Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).

Der 1951 geborene Kläger leidet u.a. an einem Diabetes mellitus Typ II, der seit Dezember 2003 insulinpflichtig ist. Er muss vier- bis fünfmal täglich den Blutzuckerspiegel messen und durch Insulininjektionen einstellen. Weiter muss er darauf achten, regelmäßig zu essen und Diät zu halten. Einmal wöchentlich betreibt er zur Vorsorge Nordic Walking.

Den Antrag des Klägers von August 2003 auf Feststellung einer Behinderung lehnte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 27. November 2003 mit der Begründung ab, dass keine Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von mindestens 20 vorlägen. Nachdem im Widerspruchsverfahren die Insulintherapie des Klägers bekannt geworden war, setzte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2004 folgende Funktionsbeeinträchtigungen (die verwaltungsintern mit den sich aus den Klammerzusätzen ergebenden Einzel-GdB bewertet wurden) mit einem Gesamt-GdB von 40 fest:

a) Diabetes mellitus (40),
b) Bluthochdruck, (10),
c) Brustwirbelsäulen-Syndrom (10),
d) chronisch-venöse Insuffizienz (10),
e) psychovegetatives Syndrom (10),
f) Knotenstruma (10).

Die auf Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 gerichtete Klage hat das Sozialgericht Berlin mit Gerichtsbescheid vom 5. Mai 2006 abgewiesen: Die Bescheide des Beklagten seien rechtmäßig, denn der Kläger habe auf die Feststellung eines GdB in dieser Höhe keinen Anspruch.

Der Diabetes mellitus sei mit einem Einzel-GdB von 40 zutreffend eingeschätzt worden. Maßstab seien die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), nicht der GdB-Katalog der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) vom 16. November 1994 (abgedruckt in Diabetes und Stoffwechsel, Nr. 7, 1998, S. 60). In dem am 10. September 2004 eingegangenen Befundbericht des Hausarztes P werde eine gute Einstellbarkeit des Diabetes verzeichnet. Die übrigen Funktionsstörungen seien von dem Beklagten zutreffend jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet worden und führten zu keiner Anhebung des Gesamt-GdB über 40.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, dass die in den AHP vorgenommene Unterscheidung zwischen Typ I und Typ II des Diabetes mellitus systemfremd sei. Auch sei zu kritisieren, dass auf die Einstellbarkeit der Erkrankung abgestellt werde.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. Mai 2006 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 27. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2004 zu verurteilen, bei ihm ab Dezember 2003 einen GdB von 60, jedoch mindestens von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat mit dem angegriffenen Urteil die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 27. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2004 ist rechtmäßig, da der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von mehr als 40 hat.

Nach §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Zur Einschätzung des GdB sind zunächst die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 1996, 2004, 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP abgelöst haben.

Hinsichtlich des Diabetes mellitus ist bei dem Kläger ein Einzel-GdB von 40 anzusetzen.

Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte nicht den GdB-Katalog der DDG herangezogen hat. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 10/06 R, SGb 2009, 168) war die sich aus dem Diabetes mellitus ergebende Teilhabebeeinträchtigung (bis zum Inkrafttreten der VersMedV) grundsätzlich nach den Bewertungsvorschlägen der AHP einzuschätzen: Bei den AHP handelte es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, deren Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sich zum einen daraus ergab, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet ist, wenn die verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 6. März 1995, 1 BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6, S. 11f.). Zum anderen stellten die AHP ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB dar. Insofern wirkten die AHP nach Auffassung des Bundessozialgerichts normähnlich.

Nach der genannten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24. April 2008 bedürfen jedoch die Ausführungen der AHP 2008, soweit sie die Bewertung des mit Insulin behandelten Diabetes mellitus betreffen, einer Modifikation: Die (im Gegensatz zu den AHP 1996 und den AHP 2004ff. getroffene) Unterscheidung zwischen den Typen I und II des Diabetes mellitus ist für die GdB-Bewertung nicht zielführend, da sie klinischer Natur ist und - unter Berücksichtigung der Entstehung der Stoffwechselstörung - in erster Linie der Bestimmung der Behandlungsmethode dient. Bei Vorliegen einer Insulinbehandlung erlaubt sie jedoch keine trennscharfe Differenzierung nach den jeweils bestehenden Teilhabebeeinträchtigungen, da es eine größere Anzahl von Fällen des Diabetes Typ II gibt, bei denen unter Insulinbehandlung ähnliche Hypoglykämieprobleme auftreten wie bei einem Diabetes Typ I. Dementsprechend sind für die GdB-Bewertung andere Kriterien maßgebend. Der Begriff "einstellbar" in Nr. 26.15 der AHP 2008 ist deshalb dahin auszulegen, dass er darauf abstellt, ob bei dem behinderten Menschen (nicht nur vorübergehend) tatsächlich eine stabile oder instabile Stoffwechsellage besteht und welcher Therapieaufwand dabei erfolgt. Maßgebend ist, wie leicht oder wie schwer die allgemeinen Therapieziele beim Diabetes mellitus, nämlich das Vermeiden von Hyperglykämien (erhöhten Blutzuckerwerten) und Hypoglykämien (Unterzuckerung), erreicht werden können.

Angesichts dieser Entscheidung des Bundessozialgerichts hat der Verordnunggeber unter Aufgabe der Differenzierung nach dem Typ I und dem Typ II des Diabetes mellitus - der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Rundschreiben vom 22. September 2008, IV C 3-48046-3) folgend - in Teil B Nr. 15.1 (S. 73f.) der Anlage zu § 2 VersMedV folgende Bewertung vorgesehen:

Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) mit Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikamente) 0
mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung nicht erhöhen 10
mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung erhöhen 20
unter Insulintherapie, auch in Kombination mit anderen blutzuckersenkenden Medikamenten, je nach Stabilität der Stoffwechsellage (stabil oder mäßig schwankend) 30-40
unter Insulintherapie instabile Stoffwechsellage einschließlich gelegentlicher schwerer Hypoglykämien 50
Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind zusätzlich zu bewerten. Schwere Hypoglykämien sind Unterzuckerungen, die eine ärztliche Hilfe erfordern.

Diese Bestimmungen sind grundsätzlich auch für noch nicht bestandskräftig beschiedene Zeiträume vor Inkrafttreten der VersMedV am 1. Januar 2009 heranzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a SB 4/07 R, bei Juris, zu der Rückwirkung der vorläufigen Neufassung der AHP vom 22. September 2008 [a.a.O.]).

Auf der Grundlage dieser Vorgaben ist der den Diabetes mellitus des Klägers betreffende Einzel-GdB mit 40 anzusetzen. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen, zuletzt die Bescheinigung des Hausarztes P vom 6. August 2009, lassen nicht den Schluss auf eine instabile Stoffwechsellage zu. Schwere Hypoglykämien sind belegt.

Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 23. April 2009, B 9 SB 3/08 R, bei Juris) ergibt sich nichts anderes. Danach ist eine Ergänzung der in Teil B Nr. 15.1 der Anlage zu § 2 VersMedV enthaltenen Regelungen zur Feststellung des GdB bei Diabetes mellitus angezeigt: Sie binden die Rechtsanwender nicht, da sie gegen § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX verstoßen. Der medizinisch notwendige Aufwand für die Therapie einer Dauererkrankung wie des Diabetes mellitus kann je nach Art und notwendigen Zeitaufwand "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne der genannten gesetzlichen Vorschrift haben. Demgegenüber wird in der Rechtsverordnung nach wie vor allein die Einstellungsqualität des Diabetes und nicht ein die Teilhabe beeinträchtigender Therapieaufwand berücksichtigt. Deshalb ist der Therapieaufwand von Gesetzes wegen bei der Entscheidung über die Höhe des GdB zwingend mit einzustellen. Die Notwendigkeit seiner Berücksichtigung kann ja nach Umfang dazu führen, dass der allein anhand der Einstellungsqualität des Diabetes mellitus beurteilte GdB auf den nächst höheren Zehnergrad festzustellen ist (so BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a SB 4/07 R, bei Juris).

Dementsprechend ist im vorliegenden Fall bei der GdB-Bewertung des Diabetes mellitus neben der Einstellungsqualität auch der konkrete Therapieaufwand zu beurteilen, soweit er sich auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft nachteilig auswirkt.

Der Umstand, dass der Kläger vier- bis fünfmal täglich seinen Blutzuckerspiegel kontrollieren und sich regelmäßig Insulin verabreichen muss, ist allerdings - für sich allein genommen - nicht geeignet, einen höheren Einzel-GdB als 30 zu begründen. Denn das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 24. April 2008 betont, dass sich allein aus der Zahl der täglichen Insulininjektionen (wie von der DDG vorgeschlagen wurde) nicht mit hinreichender Sicherheit und Genauigkeit auf das Ausmaß der durch einen Diabetes mellitus bedingten Teilhabebeeinträchtigung schließen lässt. Vielmehr ist jeweils auch das Ergebnis der therapeutischen Maßnahmen, insbesondere die erreichte Stoffwechsellage, zu betrachten. So wird der GdB relativ niedrig anzusetzen sein, wenn mit geringem Therapieaufwand eine ausgeglichene Stoffwechsellage erreicht wird. Mit (in beeinträchtigender Weise) wachsendem Therapieaufwand und/oder abnehmendem Therapieerfolg (instabilerer Stoffwechsellage) wird der GdB höher einzuschätzen sein.

Wie dargestellt, zeitigt die Insulintherapie insoweit Erfolg, als eine stabile Stoffwechsellage erreicht und schwere Hypoglykämien vermieden werden. Diesen Therapieerfolg erreicht der Kläger mit einem Therapieaufwand, dessen Ausmaß nicht als beträchtlich im Sinne der genannten Rechtsprechung zu qualifizieren ist.

Denn die Notwendigkeit, die Blutzuckerwerte zu kontrollieren, sich mehrmals am Tag Insulin zu spritzen und eine bestimmte Diät einzuhalten, trifft regelmäßig Diabetiker unter Insulintherapie. Der Umstand, dass der Kläger täglich streng die Essenszeiten einzuhalten hat, ist im vorliegenden Fall der von ihrer behandelnden Ärztin vorgeschriebenen Therapieform geschuldet.

Zwar hat nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 28. August 2009, L 13 SB 294/07, bei Juris) der Umstand, dass ein Diabetiker Sport betreibt, im Rahmen des Therapieaufwandes, der Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zeitigt, Berücksichtigung finden, wenn die sportliche Betätigung unmittelbar zu dem Therapieerfolg mit beiträgt. In dieser Entscheidung hat der Senat den hierfür betriebenen Aufwand von anderthalb Stunden am Tag als nicht gering im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts angesehen. Die sportliche Betätigung des Klägers liegt weit darunter und kann deshalb nicht den Therapieaufwand entscheidend erhöhen. Denn er betreibt (nur) einmal in der Woche Nordic Walking.

Die übrigen Funktionsbeeinträchtigungen sind jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts wird nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verwiesen. Die erektile Dysfunktion rechtfertigt keine Zuerkennung eines GdB von wenigstens 10, zumal sie nach dem Entlassungsbericht der Reha-Klinik Bad Driburg vom 15. Dezember 2003 mit Medikamenten behandelt wird.

Der Gesamt-GdB als Ausdruck der Gesamtbeeinträchtigung ist mit 40 zu bilden. Liegen - wie hier - mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB, Neuntes Buch (SGB IX) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer werde. Der höchste Einzel-GdB von 40 für den Diabetes mellitus kann nicht mit Rücksicht auf die übrigen Funktionsstörungen auf 50 erhöht werden. Nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führten zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingten, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.