Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 94/03 - Urteil vom 11.01.2005
Auch wenn in mehreren Wirbelsäulenabschnitten Einschränkungen bestehen, bedeutet dies nicht, dass ein höherer Grad der Behinderung als 20 festzustellen ist. Es ist vielmehr das Ausmaß der Einschränkungen festzustellen und mit den Vorgaben der Anhaltspunkte zu vergleichen. Dabei kann sich ergeben, dass in der Gesamtschau z.B. "nur" ein Zustand besteht, der mittelgradigen Einschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (GdB 20) gleich zuachten ist.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB).
Der 1961 geborene Kläger beantragte im September 2001 während eines Aufenthaltes in der Ostseeklinik S.-H. die Feststellung seines GdB sowie die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale "G" (erhebliche Gehbehinderung), "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Der Beklagte holte einen Befundbericht des Facharztes für radiologische Diagnostik Dr. B. ein, der mit Datum vom 15. Oktober 2001 erstattet wurde und dem ein von ihm erstellter Arztbrief vom 8. Mai 2001 über ein CT der Halswirbelsäule (HWS) beigefügt war. Der Beklagte zog ferner den Entlassungsbericht der Ostseeklinik S.-H. bei, wo der Kläger in der Zeit vom 4. bis 25. September 2001 an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme zu Lasten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte teilgenommen hatte. Nach Einholung einer Stellungnahme durch die Ärztin für Chirurgie Dr. G. stellte der Beklagte durch Bescheid vom 23. Januar 2002 einen GdB von 20 wegen Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule und Nervenwurzelreizerscheinungen fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G", "aG" und "RF" lägen nicht vor. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch, mit dem er ausführte, wegen einer S-Form seiner Wirbelsäule und einem Bandscheibenvorfall unter ständigen Schmerzen zu leiden, die ihn bei seiner Arbeit im Operationssaal (als OP-Pfleger) sehr belasteten. Beigefügt war ein Attest der behandelnden Ärztin für Orthopädie B. vom 11. Februar 2002, wonach der Kläger an einem chronisch rezidivierenden Lumbalsyndrom und einem chronischen Cervicalsyndrom mit beginnender Foramenstenose C5/6 bds. leide. Es bestehe ein überwiegend belastungsabhängiges Schmerzsyndrom beim Heben, Tragen und Haltearbeiten, insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeit im OP. Der Beklagte holte daraufhin ein ärztliches Gutachten durch den Arzt für Chirurgie Dr. S. ein, der am 24. Mai 2002 nach einer Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis kam, dass sich ein alters- und konstitutionsgerechter Bewegungsablauf gefunden habe, so dass der bisherige GdB nach Aktenlage viel zu hoch greife. Der Beklagte wies daraufhin den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2002 zurück. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung seien mit einem GdB von 20 richtig bewertet worden. Lediglich aus Gründen der Vollständigkeit und Klarheit werde die Funktionsbeeinträchtigung nunmehr wie folgt bezeichnet: Wiederkehrende Reizerscheinungen und Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule.
Das Sozialgericht Berlin hat im anschließenden Klageverfahren Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. B. (erstellt mit Datum vom 23. Januar 2003), der Fachärztin für Orthopädie R. (vom 10. Februar 2003), des Arztes für Orthopädie Dr. G. (vom 11. Februar 2003) sowie der Chirurgen K./S. (vom 14. Februar 2003) eingeholt, denen u.a. ein Röntgenbefund betreffend die HWS und die Lendenwirbelsäule (LWS) der Ärztin für Radiologie Dr. M. vom 2. Januar 2001 beigefügt war. Der Kläger brachte ferner eine Bestätigung der C. (Dr. B.) vom 22. November 2002 bei, wonach er sich dort wegen eines Bandscheibenvorfalles L 4/L 5 in Behandlung befinde.
Durch Gerichtsbescheid vom 20. Juni 2003 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Der Kläger leide zwar an Beschwerden in mehreren Wirbelsäulenabschnitten, die funktionellen Auswirkungen seien jedoch insgesamt jeweils nur leichtgradig, allenfalls gelegentlich mittelgradig, so dass lediglich eine Vergleichbarkeit der Leiden mit einem Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Abschnitt bejaht werden könne, die zu einem GdB von 20 führe. Keinesfalls handele es sich durchgehend um mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen. Ein GdB von 50 komme überhaupt nicht in Betracht.
Gegen diesen ihm am 27. Juni 2003 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 21. Juli 2003 eingegangenen Berufung. Darin trägt der Kläger vor, dass sich seine Schmerzen trotz therapeutischer Behandlung nicht gebessert hätten. Die Behinderung von 50 % habe der Prof. K. in der Kurklinik S.-H. entschieden, dieser Ansicht seien auch seine orthopädischen Ärzte. Der Kläger brachte ferner Atteste der Ärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. B. vom 25. September 2003, der Ärztin B. vom 9. De zember 2003 sowie des Facharztes für Orthopädie Dr. G. vom 22. November 2004 bei.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2003 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. Januar 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 2002 zu verurteilen, ihm einen Grad der Behinderung von mindestens 50 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verweist auf eine fachchirurgische Stellungnahme des Arztes für Chirurgie Dr. B. vom 1. Juni 2004, wonach der Gesamt-GdB von 20 das Höchstmaß der Funktionsbehinderungen seitens des Halte-, Stütz- und Bewegungsapparates beschreibe.
Der Senat hat Unterlagen der Unfallkasse B. betreffend eine am 23. Februar 1996 erlittene Quetschverletzung des linken Fußes, eine am 13. Juli 2002 erlittene Verletzung des linken Auges sowie eine weitere Verletzung des linken Zehes des Klägers vom 2. Dezember 2002 beigezogen. Das Gericht hat ferner einen Befundbericht der Fachärztin für Orthopädie R. (vom 24. Februar 2004) sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. B. (vom 5. März 2004) eingeholt, auf die Bezug genommen wird.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte des Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig, aber in der Sache nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung eines höheren Gesamt-GdB als 20.
Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sind gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 und 4 und Abs. 3 SGB IX abgestuft als Grad der Behinderung in Zehnergraden von 20 bis 100 entsprechend den Maßstäben des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz i.V.m. den vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" in ihrer jeweils geltenden Fassung (hier Ausgabe 2004 - AHP 2004 -), die als ein antizipiertes Sachverständigengutachten anzusehen sind, festzustellen.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist der beim Kläger bestehende GdB zu Recht nicht mit einem höheren Wert als 20 festgestellt worden. Nach den AHP 2004, Nr. 26.18 Seite 116 ist ein GdB von 20 vorgesehen bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome). Die beim Kläger bestehenden und durch Dr. S. wie auch durch die behandelnden Ärzte in deren Befundberichten beschriebenen Einschränkungen an der Wirbelsäule bestehen zwar in mehreren Wirbelsäulenabschnitten (Dr. G. beschreibt in seinem Attest vom 22. November 2004 einen Zustand nach Bandscheibenprotrusion C5/6, ein chronisches HWS-Syndrom, eine zervikale Spinalkanalstenose und einen Zustand nach Bandscheibenvorfall L4/5, wonach also zwei Wirbelsäulenabschnitte betroffen sind), diese erreichen jedoch nicht den in den Anhaltspunkten genannten Schweregrad, so dass eine Vergleichbarkeit mit mittelgradigen Einschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt gegeben ist.
Etwas anderes folgt weder aus den vom Kläger beigebrachten Attesten noch aufgrund der im Berufungsverfahren eingeholten Befundberichte. Die vom Kläger beigebrachten Atteste der Ärzte B. vom 25. September 2003 und Dr. G. vom 22. November 2004 enthalten keine Äußerungen zu den aus den Wirbelsäulenschäden resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen. Für die Feststellung der Höhe eines GdB kommt es allerdings - worauf der Kläger durch Schreiben des Landessozialgerichts vom 1. Oktober 2003 ausdrücklich hingewiesen worden war - grundsätzlich lediglich auf die Folgen derartiger Funktionsbeeinträchtigungen an (BSG, SozR 3-3870 § 4 Nr. 19). Lediglich die Ärztinnen R./B. beschreiben in ihrem Attest vom 9. Oktober 2003 die LWS-Beweglichkeit als "endgradig eingeschränkt", was keine erhebliche Einschränkung erkennen lässt. Den Befundberichten und Attesten war auch nicht zu entnehmen, dass sich der Zustand des Klägers verschlechtert hätte oder dass neue Erkrankungen hinzugekommen wären. Die Ärztin R. hat in ihrem Befundbericht vom 24. Februar 2004 auf die entsprechende Frage ausgeführt, dass es sich bei den Behandlungen wegen akuter Lumbalgie, lumbaler Blockierung und einem chronischen Lumbalsyndrom jeweils um Akutbehandlungen gehandelt habe. Der Facharzt für Allgemeinmedizin B. hat insoweit mitgeteilt, dass während des Zeitraumes der Konsultationen keine Änderung der Beschwerdeproblematik stattgefunden habe und dass die Befunde gleichbleibend gewesen seien.
Die Schmerzen, auf welche der Kläger verweist, führen nicht zu einem höheren GdB, da die in den GdB-Tabellen angegebenen Werte die üblicherweise vorhandenen Schmerzen mit einschließen und auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände bereits berücksichtigen (AHP 2004 Nr. 18 Abs. 8 S. 24). Die körperliche Belastung durch den vom Kläger ausgeübten Beruf ist im Rahmen der vorliegend streitigen Feststellungen nicht relevant, sie führt insbesondere auch nicht zu einem höheren GdB.
Der vom Kläger begehrte GdB von 50 kam, wie das Sozialgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, keinesfalls in Betracht. Die AHP 2004 sehen einen GdB ab 50 vor bei "Wirbensäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese), die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst ..." oder bei einer schweren Skoliose. Erkrankungen mit Funktionseinschränkungen eines derartigen Schweregrades liegen beim Kläger auch nicht annähernd vor.
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz, sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.