Bayerisches LSG - Urteil vom 19. Oktober 2004 - Az.: L 15 VJ 2/02 -


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger dessen am 18.08.1999 abhanden gekommenes Hörgerät zu ersetzen.

Bei dem 1971 geborenen Kläger ist seit Kindheit eine "an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit mit Schwindel" als Impfschadensfolge nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) - bzw. seit 01.01.2001: Infektionsschutzgesetz (IfSG) - anerkannt. Er bezieht deshalb entsprechend den Bestimmungen des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), auf die das BSeuchG (IfSG) verweist, u.a. Beschädigtenrente nach einer MdE von 100 v.H. und erhält die wegen der Schädigungsfolgen notwendigen Hilfsmittel, in seinem Fall insbesondere Hörgeräte.

Laut einem Vermerk des Beklagten wurde der Kläger im August 1999 mit zwei neuen Hörgeräten, einem digitalen und einem wasserfesten, versorgt. Mit Schreiben vom 30.08.1999 teilte der Kläger dem Beklagten mit, er habe sein gerade neu erhaltenes digitales Hörgerät während des Urlaubs in der Dominikanischen Republik verloren und beantrage schnellen Ersatz. Den Verlust schilderte er wie folgt: "Als ich am Meer war, habe ich sportliche Aktivitäten unternommen. Dabei habe ich das digitale Hörgerät rausgenommen, damit es nicht kaputt oder verloren geht. Ich habe das Hörgerät in ein Handtuch gewickelt und auf meine Liege gelegt. Als ich wieder zurückkam, war das Handtuch am Boden (wahrscheinlich durch den Wind weggeblasen). Ich suchte das Hörgerät sofort, aber es war nicht mehr in dem Sand zu finden."

Auf Bl.86 der Akte der Orthopädischen Versorgungsstelle Berlin findet sich ein Vermerk über ein Telefonat mit der Fa. E. (30.09.1999), die den Kläger im Auftrag des Beklagten mit Hörgeräten versorgt. Darin heißt es, Herr E. habe mitgeteilt, der Kläger gehe recht sorglos mit seinen Hörgeräten um; Herr E. habe den Kläger "schlampert" genannt.

Mit Bescheid vom 28.04.2000 lehnte es der Beklagte ab, dem Kläger vorzeitigen Ersatz für das verlorene digitale Hörgerät zu leisten: zwar bestehe gemäß § 13 Abs.4 BVG in Verbindung mit § 20 Orthopädie-Verordnung (OrthV) grundsätzlich auch Anspruch auf Ersatz von Hilfsmitteln, die vor Ablauf der Mindestgebrauchszeit unbrauchbar geworden oder in Verlust geraten seien. Dieser Anspruch sei jedoch für die restliche Gebrauchszeit ausgeschlossen, wenn der Benutzer die Unbrauchbarkeit oder den Verlust des Hilfsmittels vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt habe. Auf Grund der Angaben des Klägers müsse davon ausgegangen werden, dass dieser, nachdem er auch dieses Hörgerät verloren habe, die ihm obliegende Sorgfaltspflicht verletzt habe. Es sei ihm zuzumuten, das Hörgerät, wenn er es nicht tragen könne, so aufzubewahren, dass ein unbeabsichtigter Verlust in der geschilderten Art und Weise ausgeschlossen sei. Ein Ersatz des Hörgerätes vor Ablauf der Mindestgebrauchszeit von sieben Jahren sei deshalb nicht möglich.

Den dagegen eingelegten Widerspruch, mit dem der Kläger vortrug, er habe das Hörgerät abgenommen, damit es beim Ballspielen am Strand nicht verloren gehe oder beschädigt werde, was nicht als Sorgfaltspflichtverletzung qualifiziert werden könne, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.09.2000 zurück: Das Hörgerät in ein Handtuch gewickelt auf der Liege zurückzulassen, entsprechen nicht der erforderlichen Sorgfaltspflicht, das Gerät vor Verlust oder Schaden zu schützen. Im Übrigen seien dem Kläger seit 1995 vier Hörgeräte verlorengegangen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger beim Sozialgericht München Klage erhoben und beantragt, den Beklagten zum Ersatz des im August 1999 verloren gegangenen digitalen Hörgerätes zu verurteilen: Er habe in 27 Jahren vier Hörgeräte verloren, "verloren" z.B. auch dadurch, dass er beim Skifahren gestürzt sei, dabei das Hörgerät vom Kopf gerissen wurde und im Schnee nicht wieder gefunden werden konnte. Beim Verlust des streitgegenständlichen Hörgerätes habe er seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt; denn er habe das Hörgerät abgenommen, damit es während des Beach-Volleyballs nicht beschädigt werde, und in das Handtuch eingewickelt auf der Liege deponiert.

Mit Urteil vom 13.03.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der Kläger habe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße außer Acht gelassen und damit grob fahrlässig gehandelt. Denn er wäre verpflichtet gewesen, sein Hörgerät diebstahlsicher aufzubewahren. Das Einwickeln in ein Handtuch und das Liegenlassen auf einer unbewachten Strandliege müsse als besonders grobe Sorgfaltspflichtverletzung angesehen werden, zumal der Kläger die Alternative gehabt hätte, das Handtuch mit dem Hörgerät so zu platzieren, dass er es vom Volleyballplatz aus zuverlässig im Auge hätte behalten können.

Gegen diese Urteil hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und weiter Ersatz des Hörgerätes begehrt: Er habe vom Spielfeld aus sehr wohl seine Liege beobachten können. Darüber hinaus habe er das Hörgerät auf seiner Liege so platziert, dass seine Freunde, die neben seiner Liege gelegen hätten, zusätzlich mit auf das Hörgerät aufgepasst hätten. Da er in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht nicht anwesend gewesen sei, seien diese wichtigen Punkte des Sachverhalts nicht geklärt worden.

Der Senat hat die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten und die Akte der orthopädischen Versorgungsstelle des Beklagten beigezogen, den Kläger gehört und M. B. sowie F. U. als Zeugen vernommen. Der Beklagte und der Kläger haben hierzu schriftsätzlich am 31.07.2003/05.08.2004 bzw. 17.08.2004 Stellung genommen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 13.03.2002 sowie des Bescheides vom 28.04.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2000 zu verurteilen, für das am 18.08.1999 abhanden gekommene Hörgerät Ersatz zu leisten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen,

weil das angefochtenen Urteil der Sach- und Rechtslage entspreche.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten Bezug genommen.


 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§ 68 Abs.2 IfSG bzw. § 61 Abs.2 BSeuchG in Verbindung mit §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist auch begründet.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, für das am 18.08.1999 verloren gegangene digitale Hörgerät des Klägers vorzeitig Ersatz zu leisten.

Dies hat der Senat - im Unterschied zum Sozialgericht - bejaht.

Auf Grund der bei ihm anerkannten Impfschadensfolgen hat der Kläger gemäß § 60 Abs.1 Satz 1 IfSG bzw. § 51 Abs.1 Satz 1 BSeuchG Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Gemäß § 13 Abs.1 BVG fallen hierunter auch die Versorgung mit "anderen Hilfsmitteln" (z.B. Hörgeräte) und der Ersatz dieser Hilfsmittel. Auch bei Unbrauchbarkeit oder Verlust eines Hilfsmittels hat der Berechtigte Anspruch auf Instandsetzung und Ersatz, wenn die Unbrauchbarkeit oder der Verlust nicht auf Missbrauch, Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Berechtigten oder Leistungsempfängers zurückzuführen ist (§ 13 Abs.4 BVG). Dementsprechend bestimmt § 20 Abs.2 OrthV, dass für die restliche Gebrauchszeit des Hilfsmittels kein Anspruch auf Instandsetzung oder Ersatz besteht, wenn die Beschädigung, Unbrauchbarkeit oder der Verlust des Hilfsmittels vom Benutzer vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden ist.

Dafür, dass dem Verlust des Hörgerätes ein vorsätzliches Handeln des Klägers zugrunde läge, gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Aber auch grob fahrlässiges Handeln liegt nach Auffassung des Senats diesbezüglich nicht vor.

Nach der in § 45 Abs.2 Satz 3 Nr.3 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) enthaltenen Legaldefinition liegt grobe Fahrlässigkeit dann vor, wenn der Betroffene die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn der Betroffene mit dem relevanten Umstand (hier: Verlust des Hörgerätes) lediglich rechnen musste. Vorausgesetzt wird vielmehr, dass er ihn auf Grund einfachster und (ganz) naheliegender Überlegungen hätte erkennen können bzw. dass dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Hierbei sind auch die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit und das Einsichtsvermögen des Betroffenen zu berücksichtigen (Steinwedel in Kassler Kommentar, Rdnr.39 zu § 45 SGB X). Die (objektive) Beweislast für die in § 13 Abs.4 BVG normierten Ausschlusstatbestände des Missbrauchs, des Vorsatzes und der groben Fahrlässigkeit liegt beim Beklagten.

Der Senat erachtet das Verhalten des Klägers, das für den Verlust des Hörgerätes mitursächlich war, nicht als grob fahrlässig. Es erscheint schon fraglich, ob der Kläger mit dem Verlust rechnen musste, was im Übrigen die Voraussetzungen für die Annahme grober Fahrlässigkeit noch nicht erfüllen würde. Jedenfalls waren die Gesamtumstände nicht dergestalt, dass er den Eintritt des Verlustes auf Grund einfachster und (ganz) naheliegender Überlegungen hätte erkennen können. Dies gilt umso mehr, als an die individuelle Urteils- und Kritikfähigkeit sowie an das Einsichtsvermögen des Klägers, der als Kleinkind - also vor Spracherwerb - praktisch ertaubt ist, keine erhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen.

Im Ablegen des Hörgerätes vor der Teilnahme am Beach-Volleyball lag eine Wahrnehmung von Sorgfaltspflichten in Bezug auf das Hilfsmittel, weil diese Sportart, bei der nicht selten nach dem Ball gehechtet wird mit anschließendem Aufprall im Sand, ein nicht unerhebliches Risiko der Beschädigung oder des Verlustes eines dabei getragenen Hörgerätes in sich birgt.

Auch das wasserfeste Hörgerät (Zweitgerät), das der Kläger nach seinen Angaben im Hotel vergessen hatte, hätte sinnvollerweise vor dem Beach-Volleyballspiel abgelegt werden müssen. Im Übrigen kann das Vergessen dieses Gerätes im Hotel nicht als grobe Fahrlässigkeit gewertet werden.

Ohne Hörgerät mit Freunden an den Strand zu gehen, war dem Kläger wegen dessen Gehörlosigkeit kaum zuzumuten; dies bedeutet, dass das Mitnehmen/Benutzen des Hörgerätes auf dem Weg vom Hotel zum Strand sicher nicht als grob fahrlässiges Verhalten qualifiziert werden kann.

Hinzu kommt, dass das weitläufige Hotelgelände gesichert war, wie der Kläger und der Zeuge B. bekundet haben.

Das Einwickeln des Hörgerätes in das mitgeführte Handtuch und dessen Deponieren auf der Liege kann u.a. im Hinblick darauf ebenfalls nicht als grob fahrlässiges Verhalten angesehen werden, zumal der Kläger - bestätigt vom Zeugen B. - glaubhaft vorgebracht hat, die Liege sei im Blickfeld der Volleyballspieler gewesen und außerdem hätten sich auf den Nachbarliegen zwei Bekannte (Kolleginnen aus der Flugbegleitercrew des Zeugen B. ) befunden, die die Liege des Klägers mit dem Hörgerät im Blickfeld gehabt hätten. Die Aussage der Zeugin U., das Volleyballfeld sei von den Liegen aus nicht zu sehen gewesen, ändert hieran nichts. Zum einen hatte die Zeugin U. nur sehr unpräzise Erinnerungen an den Hotelaufenthalt im August 1999, zum andern machten der Zeuge B. und der Kläger bei ihren diesbezüglichen Aussagen einen glaubhaften Eindruck. Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens auch dann nicht gegeben wären, wenn die Liegen vom Volleyballfeld aus nicht hätten überblickt werden können. Denn jedenfalls waren die Nachbarliegen von der Zeugin U. und deren Kollegin belegt; auch war es, wie der Zeuge B. bekundet hat, üblich, in Abwesenheit von Bekannten auf deren auf benachbarten Liegen zurückgelassene Wertsachen ein Auge zu haben.

Selbst wenn ein kräftiger Wind geweht haben sollte - ab einer gewissen Stärke dürfte Beach-Volleyball nicht mehr spielbar sein - kann deshalb im Deponieren des in das Handtuch eingewickelten Hörgeräts auf der Liege kein grob fahrlässiges Verhalten gesehen werden. Dafür, dass der Wind von solcher (extremer) Stärke war, dass auf Grund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen zu erkennen war, das Handtuch mit dem darin ein-gewickelten Hörgerät würde von der Liege geweht werden, bestehen keine Anhaltspunkte; der Beklagte behauptet dies auch nicht. Im Übrigen ist es nicht gesichert, ob das Handtuch infolge von Windeinwirkung oder infolge anderer Ursachen von der Liege fiel.

Insgesamt verkennt der Senat nicht, dass dem Verlust des Hörgerätes etwas Mysteriöses anhaftet. Letztlich ist aber ein dafür (mit-)ursächliches grob fahrlässiges Verhalten des Klägers nicht mit der erforderlichen "an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" erwiesen. Das Vorbringen des Klägers, das im Laufe des Verfahrens um einige Details ergänzt wurde, hat von Anfang an den gleichen Sachverhalt geschildert (vgl. z.B. Begründung des Widerspruchs, Bl.115 Beklagtenakte). Die Einwendungen des Beklagten, der Kläger habe den Sachverhalt im Laufe des Verfahrens in seinem Sinne ergänzt, ist unbehelflich. Denn weder der Beklagte noch das Sozialgericht sind ihrer Pflicht zur sorgfältigen Ermittlung des Sachverhalts, mit dem das anspruchsausschließende Tatbestandsmerkmal der groben Fahrlässigkeit begründet wurde, nachgekommen. Eine Anhörung des Klägers sowie die Vernehmung von Zeugen haben erstmals in der Berufungsinstanz stattgefunden.

Weder die Vorkommnisse bezüglich des dem Beklagten verheimlichten sofortigen Ersatzes des verlorenen digitalen Hörgerätes durch den Kläger noch die vorausgegangenen Verluste von drei Hörgeräten (ab 1995; insgesamt aber über einen Zeitraum von mittlerweile 30 Jahren) oder die in einem Telefonvermerk des Beklagten enthaltene Bekundung des Hörgerätelieferanten E. , der Kläger sei "schlampert", können die Annahme von grober Fahrlässigkeit begründen, da sie mit der aktuellen, dem Verlust des Hörgerätes am 18.08.1999 vorausgehenden Situation nichts zu tun haben.

Da nach alldem ein für den Verlust des Hörgerätes kausales grob fahrlässiges Verhalten des Klägers am 18.08.1999 nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bewiesen ist (objektive Beweislast beim Beklagten), hat der Beklagte gemäß § 13 Abs.4 BVG für das abhanden gekommene Hörgerät Ersatz zu leisten.

Auf die Berufung des Klägers waren daher die angefochtenen Bescheide des Beklagten und das Urteil des Sozialgerichts München aufzuheben und der Beklagte zur Ersatzleistung zu verpflichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs.2 Nrn.1 bis 2 SGG nicht vorliegen.