Tatbestand:

Die 1969 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Auf Antrag der Klägerin vom 5. Februar 2010 auf Feststellung des GdB stellte der Beklagte nach Beiziehung von medizinischen Befundunterlagen mit Bescheid vom 2. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 2011 zugunsten der Klägerin einen GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:

Depression (Einzel-GdB 30)

Bronchiektasen (erweitere Bronchien) (Einzel-GdB 20)

Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20)

Die Klägerin hat am 11. Februar 2011 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Feststellung eines GdB von 50 begehrt hat.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17. April 2012 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB. Die psychische Erkrankung sei aufgrund der Feststellungen der behandelnden Psychiaterin, der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie M, mit einem Einzel-GdB von 30 ausreichend bewertet. Nach den Feststellungen des behandelnden Orthopäden des in seinem Befundbericht vom 30. August 2011 lägen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor, so dass der Einzel-GdB mit 20 zu bewerten sei. Hinsichtlich des Lungenleidens bestünde nach dem Befundbericht der behandelnden Ärztin für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. L vom 3. September 2011 lediglich eine leichte Beschwerdesymptomatik, so dass nach versorgungsmedizinischen Grundsätzen der Einzel-GdB mit 20 zu bewerten sei. Die übrigen Erkrankungen seien wegen ihrer Geringfügigkeit (Gastritis, Fettstoffwechselstörung) nicht GdB-relevant bzw. nicht festgestellt (Refluxkrankheit, Migräne).

Gegen den ihr am 23. April 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14. Mai 2012 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.

Sie ist der Ansicht, dass das Sozialgericht die diversen Erkrankungen bei der GdB-Bewertung nicht ausreichend berücksichtigt habe. Zu deren Beurteilung sei mit Blick auf bestehende Funktionsbeeinträchtigungen die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. April 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise, den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Die Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben und im Sinne einer Zurückverweisung auch begründet.

Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Art. 8 Nr. 8 a) des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I. S. 3057), die mangels Schaffung einer Übergangsregelung in Art. 23 des vorgenannten Änderungsgesetzes nach dem allgemeinen Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts auch schon vor Ihrem Inkrafttreten anhängige Rechtsstreitigkeiten erfasst. Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und - so die Neufassung des Gesetzes - aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf berufen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 159 Rdnr. 3a). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht entsprechend aufgeklärt (2.). Infolge dieses Mangels ist eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig (3.)

1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz seinen gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. mit § 125 SGG), entzogen.

Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht davon auszugehen, dass der Sachverhalt geklärt ist. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Der Senat geht insoweit davon aus, das unter Klärung des Sachverhalts im Sinne von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG mehr zu verstehen ist, als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dafür, dass die Voraussetzungen in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, spricht der Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, L 13 SB 80/10, bei Juris).

Im vorliegenden Fall schied danach mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter aus, zumal bereits nicht der allgemeinen Amtsermittlungspflicht hinreichend Rechnung getragen worden ist (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt. Dabei berechtigen ungeachtet etwaiger medizinischer Grundkenntnisse durch richterliche Tätigkeit in medizinischen Sparten diese jedenfalls im Regelfall nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, wäre überdies die Grundlage darzulegen gewesen, auf der diese Sachkunde beruht, damit die Beteiligten hierzu hätten Stellung nehmen können (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RV 36/85 = SozR 1500 § 128 Nr. 31). Die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt im Regelfall nicht, um den Erfordernissen der Amtsermittlung gerecht zu werden. Sie sind nur schriftliche Zeugenaussagen. Den behandelnden Ärzten fehlt überdies in aller Regel eine sozialmedizinische Schulung und Erfahrung. Außerdem sollte die richterliche Sachaufklärung nicht (auch nicht ungewollt) dazu führen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigt wird, solange geeignetere Methoden der Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (vgl. auch insoweit Urteil des Senats vom 7. April 2011).

Dies zu Grunde gelegt, hätte sich das Sozialgericht zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen und die Klägerin hinsichtlich der Prüfung der Feststellung eines höheren GdB zumindest durch einen Allgemeinmediziner begutachten lassen müssen.

Mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse durfte sich das Sozialgericht zur Beurteilung der Frage, inwieweit der GdB im Falle der Klägerin zutreffend bewertet worden ist, nicht allein auf die eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte und die Bestätigung durch die erfolgten versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten stützen. Soweit das Sozialgericht die behandelnden Ärzte neben der Schilderung der Beschwerden und Mitteilung der Diagnosen, Untersuchungsbefunde und Behandlungsmaßnahmen zu den aus den Beschwerden abzuleitenden Funktionseinschränkungen nach Maßgabe der im Schwerbehindertenrecht für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 relevanten Anhaltspunkte für die gutachtliche Tätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht bzw. der für die Zeit seit dem 1. Januar 2009 in Form einer Rechtsverordnung geltenden Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung befragt hat, ermöglicht die Bewertung von Funktionseinschränkungen durch die behandelnden Ärzte nur eine grobe Einschätzung bestehender Funktionseinschränkungen. Eine abschließende Bewertung lässt sich hierauf mit Blick auf das Erfordernis einer sozialmedizinischen Schulung und Erfahrung nicht stützen. Fundierte Feststellungen werden im Regelfall nur durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens ermöglicht. So liegt der Fall auch vorliegend. Den abgegebenen Einschätzungen der behandelnden Ärzte ist durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen, bevor der so medizinisch umfassend ermittelte Sachverhalt einer juristischen Bewertung durch das Gericht unterzogen werden kann. Der Fall, dass nach den allein durch Einholung von Befundberichten getroffenen Ermittlungen bereits feststeht, dass unter keinem denkbaren Gesichtspunkt eine Erhöhung des GdB in Betracht kommen kann, liegt nicht vor.

Der danach vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung durch Einholung eines - hier mit Blick auf die Vielzahl der geltend gemachten Beeinträchtigungen der Klägerin nahe liegenden - allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachtens zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

3. Der Mangel macht auch eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme im Sinne der Neufassung des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG erforderlich. Davon ist auszugehen, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (vgl. hierzu Bundestags-Drucksache 17/6764, S. 27 zu Nummer 8). Dies ist hier der Fall. Das Sozialgericht hat es nämlich fehlerhaft unterlassen, den Sachverhalt durch Einholung eines jedenfalls allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachtens aufzuklären. Mit der Einholung eines Gutachtens ist aber typischerweise der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung des einzuholenden Gutachtens auch erheblicher personeller Mittel verbunden, das je nach der Sach- und Rechtslage ggf. auch weitere Ermittlungen nach sich ziehen kann (vgl. bereits Urteil des Senats vom 27. Januar 2012 - L 13 SB 212/11 - ).

4. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat das Gericht das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fiel. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Es ist prozessökonomischer, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Dabei hat sich der Senat im Rahmen der Ermessensausübung insbesondere auch dadurch leiten lassen, dass die Sache weit weniger als 3 Monate in der Berufungsinstanz anhängig ist, mithin die durch die Fehlerhaftigkeit der Sachaufklärung eintretende Verfahrensverzögerung als gering einzuschätzen ist.

5. Das Sozialgericht hat nach alledem nunmehr zur Aufklärung des Sachverhalts zunächst eine Begutachtung der Klägerin durch einen allgemeinmedizinischen Sachverständigen zu veranlassen.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.