Bayerisches Landessozialgericht - L 15 SB 118/08 - Urteil vom 30.06.2009
Dem in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Straßenverkehrsordnung ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten können nur Personen gleichgestellt werden, bei denen sich auf die Fortbewegungsfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen mit einem Mindest-GdB von 80 vorliegen.
Tatbestand:
Die 1937 geborene Klägerin ist schwerbehindert im Sinne von §§ 2 Abs.2, 69 Abs.1 des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Sie begehrt die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "RF".
Auf den Neufeststellungsantrag vom 08.02.2007 hat der Beklagte mit dem streitgenständlichen Änderungs-Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Niederbayern vom 25.06.2007 den Grad der Behinderung (GdB) ab 12.02.2007 mit 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B" und "G" im Sinne von § 146 SGB IX festgestellt. Hierbei sind nachstehende Gesundheitsstörungen berücksichtigt worden: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, muskuläre Verspannungen, Bandscheibenschäden, Spinalkanalstenose, Nervenwurzelreizerscheinungen, Polyneuropathie (Einzel-GdB 40); künstlicher Gelenkersatz des Knies links, Funktionsbehinderung des Hüftgelenkes links, Zustand nach Unterschenkelfraktur links, statische Störungen, Durchblutungsstörungen (Einzel-GdB 40); Blutarmut bei Leberschaden und myelodysplastischem Syndrom (Einzel-GdB 30); seelische Störung (Einzel-GdB 30); Teillähmung linker Arm (Einzel-GdB 30); Zuckerkrankheit mit Diät und oralen Antidiabetika einstellbar (Einzel-GdB 20); Bluthochdruck (Einzel-GdB 20).
Der Antrag auf Zuerkennung der Merkzeichen "aG", "RF" und "H" ist ausdrücklich abgelehnt worden.
Die Klägerin hat mit Widerspruch vom 23.07.2007 hervorgehoben, sie könne aufgrund ihrer inneren und äußeren Leiden nur noch kurze Gehstrecken bewältigen und sei daher auf einen Behinderten-Parkplatz bzw. das Merkzeichen "aG" angewiesen. Des Weiteren könne sie nicht mehr umfassend öffentliche Veranstaltungen besuchen. Dies sei ihr nur noch geringfügig möglich, so dass sie auf Rundfunk und Fernsehen angewiesen sei.
Die Sozialmedizinerin L. hat mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 02.08.2007 ausgeführt, die Klägerin könne mit einem Rollator noch an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Dementspechend ist der Widerspruch vom 23.07.2007 gegen den Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Niederbayern vom 25.06.2007 mit Widerspruchsbescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 15.08.2007 zurückgewiesen worden.
In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht München einen Befundbericht von Dr. G. eingeholt. Dieser hat auf eine Zunahme der Schmerzsymptomatik seit dem Jahr 2005 aufmerksam gemacht und Abschriften seiner Arztbriefe an Dr. B. beigefügt. Das Sozialgericht München hat im Folgenden mit Beweisanordnung vom 28.11.2007 Dr. W. gemäß § 106 Abs.3 Nr.5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum ärztlichen Sachverständigen bestellt. Dieser ist mit fachorthopädischem und allgemeinärztlichem Gutachten vom 11.01.2008 zu dem Ergebnis gekommen, dass im Rahmen von Schmerzattacken der Besuch öffentlicher Veranstaltungen auch mit Hilfsmitteln nicht zumutbar sei. Nach dem am Untersuchungstag gebotenen Bild könne sie in der Regel öffentliche Veranstaltungen mit Hilfe einer Begleitperson oder eventuell im Rollstuhl zumutbar besuchen. Weitere, den Besuch öffentlicher Veranstaltungen behindernde Gesundheitsstörungen würden nicht vorliegen. Die Gleichstellung mit dem für das Merkzeichen "aG" geforderten Personenkreis mit Querschnittsgelähmten oder Doppelober- und -unterschenkelamputierten, die sich nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen könnten, sei sicher nicht möglich.
In Ergänzung zu ihrem Vortrag hat die Klägerin das Attest des Dr. B. vom 03.06.2008 eingereicht. Dieser berichtete, dass die gutachterliche Untersuchung bei Dr. W. am 11.01.2008 mit 67 km Anreise und langer Warte- und Untersuchungszeit bei der Klägerin zu massiven Schmerzen, massiver Aggravation der bestehenden körperlichen Beschwerden sowie zu einer völligen körperlichen und psychischen Erschöpfung geführt habe. Die Klägerin sei auf unabsehbare Zeit weder reise- noch verhandlungsfähig und könne der mündlichen Verhandlung nicht beiwohnen.
Nach entsprechender Ankündigung vom 09.06.2008 hat das Sozialgericht München die Klage mit Gerichtsbescheid vom 25.08.2008 abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und vor allem den schlüssigen und überzeugenden Feststellungen des Dr. W. sei es der Klägerin noch möglich, an öffentlichen Veranstaltungen zumindest mit Hilfe einer Begleitperson oder in einem Rollstuhl teilzunehmen. Nach der Untersuchung der Klägerin würden auch keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie sich praktisch vom ersten Schritt an außerhalb ihres Kfz nur noch mit fremder Hilfe und nur noch mit großer Anstrengung zumutbar bewegen könne. Die strengen Voraussetzungen, die an die Vergabe der Merkzeichen "RF" und "aG" gestellt würden, lägen nicht vor.
Die hiergegen gerichtete Berufung vom 23.09.2008 ging am 26.09.2008 beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) ein. Zur Begründung trug die Klägerin vor, sie habe während der Untersuchung bei Dr. W. ungefähr ca. 1 1/2 Stunden sitzend auf einem Stuhl verbringen müssen. Sie sei aus orthopädischer Sicht austherapiert und habe nur die Möglichkeit, sich mit Schmerzmedikamenten Linderung zu verschaffen. Als Aufenthaltsort bliebe ihr nur das häusliche Umfeld, deshalb sei eine Teilhabe am kulturellen und politischen Geschehen nur über Radio oder Fernsehen möglich. Sie habe sich im Februar 2008 das Handgelenk gebrochen. Der Unfall habe sich auf dem Weg zum Briefkasten ereignet. Der Gehweg von 10 bis 20 m entfalle mittlerweile, da der Briefkasten am Haus angebracht worden sei. Größere Gehstrecken könne sie nicht mehr bewältigen.
Der Senat zog die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten und die erstinstanzlichen Unterlagen bei. Nach Überprüfung wurde die Klägerin auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, nach § 109 SGG einen Arzt ihres Vertrauens bis spätestens 16.03.2009 zu benennen. Der von der Klägerin daraufhin benannte Dr. B. teilte telefonisch und schriftlich am 08.04.2009 mit, in seiner achtjährigen Tätigkeit als niedergelassener Hausarzt habe er bisher keine Gutachten angefertigt. Er sehe sich als Hausarzt der Klägerin daher nicht in der Lage, ein Gutachten zu erstellen, das die komplexen Erkrankungen der Klägerin ausreichend und angemessen beurteile.
Der Senat bat die Klägerin mit Schreiben vom 16.04.2009 um Nachricht bis 18.05.2009, wer anstelle von Dr. B. das Gutachten erstellen solle. Innerhalb der gesetzten Frist äußerte sich die Klägerin hierzu nicht mehr.
Nach Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Klägerin mit, sie könne der mündlichen Verhandlung am 30.06.2009 nicht beiwohnen. Ihre Bewegungsfreiheit beziehe sich nur auf das häusliche Umfeld. Sie wolle nochmals auf das Attest des Dr. B. vom 03.06.2008 hinweisen, in dem ihre gesundheitliche Situation bis auf den heutigen Tag beschrieben werde. Es gehe ihr um die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "RF".
In der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2009 ist für die Klägerin niemand erschienen. Die Klägerin beantragt sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 25.08.2008 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 25.06.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2007 zu verurteilen, die Merkzeichen "aG" und "RF" anzuerkennen.
Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage beantragt die Bevollmächtigte des Beklagten, die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25.08.2008 als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 202 SGG in Verbindung mit § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie entsprechend § 136 Abs.2 SGG auf die Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 und 151 SGG zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht München hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 25.08.2008 - S 24 SB 886/07 - zutreffend abgewiesen.
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen "RF") liegen bei der Klägerin nicht vor. Der 8. Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag) ist zum 01.04.2005 in Kraft getreten. In Art.5 § 6 ist die Gebührenbefreiung natürlicher Personen geregelt. Danach werden aus gesundheitlichen Gründen auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht natürliche Personen und deren Ehegatten befreit: Blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von 60 allein wegen der Sehbehinderung; hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist; behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Die Klägerin gehört nicht zu dem vorstehend bezeichneten Personenkreis. Vor allem ist sie weder schwer seh- noch hörgeschädigt. Ausweislich des schlüssigen und überzeugenden erstinstanzlich eingeholten Gutachtens des Dr. W. vom 11.01.2008 ist die Klägerin nicht generell an das Haus gebunden. Nur im Rahmen von Schmerzattacken ist ihr der Besuch öffentlicher Veranstaltungen auch mit Hilfsmitteln oder einer Begleitperson nicht zumutbar. Grundsätzlich könnte sie jedoch mit Hilfe einer Begleitperson und gegebenenfalls Hilfsmitteln öffentliche Veranstaltungen besuchen. Denn die Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule sind mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet worden und bedingen damit für sich allein betrachtet nicht die Schwerbehinderteneigenschaft. Gleiches gilt für die Funktionsstörungen im Bereich der unteren Extremitäten, die zwar zu einer erheblichen Gehbehinderung führen, aber nicht den Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausschließen.
Das BayLSG verkennt nicht, dass sich die Klägerin ausweislich des Attestes von Dr. B. vom 03.06.2008 im Februar 2008 bei einem Sturz beide Unterarme gebrochen hat. Wenn seit dem die Kraft beider Arme stark gemindert ist, stellt dies für die Klägerin eine zusätzliche nicht zu unterschätzende Beeinträchtigung dar. Dies schließt es jedoch unverändert nicht aus, an öffentlichen Veranstaltungen mit Hilfe einer Begleitperson und gegebenenfalls Hilfsmitteln teilzunehmen. Dies gilt auch in Berücksichtigung der bei der Klägerin bestehenden Spinalstenose, welche ein längeres Sitzen und längere Autofahrten nicht mehr ermöglicht.
Vielmehr steht das Merkzeichen "RF" nur Behinderten zu, wenn sie allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sind. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet.
Die Klägerin ist auch nicht außergewöhnlich gehbehindert (Merkzeichen "aG") im Sinne der allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) zu § 46 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Dort ist festgelegt: "Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind."
Allen Regelbeispielen ist gemeinsam, dass Funktionsstörungen mit einem Mindest-GdB von 80 vorliegen müssen, die sich gravierend auf die Fortbewegungsfähigkeit auswirken.
Nachdem bei der Klägerin insoweit eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 40 vorliegt und die Funktionsstörungen im Bereich der unteren Extremitäten ebenfalls einen Einzel-GdB von 40 bedingen, kann bei isolierter Betrachtung, d.h. unter Außerachtlassung der übrigen Funktionsstörungen, noch nicht von einer außergewöhnlichen Gehbehinderung ausgegangen werden, sondern nur von einer erheblichen Gehbehinderung im Sinne von § 146 Abs.1 SGB IX. Dies gilt auch bei Berücksichtigung des Attestes des Dr. B. vom 03.06.2008, der eine schwere Stand- und Gangataxie mit Sturzneigung, verstärkt durch eine Polyneuropathie bei Diabetes und eine Schwäche der Beine bei Spinalstenose beschreibt. Trotzdem entspricht dieses Beschwerdebild nicht der zu fordernden Schwere der Behinderung. Auch wenn sich die Bewegungsfreiheit der Klägerin entsprechend ihrem Schreiben vom 18.06.2009 auf das häusliche Umfeld bezieht, rechtfertigt dies noch keine Gleichstellung mit außergewöhnlich Gehbehinderten im Sinne der VwV zu § 46 StVO.
In Berücksichtigung des schlüssigen und überzeugenden erstinstanzlich eingeholten Gutachtens des Dr. W. vom 11.01.2008 und des Attestes des Dr. B. vom 03.06.2008 ist es zweitinstanzlich nicht erforderlich gewesen, nochmals ein Gutachten auf Kosten der Staatskasse einzuholen (§§ 103, 106 Abs.3 Nr.5 SGG). Soweit die Klägerin Dr. B. nach § 109 SGG als Gutachter benannt hat, hat dieser sich außerstande gesehen, das Gutachten zu erstellen. Obwohl der Klägerin bis 18.05.2009 Gelegenheit gegeben wurde, anstelle von Dr. B. einen anderen Gutachter nach § 109 SGG zu benennen, hat sie hiervon keinen Gebrauch gemacht.
Nach alledem ist die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 25.08.2008 zurückzuweisen. Die Anwesenheit der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 30.06.2009 ist hierbei nicht erforderlich gewesen (§ 110 Abs.1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).