Bayerisches Landessozialgericht - L 15 SB 43/06 - Urteil vom 24.02.2011
Eine Klageänderung durch Geltendmachung eines weiteren Nachteilsausgleichs setzt die Zustimmung des Prozessgegners voraus. Diese ist nicht darin zu sehen, dass er Ausführungen zur Sache macht. Die Einführung eines weiteren Streitgegenstandes (zusätzlicher Nachteilsausgleich) ist auch nicht für sachdienlich, da in der Regel die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen grundlegend unterschiedlich sind, so dass sich ein neues, noch nicht geklärtes Problemfeld eröffnen würde.
Tatbestand:
Die Berufung betrifft eine Angelegenheit aus dem Schwerbehindertenrecht. Die Parteien streiten im Wesentlichen darüber, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B vorliegen.
Der inzwischen 63-jährige Kläger, ein ehemaliger Zeitsoldat und Verwaltungsbeamter, leidet vorwiegend an schweren psychischen Störungen. Seit den 1980er Jahren hat er bis heute zahlreiche stationäre psychiatrische Behandlungen durchlaufen. Bereits 1991 ist er wegen seiner psychischen Erkrankung pensioniert worden. Daneben liegen auch gesundheitliche Probleme auf orthopädischem Fachgebiet vor. Erstmals kam es im Jahr 1989 zur Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB). Im November 1998 stellte der Beklagte einen GdB von 80 fest, verneinte aber die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G.
Auf einen Verschlimmerungsantrag hin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 09.04.2002 eine Neufeststellung des GdB ab und negierte wiederum die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G. Dagegen legte der Kläger am 15.04.2002 Widerspruch ein. Noch vor Erlass des Widerspruchsbescheids beantragte der Kläger erneut, einen höheren GdB, daneben aber auch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B und RF festzustellen.
Unter dem Datum 04.06.2004 erließ der Beklagte einen Teilabhilfebescheid zum Widerspruch vom 15.04.2002. Ab 22.06.2001 wurde der GdB mit 100 festgestellt. Darüber hinaus stellte der Beklagte fest, die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen lägen nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2004 wies er den Widerspruch im Übrigen zurück.
Am 16.07.2004 hat der Kläger beim Sozialgericht München Klage erhoben. Das Sozialgericht hat ein orthopädisches Gutachten nach persönlicher Untersuchung von Dr. A. T. (Gutachten vom 14.03.2005) eingeholt. Der Sachverständige ist zum Ergebnis gekommen, für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule sei ein Einzel-GdB von 30 nach wie vor angemessen; beim Kläger seien zwei Wirbelsäulenabschnitte mittelgradig betroffen. Motorische Defizite oder eine nennenswerte Beweglichkeitseinschränkung lägen nicht vor. Auch die Knie seien mit 30 zutreffend bewertet. Aufgrund der Arthrose der Kniegelenke bestehe beim Kläger eine Einschränkung der Gehfähigkeit. Diese erreiche aber kein Ausmaß, dass dieser nicht in der Lage wäre, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden könnten. Bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei der Kläger aus orthopädischer Sicht nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen.
Weiter hat das Sozialgericht ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten nach persönlicher Untersuchung von Dr. Dr. C. W. eingeholt (Gutachten vom 28.06.2005). Der Kläger, so der Sachverständige, sei nicht in Folge einer Einschränkung des Gehvermögens, von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit gehindert, Gehstrecken im Ortsverkehr, die üblicher Weise zu Fuß zurückgelegt würden, zurückzulegen - der Anamnese zu Folge würden solche auch zurückgelegt. Kognitive Defizite, die Orientierungsstörungen begründen würden, hätten weder von ihm noch von den Vorgutachtern festgestellt werden können; daran ändere nichts, dass der Kläger die Einschränkung des Gehvermögens insbesondere mit Orientierungsstörungen begründet habe. Der Kläger sei zur Vermeidung von Gefahren für sich und andere bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht auf fremde Hilfe angewiesen. Wegen der auffälligen Psychomotorik (ticartige Bewegungen) in Verbindung mit einer Antriebsschwäche sei jedoch die ständige Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr möglich.
Aufgrund des Gutachtens des Dr. Dr. W. ist in der mündlichen Verhandlung vom 12.01.2006 ein Teilvergleich bezüglich des Merkzeichens RF geschlossen worden. Im Übrigen hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom gleichen Tag abgewiesen, wobei es sich zur Begründung auf die beiden Sachverständigengutachten gestützt hat.
Mit Bescheid vom 16.02.2006 hat der Beklagte das Urteil umgesetzt
(Feststellung eines GdB von 100 und der gesundheitlichen Voraussetzungen für
das Merkzeichen RF). Als einzelne Gesundheitsstörungen sind genannt worden:
- Neurotische Depression mit Somatisierung (70)
- Knorpelschäden der Kniegelenke beidseits, Funktionsbehinderung des
Kniegelenks rechts, anhaltende Reizerscheinungen, Achillodynie (30)
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, Muskel-
und Nervenwurzelreizerscheinungen (30)
- Bewegungsstörungen (20) - Epicondylitis radialis humeri beidseits,
Fingerpolyarthrose (10)
- Ohrgeräusche (Tinnitus) (10)
- Sulcus ulnaris Syndrom beidseits (10).
Am 10.03.2006 hat der Kläger Berufung eingelegt und an seinem Klagebegehren festgehalten. Die vom Sozialgericht eingeholten Gutachten, so der Kläger zur Begründung, seien nur Momentaufnahmen und daher wenig aussagekräftig.
Mit Bescheid vom 16.03.2007 hat der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichens H verneint. Dem Senat hat er mitgeteilt, dieser Bescheid sei nach §§ 153, 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden.
Der Senat hat ein orthopädisches Gutachten nach persönlicher Untersuchung von Dr. B. eingeholt. Dr. B. hat im Gutachten vom 11.02.2008 auf seinem Fachgebiet folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: - Wirbelsäulenschäden mit knapp mehr als mittelgradigem Funktionsverlust - Ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke, leichte Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks aufgrund narbiger Veränderungen des zweimal operierten Achillessehnenrisses, Verschmächtigung der Wadenmuskulatur links. Die knapp mehr als mittelgradigen Funktionseinschränkungen, so der Sachverständige, beträfen nur die Lendenwirbelsäule. Die Bewegungsstörungen der Knie seien gering, Streckdefizite nicht messbar (weder Reizzustand noch Bänderschwäche). Um eine Schlechterstellung des Klägers durch das Klageverfahren zu vermeiden, werde empfohlen, für Wirbelsäule und Knie jeweils weiter 30 festzustellen. Der Kläger erreiche eindeutig keinen GdB von 50 wegen Behinderungen, die das Gehvermögen beeinträchtigten. Aus orthopädischer Sicht wäre der Kläger in der Lage, im Ortsverkehr übliche Wegstrecken ohne erhebliche Schwierigkeiten zurückzulegen. Auf orthopädischem Gebiet lägen auch keine Gesundheitsstörungen vor, welche fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel als notwendig begründen könnten.
Sodann ist eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung nach persönlicher Untersuchung durch Dr. H. K. erfolgt. Dieser hat im Gutachten vom 19.05.2008 unter anderem festgestellt, in körperlicher Hinsicht habe der Kläger keine gravierenden allgemeinen Symptome geboten. Der Einzel-GdB von 80 für die psychische Störung sei korrekt, ebenso die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Die Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B lägen nicht vor.
Der Kläger hat am 22.07.2008 sowohl Dr. B. als auch Dr. K. als befangen abgelehnt. Beide Gutachter haben ergänzende Stellungnahmen abgegeben (Dr. B. vom 05.08., Dr. K. vom 11.08.2001), sich nicht für befangen gehalten und an den Ergebnissen ihrer Gutachten festgehalten.
In der Folgezeit hat der Senat weitere medizinische Befunde eingeholt, darunter ein Pflegegutachten vom 14.11.2008. Zu diesen neuen Befunden hat Dr. B. unter dem Datum 13.11.2010 nochmals ergänzend Stellung genommen und dabei keinen Anlass gesehen, das Gutachtensergebnis abzuändern oder den Kläger nochmals persönlich untersuchen zu lassen.
In der mündlichen Verhandlung hat der Senat durch Beschluss festgestellt, dass die Befangenheitsanträge gegen die Sachverständigen Dr. B. und Dr. K. unbegründet sind.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.01.2006 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 09.04.2002 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 04.06.2004 sowie des Widerspruchsbescheids vom 15.06.2004 zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B" und "H" festzustellen.
Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, insbesondere wegen des Inhalts medizinischer Berichte und Gutachten, wird auf die Akten des Beklagten, des Sozialgerichts und des Bayerischen Landessozialgerichts verwiesen. Diese haben allesamt vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zwar zulässig, aber nicht begründet.
Der Senat war nicht gehindert, trotz des Ausbleibens des Klägers mündlich zu verhandeln und durch Urteil zu entscheiden. In der ordnungsgemäßen Ladung war ein korrekter Hinweis auf die Folgen seines Fernbleibens enthalten. Das rechtliche Gehör des Klägers ist gewahrt. So ist der Kläger mit Schriftsatz des Senats vom 29.12.2010 (zugestellt am 31.12.2010) davon unterrichtet worden, die Ermittlungen von Amts wegen seien abgeschlossen. Für die Beantragung eines Gutachtens nach § 109 SGG ist ihm Frist bis 31.01.2011 gesetzt worden. Weiter ist er darauf aufmerksam gemacht worden, das Merkzeichen H sei nicht über § 96 SGG Streitgegenstand geworden. Der Kläger hat weder einen Antrag nach § 109 SGG gestellt noch sich sonst geäußert.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nur der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B, nicht dagegen für das Merkzeichen H. Zum Einen ist der Bescheid vom 16.03.2007, mit dem der Beklagte die Zuerkennung des Merkzeichens H abgelehnt hat, nicht nach §§ 153, 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Er ist auch nicht über eine gewillkürte Klageänderung gemäß § 99 SGG Berufungsgegenstand geworden. Zwar liegt eine entsprechende prozessrechtliche Erklärung des Klägers, die eine Klageänderungserklärung verkörpert, vor. Dass es einer solchen überhaupt bedarf, liegt daran, dass außerhalb von § 96 SGG dem Kläger die Dispositionsbefugnis über den Streitgegenstand zusteht. Die entsprechende Erklärung des Klägers ist im Schriftsatz vom 20.07.2008 zu sehen, in dem er ausdrücklich geäußert hat, er beantrage das Merkzeichen "H". Dadurch ist der Streitgegenstand aber nicht modifiziert worden. Denn die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 SGG sind nicht gegeben. Der Senat hält die Änderung nicht für sachdienlich. Denn die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H unterscheiden sich grundlegend von denen der Merkzeichen G und B, so dass die bisherigen Ermittlungsergebnisse diesbezüglich kaum Aussagekraft besäßen. Es würde sich ein völlig neues und noch "unbeackertes" Problemfeld eröffnen. Es liegt auch keine Zustimmung des Beklagten zu der Klageänderung vor. Eine solche wird auch nicht gemäß § 99 Abs. 2 SGG durch dessen Äußerungen im Schriftsatz vom 19.04.2007 fingiert. Zwar hat der Beklagte dabei bezüglich des Merkzeichens "H" Ausführungen zur Sache gemacht. Dies führt aber nicht zur Zustimmungswirkung im Sinn von § 99 Abs. 2 SGG. Denn die Einlassung ist in der irrtümlichen Annahme des Beklagten erfolgt, es habe eine gesetzliche Klageänderung gemäß § 96 SGG stattgefunden. Folglich hat er zwangsläufig seine Option verkannt, es durch Vorenthalten der Zustimmung nicht zur Klageänderung kommen zu lassen. Das hat der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung uneingeschränkt bestätigt. Schon aufgrund dieser unzutreffenden Prämisse des Beklagten kann eine Einwilligung in eine gewillkürte Klageänderung nicht fingiert werden.
In der Sache bleibt das Berufungsbegehren des Klägers ohne Erfolg. Bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung hat er keinen Anspruch besessen, dass der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B feststellt.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, treffen sie die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Die materiell-rechtlichen Maßstäbe dafür ergeben sich aus den zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), die als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412) Rechtsnormcharakter haben (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.2009 - B 9 SB 3/08 R, RdNr. 27, 29; Giese, Bedeutung von Begutachtungsempfehlungen, antizipierten Sachverständigengutachten und Leitlinien - aus Sicht des sozialen Entschädigungsrechts, MedSach 2010, S. 85 ). Sie haben die bis dahin der Rechtsanwendung zugrunde liegenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) ersetzt (BSG, a.a.O., RdNr. 27). Das Bundessozialgericht vertritt augenscheinlich die Auffassung, die VG würden erst für die Zeit ab 2009 Wirksamkeit entfalten (keine unechte Rückwirkung), während für die streitgegenständliche Phase davor noch die AHP maßgebend seien (so wohl BSG, Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, RdNr. 19). Da für den vorliegenden Fall die AHP und die VG im Wesentlichen gleich lauten, erübrigt sich eine Erörterung dieses Problems (wegen der inhaltlichen Identität mit den AHP werden im Folgenden zumeist nur die VG zitiert; Ausnahme beim Merkzeichen B).
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) sind nicht erfüllt. Materiell-rechtliche Kernnorm ist § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Danach ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Teil D Nr. 1 lit. b, d VG trifft folgende konkretisierenden Regelungen:
... Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d. h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird.
Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens sind als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 ...
Die beiden gerichtlich bestellten orthopädischen Gutachter Dr. T. und Dr. B. haben überzeugend festgestellt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht gegeben sind. Der Senat macht sich dies zu eigen. Zwar trifft die Feststellung des Dr. T. zu, dass beim Kläger aufgrund der Arthrose der Kniegelenke eine Einschränkung der Gehfähigkeit besteht. Diese erreicht aber kein Ausmaß, dass dieser nicht in der Lage wäre, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden können. Dr. B. hat dies bestätigt und - in Kenntnis der entsprechenden Bestimmungen in den AHP - explizit darauf hingewiesen, dass der Kläger eindeutig keinen GdB von 50 wegen Behinderungen erreicht, die das Gehvermögen beeinträchtigen. Auch von der Richtigkeit dessen ist der Senat überzeugt. Aus diesen Feststellungen ist zu schließen, dass weder die "originären" Voraussetzungen von Teil D Nr. 1 lit. b VG noch die von Teil D Nr. 1 lit. d VG erfüllt sind; insbesondere greift nicht die unwiderlegliche Vermutung gemäß Teil D Nr. 1 lit. d Satz 1 VG.
Die Einschätzung der Gutachter erscheint dem Senat angesichts der vorhandenen Befunde plausibel. So hat Dr. Dr. W. darauf hingewiesen, nach der Anamnese würden Gehstrecken im Ortsverkehr, die üblicher Weise zu Fuß zurückgelegt würden, tatsächlich auch zu Fuß zurückgelegt. Vor Dr. B. hat der Kläger angegeben, er werde zur Zeit nicht orthopädisch behandelt; das spricht für einen insgesamt begrenzten Leidensdruck. Dieser Sachverständige hat keine eindeutige Gangstörung verifizieren können. Zudem sind vor Dr. B. die Bewegungsstörungen der Knie gering und Streckdefizite nicht messbar gewesen; es haben weder ein Reizzustand noch eine Bänderschwäche bestanden. Dr. K. hat bei der neurologischen Untersuchung lediglich eine etwas ungeschickt wirkende Motorik festgestellt. Zum Stütz- und Bewegungsapparat wird darin angegeben "keine Lähmungen, keine pflegerelevanten Bewegungseinschränkungen"; das Gehen wirke etwas unkoordiniert, erfolge aber ohne Hilfsmittel und ohne Begleitung. Die in jüngster Zeit vom Senat beigezogenen Befundberichte enthalten keine Hinweise auf eine relevante Änderung, wie Dr. B. in seiner ergänzenden Stellungnahme bestätigt hat.
Wie sich insbesondere aus dem Gutachten des Dr. Dr. W. ergibt, liegen beim Kläger auch keine Störungen der Orientierungsfähigkeit vor, durch die die Voraussetzungen für das Merkzeichen G begründet werden könnten. Die unwiderlegliche Vermutung gemäß Teil D Nr. 1 lit. f Satz 4 VG kommt dem Kläger nicht zu Gute, weil dieser nicht an einer geistigen, sondern an einer seelischen Behinderung leidet.
Auch für das Merkzeichen B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) sind die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. § 146 Abs. 2 SGB IX in der bis 11.12.2006 geltenden Fassung lautete wie folgt:
Ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen notwendig, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind.
Seit 12.12.2006 hat die Bestimmung folgende Fassung:
Zur Mitnahme einer Begleitperson sind schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Die Feststellung bedeutet nicht, dass die schwerbehinderte Person, wenn sie nicht in Begleitung ist, eine Gefahr für sich oder für andere darstellt.
Teil D Nr. 2 VG (identisch mit Nr. 32 AHP 2008) weist unter anderem folgende konkretisierenden Regelungen auf (die AHP 2005 stellen naturgemäß auf die bis zum 11.12.2006 geltende Rechtslage ab):
... b) Eine Berechtigung für eine ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "Gl" oder "H" vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. c) Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.
Zwar kommen im vorliegenden Fall beide zeitlich aufeinander folgenden Fassungen von § 146 Abs. 2 SGB IX zur Anwendung; denn der Kläger hatte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B bereits lange vor der Rechtsänderung im Dezember 2006 beantragt. Das wirkt sich jedoch im Ergebnis nicht aus. Nach den Feststellungen der Sachverständigen, die der Senat übernimmt, besaß bzw. besitzt der Kläger weder einen Anspruch nach dem alten noch nach dem neuen Recht.
Ohne inzident auf die Voraussetzungen für andere Merkzeichen - es bliebe das Merkzeichen H - einzugehen, verneint der Senat einen Anspruch, weil nach der einhelligen und überzeugenden Auffassung der gerichtlichen Sachverständigen der Kläger bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln nicht infolge seiner Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.