehn Sekunden stehen geblieben. Die Einschränkung des Gehvermögens sei durch die beschriebenen Veränderungen an der Wirbelsäule, des rechten Kniegelenkes, insbesondere aber durch den schmerzhaften Reizzustand des Großzehengrundgelenkes bei Arthrose und zusätzlich durch die Gichtdiathese bedingt.

Der Kläger brachte in der Folgezeit einen durch Dr. S. erstellten MRT-Befund der LWS vom 22. Oktober 2002 sowie einen Befundbericht der Fachärztin für diagnostische Radiologie M. des F. vom 20. Januar 2003 sowie einen weiteren MRT-Befund von Dr. S. aus der Praxis für K. vom 16. Januar 2003 bei.

Das Sozialgericht Berlin hat den Beklagten durch Urteil vom 19. März 2004 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Der GdB für die Funktionsbereiche der unteren Gliedmaße und/oder der Lendenwirbelsäule betrage 40. Darüber hinaus wirkten sich die beim Kläger bestehenden Behinderungen auf die Gehfähigkeit besonders aus wie z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Der Sachverständige habe dargelegt, dass die Gichtdiathese mit dem sehr schmerzhaften Entzündungszustand des rechten Großzehengrundgelenkes besonders ungünstige Auswirkungen habe. Auch der chronische Reizzustand des Großzehengrundgelenkes verursache schmerzhafte Funktionseinschränkungen besonders beim Abrollen. Weiter sei das massive Übergewicht von 40 kg zu berücksichtigen, das in der Gesamtschau der orthopädischen Leiden die Gehfähigkeit weiter einschränke. Die durch die Gichtanfälle bedingten Funktionseinschränkungen bestünden zwar nicht dauerhaft, sie würden nach den anamnestischen Angaben des Klägers jedoch ca. alle drei Wochen und damit häufig auftreten.

Gegen dieses ihm am 22. April 2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. Mai 2004 beim Landessozialgericht Berlin eingegangene Berufung des Beklagten. Die Beeinträchtigungen an der Lendenwirbelsäule und den unteren Extremitäten seien mit einem GdB von unter 40 zu bewerten. Schmerzen und besonders schmerzhafte Zustände seien darin eingeschlossen. Insoweit seien die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Nachteilsausgleichsmerkmal "G" nicht nachgewiesen. Der Nachweis, dass ein schwerbehinderter Mensch nicht in der Lage sei, eine Wegstrecke von 2 km in zumutbarer Zeitdauer zurückzulegen, könne nicht durch das Ergebnis eines Gehstreckentestes geführt werden. Denn der Ablauf des Tests und dessen Ergebnis würden maßgeblich von der Mitarbeit des Untersuchten beeinflusst. Weiterhin werde der Gehtest auch durch Faktoren beeinflusst, die im Rahmen der Prüfung des § 146 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), nicht berücksichtigt werden dürften. Der Kläger habe nach seinen Angaben etwa alle drei Wochen einen Gichtanfall und nur in dieser Zeit bestehe ein vorübergehender schmerzhafter Entzündungszustand und damit eine ungünstige Auswirkung auf die Gehfähigkeit. Dieser Zustand könne keinesfalls einer Versteifung eines Hüftgelenkes oder einer arteriellen Durchblutungsstörung gleichgeachtet werden. Bezüglich der Adipositas habe der Gutachter nicht durch objektive Befunde belegt, dass sich daraus für die Beurteilung erhebliche Folge- und Begleitschäden ergeben würden.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger trägt zur Begründung vor, dass die Schmerzen durch die chronischen Reizzustände der Gelenkkapsel des Großzehengrundgelenkes mit entsprechender Funktionseinschränkung besonders beim Abrollen des Fußes und somit beim Gehen durch die untersuchenden Ärzte P. und Dr. O. nicht ausreichend bewertet worden seien. Während eines akuten Gichtanfalles könne er für ein bis vier Tage mit dem gichtbetroffenen Fuß wegen Schmerzen überhaupt nicht auftreten, er sei in dieser Zeit bettlägerig. Zwischen den akuten Anfällen bestehe der Entzündungszustand des Großzehengrundgelenkes ununterbrochen fort und der Zeh- und Fußballen sei andauernd verdickt bzw. geschwollen. Der Schmerzzustand sei durch Dr. E. zu Recht als chronisch beschrieben worden.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Das sozialgerichtliche Urteil, mit dem der Beklagte verurteilt wurde, die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" zuzuerkennen, war aufzuheben, denn die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung nach den §§ 145, 146 SGB IX; eine wesentliche Änderung in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch, die zur Änderung des bestandskräftigen Bescheides vom 10. Mai 1996 führen würde, ist insoweit nicht eingetreten.

Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Diese Voraussetzungen sind nach Nr. 30 Abs. 3, S. 138 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX) 2004 - AHP 2004) erfüllt, wenn Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen oder bei Behinderungen der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50, die sich besonders ungünstig auf die Gehfähigkeit auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenkes, Versteifung des Knie- oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist den vorhandenen medizinischen Unterlagen und Feststellungen nicht zu entnehmen. Der vom Sozialgericht gehörte Sachverständige Dr. E. kam in seinem Gutachten vom 28. Februar 2003 zwar zu dem Ergebnis, dass der GdB für die Leiden des Klägers im Bereich der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule 40 betrage und dass der Kläger erheblich gehbehindert sei. Diese Schlussfolgerung wird durch die Feststellungen des Sachverständigen im einzelnen jedoch nicht getragen; die Bildung eines Gesamt-GdB von 40 für die Beeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen und der LWS ist anhand der durch den Sachverständigen im Einzelnen beschriebenen Funktionseinschränkungen nicht nachvollziehbar, wie der Beklagte bereits ausgeführt hat.

Dr. E. hat zunächst einen "geringen Verschleißzustand des rechten Kniegelenkes" mit degenerativer Meniskopathie sowie die Fußdeformität mit schmerzhafter Funktion mit einem GdB von 20 vom Hundert als "großzügig gewürdigt" bezeichnet. Hinsichtlich der Kniegelenke hat der Gutachter mit einem gemessenen Bewegungsausmaß nach der Neutral-Null-Methode von 130-0-5 ein in jeder Hinsicht normales Bewegungsausmaß festgestellt und hierzu weiter ausgeführt, dass keine länger andauernde wesentliche Minderbelastbarkeit des rechten Beines im Vergleich zum linken hätte nachgewiesen werden können. Nach den Vorgaben der AHP 2004 sind jedoch erst Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk ab einem Grad von 0-0-90, der als geringe Bewegungseinschränkung bezeichnet wird, überhaupt berücksichtigungsfähig (Nr. 26.18 S.126). Die Fußfehlstatik hat der Gutachter ausdrücklich als "ohne funktionelle Auswirkungen" beschrieben (S. 29 des Gutachtens). Fußdeformitäten ohne wesentliche statische Auswirkungen führen nach den AHP 2004 (Nr. 26.18 S. 127) jedoch nicht zu einem GdB. Ein GdB von 20 ist für diese Beeinträchtigungen daher nicht nachvollziehbar.

Die Gichtdiathese mit Gelenkbeteiligung der Hände und Füße bei Medikamentenunverträglichkeit bezeichnet der Gutachter als mit einem GdB von 20 "ebenfalls großzügig bewertet". In diesem Wert sind allerdings auch die Beeinträchtigungen der Hände mit erfaßt, so dass nicht der gesamte Wert von 20 die für das Merkzeichen "G" allein relevanten unteren Gliedmaße und die LWS betrifft.

Hinsichtlich der Lendenwirbelsäule führte der Gutachter aus, dass sich hier eine nur gering über die Altersnorm hinausgehende Funktionsminderung gezeigt habe (S. 24 des Gutachtens). Die vom Kläger angegebenen Rückenschmerzen seien zum Teil in der Rückenstreckmuskulatur lokalisiert, die bei ungünstiger mechanischer Belastung zu Verspannungszuständen neige. Die Muskulatur der LWS sei jedoch nicht druckschmerzhaft angegeben worden. Die Wirbelkörper hätten ihre volle altersgemäße Tragfähigkeit bewahrt. Nervenwurzelreizerscheinungen im Bereich der Lendenwirbelsäule hätten durch die Untersuchung ausgeschlossen werden können. Das Schober-Zeichen, welches das Maß für die Beweglichkeit der LWS darstellt, wurde durch Dr. E mit 10 - 14 cm und damit mit einem Normal-Maß gemessen. Die Schwingung der LWS wurde durch den Gutachter als röntgenologisch regelrecht bezeichnet. Ein GdB für die Lendenwirbelsäule ergibt sich damit - trotz eines Bandscheibenvorfalles und eines LWS-Sndroms - in Ermangelung von die LWS betreffenden Bewegungseinschränkungen oder einer Instabilität nach den Vorgaben der AHP (Nr. 26.18 S. 116) nicht.

Bei der Bildung eines Gesamt-GdB aufgrund dieser festgestellten Beeinträchtigungen ist von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, wobei grundsätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Weiter dürfen bei der Ermittlung des Gesamt-GdB die einzelnen Werte nicht addiert werden (Nr. 19 Abs. 1, 3 und 4 AHP 2004, S. 24 ff.). Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist es nicht möglich, aus den beim Kläger im Bereich der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehenden Beeinträchtigungen von zwei mal weniger als 20 einen GdB von 40 zu bilden, da dies vorliegend einer durch die AHP 2004 gerade nicht zulässigen Addition der Einzelwerte gleichkäme. Insbesondere war hier zu berücksichtigen, dass sich die Beeinträchtigungen aufgrund der Gichtdiathese und der Fußdeformität, die allein zu einem behinderungsrelevanten GdB über 10 führen, in ihren Auswirkungen überschneiden, so dass sie sich nicht voll auswirken. Für den Bereich der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule ist daher ein Gesamt-GdB von nicht mehr als 30 zu bilden.

Da der die unteren Gliedmaßen und die Lendenwirbelsäule betreffende GdB jedenfalls nicht 40 erreicht, kam es nicht mehr darauf an, ob sich beim Kläger bestehende Behinderungen auf die Gehfähigkeit besonders auswirken. Abgesehen davon ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die beim Kläger bestehenden Einschränkungen einer Versteifung des Hüftgelenkes oder einer Versteifung des Knie- oder Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, wie sie in den AHP beispielhaft für besonders ungünstige Auswirkungen auf die Gehfähigkeit genannt sind, nicht vergleichbar sind.

Etwas anderes folgt auch nicht aufgrund des Ergebnisses des durch Dr. E. durchgeführten Gehstreckentestes, aus dem dieser die Unfähigkeit des Klägers, 2000 Meter in 30 Minuten zurückzulegen, gefolgert hat. Ein derartiger Gehstreckentest ist, worauf der Beklagte bereits hingewiesen hat, nicht geeignet, die Beeinträchtigung des Gehvermögens nachzuweisen. Vielmehr fassen die AHP, die als antizipierte Sachverständigengutachten maßgebend sind, zusammen, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus), das Alter sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP all jene heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des Schwerbehinderten im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (BSG, Beschluss vom 13. August 1997, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Entscheidend war daher allein auf die in den AHP genannten Voraussetzungen abzustellen, die vorliegend aus den genannten Gründen nicht erfüllt sind.

Der Berufung war nach alledem stattzugeben.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.