Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 81/12 - Urteil vom 23.08.2012
Auch wenn die Versorgungsmedizinischen Grundsätze vorgeben, dass es bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, können Besonderheiten des Einzelfalles ausnahmsweise gleichwohl eine Erhöhung gebieten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G".
Der im Jahre 1960 geborene Kläger beantragte am 12. Mai 2009 bei dem Beklagten die Anerkennung als Schwerbehinderter und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G". Mit Bescheid vom 31. März 2010 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen GdB von 40 fest und lehnte die Zuerkennung eines höheren GdB sowie des Merkzeichens "G" ab. Dem lag zugrunde, dass der Beklagte bei dem Kläger das Vorliegen einer Depression mit einem GdB von 30, eines Schlafapnoe-Syndroms mit einem GdB von 30, Bluthochdrucks mit einem GdB von 10 und chronische Gastritis mit einem GdB ebenfalls von 10 bewertete. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04. Oktober 2010 mit der Begründung zurück, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung eines höheren GdB und des Merkzeichens "G" seien nicht erfüllt.
Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung am 30. September 2011 der Facharzt für Allgemeinmedizin und für Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. S ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin stellte er bei dem Kläger folgende gesundheitliche Beeinträchtigungen fest:
Leidensbezeichnungen Einzel GdB
1. Bluthochdruck 10
2. Asthma bronchiale, fortgesetzter Nikotinabusus 20
3. Magenschleimhautentzündung 0
4. Verschleißleiden der Lendenwirbelsäule 10
5. Funktionsstörungen bei Hüft- und Kniegelenksverschleiß 10
Knick-Spreiz-Senkfuß
6. Krampfaderleiden, operative Versorgung mit Rezidivbildung 0
7. Depression 30
8. schlafbezogene Atmungsregulationsstörung (Schlafapnoe-Syndrom) 20
9. Adipositas 0
Insgesamt schätzte er den GdB weiterhin auf 40 ein. Allerdings seien das Schlafapnoe Syndrom und das Bronchialasthma getrennt zu sehen und jeweils mit einem Einzel GdB von 20 zu bewerten. Eine Einschränkung des Gehvermögens sei nicht festzustellen. Der festgestellte Zustand bestehe mindestens seit Mai 2009, wesentliche Änderungen hätten sich nicht ergeben. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 14. Februar 2012 hat der Sachverständige am Ergebnis dieser Einschätzung festgehalten.
Nachdem sich aufgrund vorangegangener Anhörung der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 24. Februar 2012 mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt hatte, hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 26. April 2012, gestützt vor allem auf die gutachterliche Einschätzung des Dr. S, die Klage abgewiesen.
Gegen diesen ihm am 02. Mai 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 04. Mai 2012 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt, in der er vor allem mangelnde Sachaufklärung rügt. Insbesondere hätte das Sozialgericht zumindest noch ein neurologisch-psychiatrisches Fachgutachten, möglichst von einem Arzt mit der Zusatzqualifikation "Spezielle Schmerztherapie", einholen müssen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 23. August 2012 hat der Kläger erklärt, das Merkzeichen G im vorliegenden Verfahren nicht mehr zu beanspruchen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 31. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Oktober 2010 zu verpflichten, dem Kläger ab dem 12. Mai 2009 einen GdB von 50 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.
Er hält die die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch in dem hier noch zur Entscheidung anstehenden Umfang begründet. Nach dem der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit das Merkzeichen "G" nicht mehr geltend gemacht hatte, war der Rechtsstreit teilweise erledigt. Zur Entscheidung des Senats stand der Grad der Behinderung, insoweit hat das Begehren des Klägers in vollem Umfang Erfolg.
Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin und die angefochtenen Bescheide des Beklagten waren insoweit zu ändern, als das der Beklagte nunmehr verpflichtet worden ist, zugunsten des Klägers ab dem 12. Mai 2009 - der Antragstellung - einen GdB von 50 zuzuerkennen.
Die Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch in Verbindung mit den Grundsätzen der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) gebieten vorliegend den Ansatz eines GdB von 50. Dies gründet sich zur Überzeugung des Senats auf das Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 SGG, insbesondere aber auch auf das Sachverständigengutachten des Dr. vom 30. September 2011. Der Sachverständige hat bei dem Kläger insbesondere eine Depression, eine schlafbezogene Atmungsregulationsstörung und ein Asthma bronchiale festgestellt. Er schätzte den GdB im Hinblick auf die Depression auf den Wert von 30, im Hinblick auf die schlafbezogene Atmungsregulationsstörung auf den Wert von 20 und im Hinblick auf das Asthma bronchiale auf den Wert von ebenfalls 20. Dies führt vorliegend dazu, dass der GdB insgesamt mit 50 zu bemessen ist.
Nach A 3 c VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden.
Dies führt vorliegend dazu, dass ausgehend von dem führenden Leiden - der Depression mit einem GdB von 30 - noch weitere 20 hinzuzufügen sind, und zwar aufgrund des Asthma bronchiale und aufgrund der schlafbezogenen Atmungsregulationsstörung, die jeweils den GdB um 10 erhöhen. Dies folgt insbesondere daraus, dass die hierbei beschriebenen verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen sich wechselseitig aufeinander bezogen besonders nachteilig auswirken (vgl. A 3 d bb VersMedV). Denn die schlafbezogene Atmungsregulationsstörung verhindert die erholsame Wirkung des Schlafes für den Kläger, was sich wiederum nachteilig und verstärkend auf das Hauptleiden der Depression auswirkt. Umgekehrt wirkt sich das Asthma bronchiale vor allem tagsüber aus und verstärkt auf diese Weise ebenfalls die beeinträchtigende Wirkung der schlafbezogenen Atmungsregulationsstörung wie auch der Depression.
Dem steht auch nicht entgegen, dass nach A 3 d ee VersMedV es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, denn vorliegend sind aus den genannten Gründen Besonderheiten des Einzelfalles in der Person des Kläger gegeben, die ausnahmsweise gleichwohl eine Erhöhung gebieten.
Soweit der Sachverständige Dr. im Übrigen die Bildung eines niedrigeren Gesamt-GdB von 40 angemessen erachtet hat, ist dies für das Gericht weder bindend noch überzeugend. Insbesondere hat der Sachverständige sich zu Unrecht auf das Argument gestützt, der Kläger könne durch eine Beendigung des Nikotinabusus eine Besserung im Hinblick auf das Asthma bronchiale erreichen. Denn eine solche, an der Entstehung der Behinderung ausgerichtete Betrachtungsweise ist durch das geltende Recht verwehrt. Maßgeblich ist nicht, wodurch der Kläger seine Behinderung hervorgerufen hat und ob ihm möglicherweise eine Verringerung der Funktionsbeeinträchtigung erreichbar sein könnte. Vielmehr ist lediglich darauf abzustellen, dass eine solche Funktionsbeeinträchtigung - hier durch das Asthma bronchiale - dauerhaft besteht. Hieran besteht für den Senat auch vor dem Hintergrund der Feststellung des Sachverständigen Dr. kein Zweifel.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Begehren insgesamt etwa zur Hälfte erfolglos geblieben ist.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.