Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 69/12 - Urteil vom 07.03.2014
Ist ein GdB bestandkräftig unrichtig zu hoch festgestellt, kann dies später bei Änderung der Verhältnisse berücksichtigt bzw. faktisch korrigiert werden. Denn bei einer Neufestsetzung im Rahmen einer auf § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch gestützten Aufhebung wegen einer Änderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen handelt es sich nicht um eine reine Hochrechnung des im alten Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Leiden.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei der 1954 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 24. Mai 2007 einen Gesamt-GdB von 40 festgestellt. Dem hatte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:
a) Depression, psychosomatische Störungen, Teilverlust
des Dickdarms (30),
b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Kopfschmerz, Fibromyalgiesyn-drom
(20).
Den Verschlimmerungsantrag der Klägerin vom 24. Juni 2010 lehnte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten ärztlichen Befunde durch Bescheid vom 28. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 2010 mit der Begründung ab, dass der Gesamt-GdB von 40 sich nicht erhöht habe. Hierbei ging er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:
a) Kopfschmerzen (10),
b) psychische Minderbelastbarkeit (20),
c) Schwerhörigkeit (20),
d) Teilverlust des Dickdarms (10),
e) Fibromyalgiesyndrom, Funktionsstörung der Wirbelsäule (20).
In der internen Stellungnahme vom 6. September 2010 merkte die Versorgungsärztin Dipl. Med. H an, dass die Kopfschmerzen und das seelische Leiden bisher zu hoch bewertet worden seien.
Mit der Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat die Klägerin die Zuerkennung eines GdB von 50 begehrt. Nach Einholung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht den Beklagten mit Urteil vom 14. Dezember 2011 verpflichtet, bei der Klägerin ab Antragstellung einen GdB von 50 festzustellen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt: Die Feststellung eines Gesamt-GdB von 40 mit Bescheid vom 23. April 2007 sei begünstigend rechtswidrig gewesen. Die Beklagte sei nicht berechtigt, den zu hohen GdB zu korrigieren. Sie habe es unterlassen, einen "Abschmelzungsbescheid" zu erteilen. Da durch das Hinzutreten des Gesundheitsschadens am rechten Kniegelenk mit einem Einzel-GdB von 10 und einer Hörstörung mit einem Einzel-GdB von 20 eine Änderung in den dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Verhältnissen eingetreten sei, müsse der Gesamt-GdB von 40 auf 50 erhöht werden.
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung mit der Begründung eingelegt, eine "Abschmelzung" eines rechtswidrig zu hoch festgestellten Bescheides sei auch ohne besonderen "Abschmelzungsbescheid" zulässig.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 14. Dezember 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Praktischen Arztes M vom 2. September 2013, der bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 40 ab Antragstellung ermittelt hat.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen, denn die Klägerin hat hierauf keinen Anspruch.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412), die am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen.
Bei der Klägerin bestehen nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen eine chronische Schmerzstörung, die nach der überzeugenden gutachterlichen Einschätzung des Sachverständigen M einen Einzel-GdB von 40 bedingt, eine Hörminderung, die mit einem Einzel-GdB von 20 in Ansatz zu bringen ist, sowie Teilverlust des Dickdarms und Verdauungsbeschwerden mit einem Einzel-GdB von 10.
Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Der für die Schmerzstörung der Klägerin festgestellte Einzel-GdB von 40 ist unter Berücksichtigung der Hörminderung mit einem Einzel-GdB von 20 nicht heraufzusetzen. Der Senat folgt hierbei der überzeugenden Einschätzung des Gutachters. Auch die Behinderungen im Funktionssystem Verdauung sind nicht geeignet, die Höhe des Gesamt-GdB zu beeinflussen, da sie nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind. Nach Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, - von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen abgesehen - nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.
Ein Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 folgt entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch nicht daraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse insoweit geändert hätten, als nach Erlass des Bescheides vom 24. Mai 2007, der - möglicherweise - einen überhöhten Gesamt-GdB von 40 festgestellt hätte, weitere Behinderungen hinzugetreten wären. Denn die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur "konstitutiven Fehlerwiederholung", wonach ein Bescheid, mit dem ein fehlerhafter Dauerbescheid den geänderten Verhältnissen angepasst wird, bevor dessen Fehlerhaftigkeit festgestellt wurde, als rechtmäßig anzusehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 1996 - 9 RV 22/95 -, BSGE 79, 92, 94 = SozR 3-1300 § 45 Nr. 30 m.w.N.), passt nicht auf die Berücksichtigung eines fehlerhaft festgestellten GdB bei der Ermittlung eines neuen, aufgrund des Hinzutritts eines Leidens neu zu beurteilenden Gesamt-GdB (BSG, Urteil vom 19. September 2000 - B 9 SB 3/00 R -, BSGE 87, 126 = SozR 3-1300 § 45 Nr. 43). Denn bei einer derartigen Neufestsetzung im Rahmen einer auf § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) gestützten Aufhebung wegen einer Änderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen handelt es sich nicht um eine reine Hochrechnung des im alten Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Leiden (vgl. BSG, Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 -, BSGE 81, 50 = SozR 3-3870 § 3 Nr. 7).
Die auf § 193 SGG beruhende Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Die von dem Senat angeführten Entscheidungen des Bundessozialgerichts sind zwar noch auf der Grundlage der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) ergangen, während vorliegend die in der Anlage zu der VersMedV festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" heranzuziehen sind. Mit der Ablösung der AHP trat jedoch weder hinsichtlich der medizinischen Bewertung noch hinsichtlich der Vorgaben für die Bildung des Gesamt-GdB eine grundsätzliche Änderung ein.