Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 73/13 - Urteil vom 28.11.2014
Auch wenn die Regelungen in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" (VMG) zu den Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind, sind sie weiter heranzuziehen. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, so dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs als gewohnheitsrechtlich anerkannt anzusehen sind. Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die Versorgungsmedizin-Verordnung keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen für das Merkzeichen "G"
erfüllt sind, gilt als ortsübliche Wegstrecke eine Strecke von etwa zwei
Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird. Allerdings ist es
für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese
Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz
fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass
Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des
schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen
einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität"). Hierzu hatte das
Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im
sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP)
herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach
dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die
gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen
waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als
Vergleichsmaßstab dienen konnten. Nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher
Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein
Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist".
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1.
Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.
Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen
Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten
wird - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D
Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher
Ermächtigungsgrundlage nichtig sind.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren noch über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Auf den Antrag des 1950 geborenen Klägers setzte der Beklagte bei ihm nach Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 16. Juli 2009 einen Gesamt-GdB von 30 fest. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und begehrte mit Antrag vom 7. September 2009 ausdrücklich die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Mit Widerspruchsbescheid vom 6. November 2009 wies der Beklagte den Widerspruch und den Antrag zurück. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
- Kniegelenkersatz links (Einzel-GdB von 30), - Lungenfunktionseinschränkung (Einzel-GdB von 20), - Bluthochdruck (Einzel-GdB von 10).
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Cottbus hat der Kläger einen höheren GdB als 30 begehrt.
Den während des laufenden Klageverfahrens gestellten Änderungsantrag vom 20. April 2010, mit dem der Kläger einen höheren GdB und das Merkzeichen "G" beantragt hat, hat der Beklagte mit Bescheid vom 16. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2010 abgelehnt. Auch hiergegen hat der Kläger Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt hat.
Mit Beschluss vom 28. Februar 2011 hat das Sozialgericht beide Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Der Beklagte hat mit - jeweils angenommenen - Teilanerkenntnissen vom 12. August 2010, 20. April 2011 und vom 2. Januar 2012 erklärt, bei dem Kläger einen GdB von 40 ab 1. August 2009 sowie einen GdB von 50 ab 23. März 2010 festzustellen.
Neben Befundberichten der behandelnden Ärzte hat das Sozialgericht das Gutachten des Sozialmediziners Dr. A vom 13. November 2012 eingeholt, der folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt hat:
- Kniegelenkersatz links mit anhaltender Reizkniebildung (Einzel-GdB von 40), - Anfallsleiden nach zweimaligem Hirninsult (Einzel-GdB von 20), - Lungenfunktionseinschränkung (Einzel-GdB von 20), - hypertensive Herzerkrankung mit paroxysmalem Vorhofflimmern (Einzel-GdB von 20).
Der Sachverständige hat weiter dargelegt, dass bei dem Kläger eine wesentliche Gang- und Standunsicherheit durch Minderbelastung des linken Kniegelenks bestehe, so dass ihm ortsübliche Wegstrecken von 2000 m, die innerhalb von 30 Minuten zurückzulegen seien, nicht zugemutet werden könnten. Die Bewegungseinschränkung im linken Kniegelenk nach mehrfachen großen operativen Eingriffen sei einer Teilversteifung gleichzusetzen, die mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten sei.
Die nur noch hinsichtlich der Anerkennung des Merkzeichens "G" fortgeführte Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 29. Januar 2013 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, bei dem Kläger lägen keine Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule vor, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingten.
Der Beklagte hat mit Ausführungsbescheid vom 18. März 2013 bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 50 ab 23. März 2010 festgestellt.
Gegen die sozialgerichtliche Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, der sein Begehren weiterverfolgt. Während des Berufungsverfahrens hat er bei dem Beklagten am 6. Februar 2014 einen weiteren Verschlimmerungsantrag gestellt.
Der Senat hat die Stellungnahme des Sachverständigen Dr. A vom 26. März 2014 eingeholt, der ausgeführt hat, dass die Implantation, Explantation und Reimplantation der Knie-TEP bei Empyembildung mit einer Einbuße der Gang- und Standfähigkeit verbunden sei, die aufgrund ihrer orthostatischen Auswirkungen einer Teilversteifung in einer ungünstigen Stellung gleichzusetzen sei.
Die Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 29. Januar 2013 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 16. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2010 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab dem 20. April 2010 die gesundheitlichen Merkmale des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, dass die sozialgerichtliche Entscheidung zutreffend ist.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ab 20. April 2010.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Nach den gutachterlichen Feststellungen ist dem Kläger diese Wegstrecke nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich. Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 7/06 R -, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob - wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 - L 8 SB 3119/08 - in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 - L 8 SB 2723/13 -; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 - L 10 SB 154/12 -; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - L 13 SB 12/08 -) - die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 - L 10 SB 39/09 -). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die ortsübliche Wegstrecke "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Denn nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. A wirkt sich auf dessen Gehfähigkeit die aus der Minderbelastbarkeit des linken Kniegelenks folgende wesentliche Gang- und Standunsicherheit negativ aus, die einer Teilversteifung in einer ungünstigen Stellung gleichzusetzen und mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.