Bayerisches Landessozialgericht - Urteil vom 05.04.2005 - Az.: L 15 VG 4/03
Ausgehend von dem Gedanken, dass die Verurteilung eines Täters wegen der von ihm begangenen Straftat eine Zäsur zwischen dem früheren strafbaren Verhalten des Täters und dem anschließend auf seine Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzug darstellt, dürften Verletzungen eines Häftlings durch Mitgefangene, selbst wenn sich dabei gefängniseigentümliche Gefahren verwirklichen, dem Strafgefangenen nicht als mittelbare Folge seiner eigenen Straftat leistungsausschließend zugerechnet werden. Stattdessen ist lediglich auf das konkrete Verhalten des Opfers im Strafvollzug selbst abzustellen, um die Voraussetzungen eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs.1 Satz 1 OEG zu prüfen (Revision beim Bundessozialgericht anhängig - B 9a VG 2/05 R -).
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger wegen einer am 08.12.1999 erlittenen Gewalttat Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) zu versagen sind, weil das Opfer in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) eine Haftstrafe verbüßte und die Tat von einem Mithäftling verübt wurde.
Der 1972 in Togo geborene Kläger stellte im März 2000 Antrag auf Leistungen nach dem OEG, weil er am 08.12.1999 um ca. 19.00 Uhr in der Küche der Strafhaftabteilung D 3 der JVA W. von dem Mitgefangenen A. R. tätlich angegriffen worden sei, so dass er auf dem linken Auge erblindet sei. Anlass für den Streit sei gewesen, dass sich der Kläger in einer aushängenden Liste für ein Fußballspiel eingetragen habe, womit der o.g. Täter nicht einverstanden gewesen sei.
Der Beklagte zog u.a. medizinische Unterlagen der Augenklinik der J.-Universität W. bei. Danach ist der Kläger am 16.02.2000 nach schwerster perforierender Bulbusverletzung operiert und sein linker Augapfel entfernt worden.
Der Beklagte zog außerdem das Strafurteil des Amtsgerichts W. vom 25.04.2000 (Az.: 231 Js 10238/00) bei, mit dem A. R. wegen der am Kläger begangenen schweren Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden war. Der 1972 geborene Täter ist Kosovo-Albaner. Laut BZR-Auszug war er bereits mehrmals strafrechtlich in Erscheinung getreten und zwar wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, unerlaubter Einreise, Urkundenfälschung, fahrlässiger Körperverletzung, Betrug und zuletzt wegen gefährlicher Körperverletzung am 05.06.1998. Er verbüßte seit 24.10.1999 eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 5 Monaten.
Nach Prüfung, ob sich der Kläger ausländerrechtlich in der Bundesrepublik aufhalten dürfe, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19.10.2000 den Antrag des Klägers auf Beschädigtenversorgung ab, weil er nicht unter den Personenkreis des § 1 Abs.4 und 5 OEG falle, da sein Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtmäßig sei.
Der Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid war erfolglos. Am 19.02.2001 erging ein zurückweisender Widerspruchsbescheid.
Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht München (S 30 VG 12/01) endete durch Annahme des vom Beklagten am 26.11.2001 unterbreiteten Vergleichsangebots, mit dem sich dieser im Hinblick auf ein neues BSG-Urteil (Breithaupt 2001, 729 ff) bereit erklärte, unter Zugrundelegung eines rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers während der Strafhaft eine neue Entscheidung zu treffen.
Der Beklagte führte daraufhin nochmals Ermittlungen durch, lehnte aber mit Bescheid vom 07.05.2002 den Antrag des Klägers auf Beschädigtenversorgung erneut ab. Der Kläger sei zwar am 08.12.1999 Opfer einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG geworden; nach § 2 Abs.1 Satz 1 OEG seien jedoch Leistungen zu versagen, wenn es unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Dies sei hier der Fall. Der Kläger habe sich zur Zeit der Gewalttat wegen einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren in Strafhaft befunden. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.04.2001) sei zu prüfen gewesen, ob die Straftat mittelbar wesentliche Bedingung für den Angriff gewesen sei. Davon sei nur dann nicht auszugehen, wenn es sich um einen Streit handele, wie er sich auch außerhalb eines Gefängnisses zwischen bisher unbescholtenen Personen in ähnlicher Weise hätte abspielen können. Der Kläger sei jedoch Opfer der im Strafvollzug herrschenden Aggressivität und Gewaltbereitschaft geworden, ohne Möglichkeit, ihr aus dem Weg zu gehen. Es sei daher unbillig, die Solidargemeinschaft der unbescholtenen Steuerzahler für den Schaden aufkommen zu lassen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und bestritt jeglichen Zusammenhang zwischen seiner Straftat und dem Angriff. Es könne niemand beurteilen, ob eine vergleichbare Situation außerhalb des Strafvollzugs zustandegekommen wäre. Er habe sich außerdem in der Obhut der Justizbehörden befunden und somit eigentlich in einer gesicherteren Lage als ein Mensch in privatem Umfeld. Es werde fälschlich argumentiert, dass im Strafvollzug ein überproportional aggressives und gewaltbereites Milieu herrsche. Ein Vergleich von Pro-Kopf-Zwischenfällen in und außerhalb des Vollzugs beweise das Gegenteil.
Im zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 27.06.2002 wurde daran festgehalten, dass der Angriff gegen den Kläger außerhalb des Strafvollzugs nicht geschehen wäre. Der Kläger habe durch seine eigene Straftat eine wesentliche Bedingung für die Gewalttat gesetzt.
Anschließend hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben und weiterhin Beschädigtenversorgung nach dem OEG begehrt. Der Ladung des Sozialgerichts zur mündlichen Verhandlung am 12.03. 2003 hat der Kläger nicht Folge leisten können, weil er laut Auskunft der JVA L. am 04.02.2003 nach Togo abgeschoben worden war. Das Sozialgericht hat das Urteil der 8. Strafkammer des Landgerichts A. vom 29.03.1999 (Az.: 105 Js 132214/98) gegen den Kläger beigezogen, mit dem dieser wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden war. Der Kläger hatte im September 1998 zwei minderjährigen Mädchen kostenlos Heroin verschafft und in seiner Wohnung, Drogen aufbewahrt, die er zur Bestreitung seines - illegalen - Aufenthalts benötigte.
Das Sozialgericht München hat den Beklagten mit Urteil vom 12.03.2003 zur Erbringung der Leistungen nach dem OEG auf Grund der am 08.12.1999 erlittenen Verletzungen verurteilt. Zur Begründung hat das Sozialgericht auf das bereits vom Beklagten zitierte Urteil des BSG vom 18.04.2001 Bezug genommen, in dem dieses zu Gunsten eines ebenfalls wegen Drogenhandels verurteilten türkischen Häftlings, der im Streit mit einem Mithäftling durch einen Schlag mit dem Billardstock am Kopf schwer verletzt worden war, von einem berechtigten Aufenthalt im Sinne von § 1 Abs.5 Satz 2 OEG ausgegangen ist. Das Sozialgericht stimmte dieser Entscheidung ausdrücklich zu, weil keine Lebenssituation so sehr von staatlichen Regelungen geprägt sei wie die Haft in einer JVA. In keiner Situation sei aber auch das Schutzbedürfnis so groß. Die Möglichkeit, Gewaltrisiken durch vorsichtige Auswahl des Aufenthaltsorts und des persönlichen Umgangs zu mindern, entfalle im Gefängnis fast völlig. Im Übrigen hat das Sozialgericht im vorliegenden Fall die Annahme eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs.2 Satz 1 OEG verneint; bei der gegen den Kläger verübten Tat sei kein Zusammenhang mit seinen zur Inhaftierung führenden Verbrechen gegeben. Die Gewalttat sei nicht etwa als Bestrafung für ein Verhalten bei der gemeinsamen Begehung einer Straftat oder aus Rache für verräterische Zeugenaussagen oder wegen eines Konflikts über die Aufteilung einer Beute begangen worden. Auch sei die Gewalttat nicht für das Gefängnismilieu besonders typisch. Sie habe sich vielmehr im Umfeld eines sportlichen Wettkampfs abgespielt. Dabei sei eine gewisse Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit Fußballspielen leider allgemein bekannt. Die Zusammenstellung von Mannschaften, Eingriffe von Schiedsrichtern etc. würden von Spielern und Zuschauern vielfach mit außerordentlicher Emotionalität wahrgenommen und führten zu überzogenen Reaktionen. Ein Faustschlag ohne Waffeneinsatz, wie er den Kläger getroffen habe, sei für dieses Milieu nicht besonders ungewöhnlich. Dagegen seien typisch für den Justizvollzug Taten aus den Umfeldern des Drogenhandels im Gefängnis, wegen homosexueller Abhängigkeitsverhältnisse oder anlässlich von Ausbruchsversuchen oder von Strafritualen innerhalb der Häftlingshierarchie. Dass der Kläger auf Grund eigener Schuld in Strafhaft eingesessen sei, dürfe nicht für den Billigkeitsausschluss genügen, sonst könnte in keinem Fall der vom BSG postulierte Schutz von Häftlingen, die Opfer einer Gewalttat würden, zum Tragen kommen. Auch dürfe die sozial und prozessual schlechte Position des Klägers nicht übersehen werden, der von seinem Heimatland aus ohne Beweise gegen den Schädiger nicht vorgehen könne und dessen medizinische Betreuung dort nicht sichergestellt sei. Er sei daher mit den Folgen der Gewalttat stärker belastet als ein vergleichbarer Deutscher. Nach Verbüßung der verdientermaßen erlittenen Strafhaft dürften ihn die Folgen der Gewalttat nicht als zusätzliche Strafe treffen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 18.06. 2003 Berufung eingelegt und beantragt, das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Seines Erachtens habe sich sehr wohl im Angriff auf den Kläger eine gefängniseigentümliche Gefahr des Strafvollzugs verwirklicht. Der Gefängnisaufenthalt bedinge, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft längere Zeit auf engstem Raum zusammenleben müssten. In Freiheit würden diese Personenkreise praktisch keinen Kontakt miteinander pflegen. Der Täter sei kosovo-albanischer Herkunft. Seine Wert- und Ehrvorstellungen seien mit Sicherheit andere als die seines afrikanischen Opfers. Auch mangelnde Verständnismöglichkeiten förderten eine Gewaltbereitschaft, die typisch für das Gefängnismilieu und außerhalb des Strafvollzugs kaum anzutreffen sei. Es sei auch zu beachten, dass es sich bei den Gefängnisinsassen um eine reine Männergesellschaft handle, in der Positionskämpfe auch mit körperlicher Gewalt ausgetragen würden.
Der Senat hat nach Beiziehung der Strafakten gegen A. R. zunächst das Bayer. Staatsministerium der Justiz und anschließend die JVA W. zu den Voraussetzungen und den Folgen von Fußballspielen in einer bayerischen JVA um Auskunft gebeten. Das Staatsministerium hat mit Schreiben vom 24.10.2003 die Fragen nur teilweise und sehr allgemein beantwortet. Nach Auskunft des stellvertretenden Leiters der JVA W. sei das geplante Fußballspiel als bloße Unterhaltungsveranstaltung konzipiert gewesen. Deutliche Vorbehalte von albanischen Volksangehörigen gegenüber Schwarzafrikanern seien hinlänglich bekannt. Dass die gegenständliche Tat hierin ihre Grundlage gehabt habe, könne angenommen werden, bleibe jedoch letztlich Spekulation. Der Schädiger R. und der weitere beteiligte jugoslawische Staatsangehörige M. hätten keine langjährigen Freiheitsstrafen verbüßt. Zwar habe der Kläger eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren zu verbüßen gehabt; er schätze jedoch diesen Umstand als bedeutungslos für das Tatgeschehen ein. Weder vor diesem Geschehen noch danach sei es zu tätlichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Fußballspielen in der JVA gekommen.
Mit Schriftsatz vom 27.07.2004 hat der Beklagte zwar eingeräumt, dass auch in Freiheit Streit über die Mannschaftsaufstellung vor Fußballspielen entstehen könne, auch aufgrund unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Es sei aber zu fragen, ob sich diese allgemeine Möglichkeit auf Grund der besonderen Haftbedingungen nicht doch zu einer haftspezifischen bzw. gefängniseigentümlichen Gefahrenlage verdichtet habe, die weit über das allgemeine Risiko eines Bürgers hinaus gehe, in der "Freiheit" in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt zu werden.
Der Senat hat nochmals die JVA W. um Auskunft gebeten und dabei deren Strafanzeige vom 09.12.1999 an die Staatsanwaltschaft W. gegen A.R. und A.M. wegen des streitgegenständlichen Vorfalls beigefügt. Darin wurde unter 3. über den Strafgefangenen A.R. mitgeteilt, dass gegen diesen während seiner Inhaftierung sechs, teils empfindliche Disziplinarmaßnahmen verhängt worden seien, davon drei wegen Tätlichkeiten gegenüber Mitgefangenen. Der Gefangene werde durchgehend als aggressiv, nicht einordnungsbereit, undurchsichtig, hinterhältig und feindselig geschildert. Der Anstaltsleiter schloss seine Strafanzeige mit einer Bitte um nachdrückliche Ahndung der Straftaten auch im Interesse der Anstaltssicherheit und Ordnung, die dadurch gefährdet sei, dass sich Gefangene verschiedener Volksgruppen zusammenrotten und im Sinne von Rache und Gegenschlägen weitere Tätlichkeiten und Widerstandshandlungen auch in Gruppen begehen könnten.
Der neue Leiter der JVA, hat mit Schreiben vom 25.08.2004 hierzu Stellung genommen: Wie in anderen Gesellschaftsgruppen etablierten sich in der Zwangsgemeinschaft eines Gefängnisses verschiedene Schichten. Die albanischen Inhaftierten seien regelmäßig in den unteren Schichten angesiedelt, wie auch die relativ kleine Gruppe der Schwarzafrikaner, die nach Meinung der Albaner wiederum nachrangig sei. Diese Tatsachen habe wohl der frühere Anstaltsleiter in seinem Bericht ansprechen wollen. Tatsächlich hätten sich in der JVA W. in den letzten Jahren sonst keine tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Schwarzafrikanern ereignet. Tätliche Auseinandersetzungen in Gefängnissen seien relativ selten und würden aus unterschiedlichen Gründen entstehen: z.B. wegen landsmannschaftlicher Auseinandersetzungen (Kriegsgegner wie Kosovo-Albaner und Serben), Benachteiligung bei der Essensausgabe, Differenzen am Arbeitsplatz, Streit über das Fernsehprogramm im Gemeinschaftsraum, Nichtrückzahlung von Schulden. Normalerweise stelle eine Verurteilung wegen Drogenhandels - wie im Fall des Klägers - keinen Grund für eine Auseinandersetzung dar. Inhaftierte Drogenhändler seien im unauffälligen Mittelfeld angesiedelt, weil viele Inhaftierte bereits eigene, vermeintlich positive Drogenerfahrungen gesammelt hätten und diese Tätigkeit als nicht besonders verwerflich ansähen. Sexualstraftäter mit Kindern als Opfer dagegen befänden sich in der Rangordnung ganz unten. Es sei zwar richtig, dass A. R. in den JVAen B. und T. bereits wegen tätlicher Auseinandersetzungen in Erscheinung getreten sei. Eine strikte Trennung von Mitgefangenen wäre jedoch nur unter den strengen Voraussetzungen des § 89 Strafvollzugsgesetz möglich gewesen. In einer JVA könne ein Inhaftierter mit Ausnahme der Einzelhaft nicht dauerhaft von Mitgefangenen getrennt werden, da die erwünschte Resozialisierung, die Arbeitspflicht und die baulichen Gegebenheiten soziale Kontakte der Inhaftierten bedingen würden. Auch habe im Gefangenenpersonalakt des A. R. der Vermerk "Selbstmordgefahr" gestanden, der in der Regel eine Gemeinschaftsunterbringung nach sich ziehe.
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 05.11.2004 die Ansicht vertreten, die zweite Auskunft der JVA W. verdeutliche, dass die Zwangsgemeinschaft eines Gefängnisses nicht mit einer offenen Zivilgesellschaft zu vergleichen sei. Es bestehe eine hierarchische Gliederung, bei der die Gruppe der Schwarzafrikaner von der der Albaner als nachrangig angesehen werde. Zu den in der Auskunft genannten typischen Gründen für tätliche Auseinandersetzungen, wie z.B. landsmannschaftliche Streitigkeiten könne zwanglos auch ein Fußballspiel hinzugefügt werden. Daraus, dass der albanische Täter besonders gewaltbereit gewesen sei, aber nicht von den übrigen Häftlingen habe getrennt werden können, ergebe sich eine gefängnisspezifische Gefahrenlage, der der Kläger ausgesetzt gewesen sei. Somit sei Unbilligkeit gegeben.
Der Senat hat nochmals bei der JVA W. angefragt, weshalb sich am 08.12.1999 im Gemeinschaftsraum, in dem sich die streitgegenständliche Auseinandersetzung abgespielt hat, kein Anstaltspersonal zur Kontrolle und Sicherheit der Gefangenen befunden habe. Hierauf ist erwidert worden, der fragliche Vorfall habe sich kurz vor 18.00 Uhr ereignet, in einem Zeitraum von zwei Stunden, während dessen sich die Gefangenen in ihrer Abteilung frei bewegen, d.h. Mitgefangene im Haftraum besuchen, duschen, fernsehen oder kleine Gerichte in der Teeküche zubereiten dürften. In dieser Zeit werde jede Station mit ca. 30 Inhaftierten von einem Vollzugsbediensteten bewacht. Dieser habe aber außerdem weitere Aufgaben, die - wie im streitgegenständlichem Falle - dazu führen könnten, dass der Bedienstete vorübergehend die Station verlasse, z.B. um Gefangene zu anderen Gruppenveranstaltungen zu führen, Essenswägen in die Küche zurückzubringen oder evtl. auch auf einer anderen Station Hilfe zu leisten. Aufgrund der baulichen und personellen Verhältnisse im Strafvollzug sei weder eine dauerhafte Trennung noch eine ständige Beaufsichtigung von männlichen Häftlingen, die sich wegen Gewaltdelikten in U-Haft oder Straf-Haft befänden (z.Zt. 114 in W.), möglich.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.03.2003 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.03.2003 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 07.05.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2706.2002 abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten, die Akten der Staatsanwaltschaft W. und die Sozialgerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet.
Das Urteil des Sozialgerichts München ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger Versorgung nach § 1 OEG zu gewähren, weil kein Versagungsgrund nach § 2 Abs.1 OEG vorliegt.
Das angefochtene Urteil ist als Grundurteil im Sinne des § 130 Abs.1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufzufassen. Der Tenor des Urteils ist deshalb entsprechend ergänzt worden. Der Kläger erlitt bei der Gewalttat am 08.12.1999 eine gesundheitliche Schädigung, nämlich den Verlust der Sehfähigkeit auf dem linken Auge einschließlich der Amputation des Augapfels. Diese Verletzungsfolgen bedingen mindestens eine MdE in Höhe von 30 v.H. und damit den Anspruch auf Rentenleistungen nach Maßgabe der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Somit sind die Voraussetzungen des § 130 Abs.1 Satz 1 i.V.m. § 54 Abs.4 SGG erfüllt.
Nach den Vorgaben des BSG in seinem Urteil vom 18.04.2001 (SozR 3-3800 § 1 Nr.19) scheitert der Anspruch des Klägers nicht daran, dass er nach ausländerrechtlichen Bestimmungen sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt. Vielmehr war der Aufenthalt des Klägers während des Strafvollzuges ungeachtet der bestehenden Ausreisepflicht als rechtmäßig anzusehen.
Das BSG hat im o.g. Urteil bekräftigt, dass eine Gewalttat im Sinne von § 1 OEG auch bei einem Strafgefangenen möglich ist. Der Anwendungsbereich des OEG erstreckt sich somit auch auf Häftlinge im Strafvollzug.
Der Kläger ist am 08.12.1999 unstreitig Opfer einer Gewalttat im Sinne des § 1 Abs.1 OEG geworden. Zutreffend ist das Sozialgericht auch davon ausgegangen, dass keine Versagungsgründe im Sinne von § 2 Abs.1 OEG vorlagen, insbesondere die eigene Straftat des Klägers keine wesentliche Bedingung für die an ihm verübte Gewalttat war, weil sich in dem Angriff auf den Kläger keine gefängnistypische Gefahr verwirklicht hat.
Nach § 2 Abs.1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
Auszugehen war von dem Sachverhalt, der dem Strafurteil des Amtsgerichts W. vom 25.04.2000 gegen A. R. zugrunde lag: "Am 08.12.1999 gegen 17.50 Uhr kam es zwischen dem Angeklagten A. R. und dem Mitgefangenen (d.h. dem Kläger) zu einer verbalen Auseinandersetzung im Gemeinschaftsraum der JVA. Zwischen den beiden ging es um die Teilnahme des Klägers an einem Fußballturnier, das Anfang Januar 2000 stattfinden sollte. Der Angeklagte R. wollte nicht, dass der Kläger in seiner Mannschaft mitspielt. Er hielt ihn für ungeeignet. Nach einigem hin und her strich R. seinen Namen aus der Teilnehmerliste. Anschließend begaben sich R. und der Kläger wieder in die Küche des Gemeinschaftsraums. Da die Aggressionen zwischen den beiden zunahmen, stellte sich der von seiner Körperstatur her Eindruck erweckende Mitgefangene M.F. zwischen beide. Diese gingen schließlich auseinander und es sah so aus, als ob sie den Streit beendet hätten. M.F. sah daher zu einer weiteren Schlichtung keinen Anlass mehr und trat zur Seite. Plötzlich und für alle Anwesenden überraschend, sprang der Angeklagte R. auf den Kläger zu und schlug diesen mit der Faust heftig in den Bereich des linken Auges. Der Schlag war so wuchtig geführt worden, dass der linke Augapfel des Klägers aufplatzte und Augenflüssigkeit austrat. Auch blutete das Auge heftig. Daneben war auch die linke Augenbraue aufgeplatzt."
Entsprechend diesem Tathergang hat der Kläger seine Schädigung nicht im Sinne von § 2 Abs.1 Satz 1 1. Alternative OEG mitverursacht, denn er hat keinen eigenen vorwerfbaren Beitrag zur Tat geleistet, der insbesondere bei strafrechtlicher Betrachtung annähernd gleichgewichtig gewesen wäre wie das Verhalten des Angreifers, der eine schwere Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs.1, 226 Abs.1 Nr.1 Strafgesetzbuch begangen hat (ständige Rechtsprechung des BSG, z.B. Urteile vom 18.04.2001, B 9 VG 3/00 R in SozR 3-3800 § 2 Nr.10, ferner B 9 VG 5/00 R in SozR 3-3800 § 1 Nr.19).
Der Kläger hat auch den Angriff durch sein Verhalten (Anmeldung zur Teilnahme an einem relativ unbedeutenden Fußballspiel) weder vorwerfbar provoziert noch hat er sich der Gefahr des Angriffs leichtfertig ausgesetzt. Er konnte nicht mit dem Angriff rechnen, weil die vorhergehende verbale Streitigkeit abgeschlossen schien und die tätliche Attacke für alle völlig überraschend erfolgte, wie ein Blitz aus heiterem Himmel (vgl. BSG Urteil vom 21.10.1998 in SozR 3-3800 § 2 Nr.9).
Der Versagungsgrund der Unbilligkeit nach § 2 Abs.1 Satz 1 2.Alternative OEG liegt ebenfalls nicht vor. Zwar hatte der Kläger mit Urteil des Landgerichts Augsburgs vom 29.03.1999 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren zu verbüßen; er hat auch eine nach der Rechtsprechung des BSG besonders verwerfliche Straftat begangen (Urteil vom 24.03. 1993, SozR 3-3800 § 2 Nr.2). Diese Straftat war auch notwendige Bedingung dafür, dass der Kläger in die Justizvollzugsanstalt verbracht wurde, in der er Opfer der Gewalttat wurde. Insoweit gleicht der vorliegende Fall dem vom BSG am 18.04.2001 entschiedenen.
Nach dieser Entscheidung genügt jedoch diese mittelbare Ursache allein noch nicht als Versagungsgrund. Sie könnte erst dann als wesentliche Bedingung angesehen werden, wenn sich durch die Gewalttat eine typische Gefahr der Inhaftierung verwirklicht hätte.
Dies war jedoch nicht der Fall. Der am Kläger begangenen Gewalttat lag ein außergewöhnlicher Ausbruch an Aggressivität zugrunde, für den nicht das spezielle gewaltbereite Gefängnismilieu oder konkrete Haftbedingungen verantwortlich gemacht werden können. Ein solcher Gewaltakt könnte sich auch außerhalb des Strafvollzugs in einem Wirtshaus, bei einer Sportveranstaltung oder aus Anlass einer Meinungsverschiedenheit im Straßenverkehr ereignet haben, weil es auch dort zu nicht nachvollziehbaren plötzlichen Angriffen besonders gewaltbereiter Personen kommt.
Die Gewalttat stand in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Drogenhandel, der zur Inhaftierung des Klägers geführt hatte. Solche Straftaten werden nach Auskunft der JVA in der Regel von Mithäftlingen nicht zum Anlass genommen, den Täter anzugreifen, vielmehr bestehen unter den Häftlingen häufig Sympathien mit Drogenhändlern. Es liegt auch keine Nachwirkung der vom Kläger begangenen Straftat vor, denn die Gewalttat hatte keinen Zusammenhang mit dem "Milieu" des Drogenhandels. Im Übrigen bestehen auch keine Hinweise auf eine (frühere) Zugehörigkeit des Klägers zur organisierten Kriminalität im Sinne von § 2 Abs.1 Satz 2 OEG.
Eine gefängniseigentümliche Gefahr des Strafvollzugs kann auch nicht damit begründet werden, dass der Streit unter Umständen aus ethnischen Gründen entstanden ist und dass sich verfeindete Gruppen verschiedener Nationalitäten nicht aus dem Weg gehen konnten. Zwar ist der Gewalttäter A. R. albanischer Staatsangehöriger, der Kläger Schwarzafrikaner. Nach den beiden ersten Auskünften der JVA W. bestehen auch generell gewisse Animositäten zwischen der albanischen und der kleinen schwarzafrikanischen Gruppe von Häftlingen. Aus den Ermittlungs- und Strafakten kann jedoch nicht sicher entnommen werden, dass diese unterschiedliche Volksgruppenzugehörigkeit der Grund für die Streitigkeiten zwischen dem Kläger und A. R. gewesen sind. Es deutet im Gegenteil mehr darauf hin, dass es sich um eine rein persönliche Antipathie des allgemein als aggressiv, undurchsichtig, hinterhältig und feindselig geschilderten A. R. gegen den Kläger gehandelt hat. Gegen eine gefängnistypische Milieutat spricht ferner die Überlegung, dass - wie das Sozialgericht dargelegt hat - auch in Freiheit im Umfeld von Fußballspielen Emotionen geweckt werden können, die nicht selten zu gewalttätigen Reaktionen führen.
Nicht zu leugnen ist allerdings, dass entfesselte Emotionen in einer Männergesellschaft im Strafvollzug eher zur gewalttätigen Entladung kommen können als in Freiheit, wo ein potenzielles Opfer die Möglichkeit hat, dem Aggressor aus dem Weg zu gehen. Diese in der Regel größere Aggressivität und Gewaltbereitschaft innerhalb des Strafvollzugs kann jedoch allein die Unbilligkeit einer Entschädigung nicht begründen, weil ein Gefängnis kein rechtsfreier Raum ist und das dort tätige Personal im Rahmen seiner Möglichkeiten für einen ordnungsgemäßen Vollzug sorgen und Inhaftierte vor rechtswidrigen Angriffen Mitgefangener schützen muss (BSG-Urteil vom 18.04.2001, a.a.O.). Im vorliegenden Fall war zum Tatzeitpunkt am 08.12.1999 kein Justizvollzugsbeamter im Gemeinschaftsraum anwesend, in dem sich die Gewalttat ereignete, obwohl der Täter bereits in anderen Justizvollzugsanstalten durch Tätlichkeiten gegenüber Mitgefangenen aufgefallen war. Der Anstaltsleiter der JVA W. versuchte am 24.02.2005, dies mit den baulichen und personellen Verhältnissen der JVA zu erklären, die keine ständige Beaufsichtigung der Gefangenen erlaubt haben. Auch sei eine Einzelhaft im Fall des selbstmordgefährdeten Täters aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nicht durchführbar gewesen. Selbst wenn Mängel bei der Beaufsichtigung der Gefangenen den Angriff auf den Kläger erleichtert oder mitbedingt haben, kann dieser Umstand nicht als typische gefängnisspezifische Gefahr und Versagungsgrund nach § 2 Abs.1 OEG zu Lasten des Klägers gewertet werden. An der oben genannten Verpflichtung des Staates, Inhaftierte vor Angriffen Mitgefangener zu schützen, ändern auch Personalmangel und finanziell bedingte Engpässe grundsätzlich nichts. Auch das Vorliegen eines verschuldensabhängigen Amtshaftungsanspruchs des Geschädigten würde den Anspruch nach dem OEG nicht ausschließen.
Selbst wenn man - wie nicht - eine gefängniseigentümliche Gefahrensituation als wesentlich mitwirkende Ursache der Gewalttat annehmen wollte, hätte der Senat Bedenken, beim Kläger entsprechend den vom BSG im Urteil vom 18.04.2001 entwickelten Grundsätzen einen Versagungsgrund nach § 2 Abs.1 OEG zu bejahen.
Denn dieses Ergebnis erschiene unvereinbar mit dem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten herausragenden Ziel des Vollzuges von Freiheitsstrafen, nämlich der Resozialisierung der Strafgefangenen (z.B. BVerfGE 35, 202, 236; 33, 1, 7). Dieses Ziel würde erheblich gefährdet, wenn in der Haft erlittene schwere Körperschäden des Häftlings als "adäquate" Folgen des mit der vorangegangenen Straftat verbundenen Strafvollzugs angesehen würden. Mit überzeugender Begründung geht Dannecker (Die Sozialgerichtsbarkeit 2002, 469 ff) davon aus, dass die dementsprechende frühere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 17, 172 ff.) zur Frage des Aufopferungsanspruchs eines durch einen Mitgefangenen geschädigten Häftlings nach den Grundsätzen der Staatshaftung seit In-Kraft-Treten des OEG keine Geltung mehr haben könne. Der BGH ging damals davon aus, dass solche Schädigungen kein Sonderopfer, sondern Ergebnis zwangsläufiger, unvermeidbarer Gefahren des Strafvollzugs seien.
Ausgehend von dem Gedanken, dass die Verurteilung eines Täters wegen der von ihm begangenen Straftat eine Zäsur zwischen dem früheren strafbaren Verhalten des Täters und dem anschließend auf seine Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzug darstellt, dürften Verletzungen eines Häftlings durch Mitgefangene, selbst wenn sich dabei gefängniseigentümliche Gefahren verwirklichen, dem Strafgefangenen nicht als mittelbare Folge seiner eigenen Straftat leistungsausschließend zugerechnet werden (vgl. mit ausführlicher Begründung Dannecker, a.a.O.). Stattdessen ist lediglich auf das konkrete Verhalten des Opfers im Strafvollzug selbst abzustellen, um die Voraussetzungen eines Versagungsgrundes nach § 2 Abs.1 Satz 1 OEG zu prüfen.
Selbst wenn man - wie nicht - davon ausginge, das Vorliegen einer Unbilligkeit, insbesondere in Gestalt einer gefängniseigentümlichen Gefahr als wesentlich mitwirkender Ursache der Gewalttat, ließe sich weder feststellen noch ausschließen, würde dies nach Auffassung des Senats nichts am Ergebnis ändern. Denn die Beweislast für das Vorliegen eines Versagungsgrundes trägt der Beklagte (BSG in SozR 3-3800 § 2 Nr.4). Für eine ausnahmsweise Umkehr der diesbezüglichen Beweislast in Fällen von Gewalttaten in Justizvollzugsanstalten, wie sie das BSG in seinem Urteil vom 18.04.2001 zur Diskussion stellt, sieht der Senat schon im Hinblick auf die vorstehenden, aus der Bedeutung des Resozialisierungsgebotes abgeleiteten Überlegungen keine Notwendigkeit. Im Übrigen würde der bisher - soweit ersichtlich - in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung konsequent eingehaltene Grundsatz, dass die Nichterweislichkeit von Fakten zu Lasten desjenigen geht, der daraus einen rechtlichen Vorteil ableiten will (objektive Beweislast), damit ohne Not durchbrochen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat gemäß § 160 Abs.2 Nr.1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und zur Rechtsfortbildung die Revision zugelassen.