Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 20 B 77/07 AS ER - Beschluss vom 23.05.2007
Die Anwendung von an Durchschnittswerten orientierten Pauschalen bei der Übernahme von Kosten für Heizung widerspricht der gesetzlichen Regelung. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Die Leistungen für Heizung müssen sich an den tatsächlichen Aufwendungen orientieren. Dabei ist der Begriff der Angemessenheit als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar. Die Angemessenheit von Heizkosten hängt auch bei sparsamem Umgang mit Heizenergie von zahlreichen Faktoren ab, die überwiegend nicht zur kurzfristigen Disposition der Hilfeempfänger stehen (etwa von der Lage der Wohnung im Gesamtgebäude, von der Geschosshöhe, der Wärmeisolierung, der Heizungsanlage, von meteorologischen Daten, von der Größe der Unterkunft, von besonderen persönlichen Verhältnissen). Dies erschwert nachhaltig die Feststellung, wann Heizkosten im konkreten Fall angemessen sind und wann nicht. Ohne konkrete Anhaltspunkte für ein unwirtschaftliches Heizverhalten ist deshalb eine Kürzung auf vom Leistungsträger als angemessen erachteten Richtwerte nicht zulässig
Gründe:
I.
Mit Beschluss vom 04.04.2007 hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit von Februar bis Mai 2007 weitere Heizkosten in Höhe von monatlich 12,90 EUR zu gewähren. Die Antragsgegnerin leiste an die Antragstellerin gegenwärtig einen Heizkostenanteil lediglich von 28,54 EUR; ausweislich der Jahresabrechnung der Firma U ergebe sich jedoch für das Jahr 2007 ein berücksichtigungsfähiger Heizkostenanteil von monatlich 41,42 EUR. Dementsprechend habe die Antragsgegnerin den Mehrbetrag von monatlich 12,90 EUR zusätzlich zu übernehmen. Die Antragsgegnerin sei nicht berechtigt, auf der Grundlage von Durchschnittswerten die Leistungen für Heizkosten zu pauschalieren. Ein solcher Durchschnittswert sei in aller Regel kein geeignetes Mittel zur Feststellung der Angemessenheit von Heizkosten. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss des Sozialgerichts Bezug genommen.
Hiergegen hat die Antragsgegnerin am 17.04.2007 Beschwerde eingelegt, der das Sozialgericht mit Beschluss vom 18.04.2007 nicht abgeholfen hat.
Die Antragsgegnerin trägt vor, der Gesetzgeber des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) habe bei § 22 SGB II hinsichtlich der für Heizung in Ansatz zu bringenden Kosten an bisherige Rechtsprechung und Literatur zur Konturierung dieses Bedarfs im Sozialhilferecht anknüpfen wollen. Bei der Ermittlung des anzuerkennenden Bedarfs fänden alle Bewohner des Hauses Berücksichtigung; leerstehende Wohnungen flössen nicht in die Berechnung mit ein. Individuelle Heizgewohnheiten einzelner Bewohner glichen sich letztlich aus. Nach telefonischer Auskunft des Vermieters der Antragstellerin seien alle Wohnungen, welche in die Berechnung der Heizkosten einflössen, in gleicher Weise isoliert. Die Altersstruktur der Bewohner sei ausweislich des Einwohnermelderegisters ausgeglichen. Das Haus werde von einem älteren Ehepaar (Geburtsjahrgänge 1927 und 1930) bewohnt; mehrere Bewohner seien bereits im Rentenalter, auch ein noch nicht schulpflichtiges Kind sei in dem Haus wohnhaft. Es sei deshalb davon auszugehen, dass das Heizverhalten sowohl von Personen mit erhöhtem Wärmebedürfnis als auch von solchen, die sich viel in der Wohnung aufhielten (Hausfrauen, Rentner), ferner von berufstätigen Personen, bei der Berechnung berücksichtigt worden sei.
Die Antragstellerin trägt dem gegenüber vor, im von ihr bewohnten Haus habe bis kürzlich ein junges Paar gewohnt, daneben eine junge Frau mit Freund, drei allein lebende Herren unterhalb des Rentenalters, von denen mindestens einer berufstätig sei, und eine berufstätige junge Frau. Es lebten dort keine Rentner und Kinder. Sie halte die Sichtweise des Sozialgerichts für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Akte des Hauptsacheverfahrens (SG Düsseldorf S 19 AS 30/07) und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, aber nicht begründet.
Das Sozialgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Antragstellerin sowohl einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Leistungen für Heizkostenvorauszahlungen in Höhe des vom Sozialgerichts zugesprochenen Umfangs glaubhaft gemacht (sog. Anordnungsanspruch) als auch ein Eilbedürfnis für die gerichtliche Entscheidung (sog. Anordnungsgrund).
Hinsichtlich des Anordnungsgrundes teilt der Senat die Ansicht des Sozialgerichts, dass auch bei einem nominell recht geringen Betrag vom 12.90 EUR pro Monat ein Eilbedürfnis besteht. Denn der Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II stellt ohnehin nur das soziokulturelle Existenzminimum (vgl. hierzu Münder, in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 1 Rn. 5) sicher; jedenfalls bei deutlichem Anordnungsanspruch kann vom Betroffenen nicht erwartet werden, dass er von diesem Existenzminimum monatlich einen Teil für einstweilen unberechtigt nicht geleistete Heizkostenvorauszahlungen aufwenden muss und seinen materiell-rechtlichen Anspruch ggf. erst nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens erfüllt erhält. Denn ein Hauptsacheverfahren, welches ggf. durch mehrere Instanzen geführt wird, kann u.U. mehrere Jahre dauern.
Auch der Anordnungsanspruch der Antragstellerin ist glaubhaft gemacht. Die Anwendung von an Durchschnittswerten orientierten Pauschalen bei der Übernahme von Kosten für Heizung widerspricht bei summarischer Prüfung der gesetzlichen Regelung. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Mit dem BSG (Urteil vom 23.11.2006, B 11b AS 3/06 R) weist der Senat darauf hin, dass sich die Leistungen für Heizung an den tatsächlichen Aufwendungen orientieren müssen. Dabei ist der Begriff der Angemessenheit als unbestimmter Rechtsbegriff in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar (Berlit, in: LPK-SGB II, § 22 Rn. 25). Die Angemessenheit von Heizkosten hängt auch bei sparsamem Umgang mit Heizenergie von zahlreichen Faktoren ab, die überwiegend nicht zur kurzfristigen Disposition der Hilfeempfänger stehen (etwa von der Lage der Wohnung im Gesamtgebäude, von der Geschosshöhe, der Wärmeisolierung, der Heizungsanlage, von meteriologischen Daten, von der Größe der Unterkunft, von besonderen persönlichen Verhältnissen). Dies erschwert nachhaltig die Feststellung, wann Heizkosten im konkreten Fall angemessen sind und wann nicht. Ohne konkrete Anhaltspunkte für ein unwirtschaftliches Heizverhalten ist deshalb eine Kürzung auf vom Leistungsträger als angemessen erachteten Richtwerte nicht zulässig (a.a.O. Rn. 67 unter Hinweis auf Beschlüsse des LSG Niedersachsen/Bremen vom 15.12.2005 - L 8 AS 427/05 ER und vom 31.03.2006 - L 7 AS 343/05 ER; siehe auch LSG Rhein-Land-Pfalz, Beschluss vom 04.10.2006, L 3 ER 148/06 AS). Im Übrigen ist bei einem Vergleich mit dem Verbrauchsverhalten etwa erwerbstätiger Personen zu beachten, dass sich Hilfeempfänger naturgemäß in der Regel länger, weil auch während der - heizungsintensiveren - Tagzeit in der eigenen Wohnung aufhalten (a.a.O.; zum ganzen siehe auch Lang, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 22 Rn. 46).
Insgesamt ergibt sich allein aus der Abweichung des von der Firma U bei der Antragstellerin ermittelten Heizbedarfs von den von der Beklagten in Ansatz gebrachten Durchschnittswerten keinerlei Hinweis auf ein unsachgemäßes Heizverhalten der Antragstellerin, welches zu einer Unangemessenheit ihrer Heizkosten führen würde. Die Antragsgegnerin hat es mit dem Rückgriff auf die von ihr angesetzten Durchschnittswerte versäumt, konkret zu ermitteln, ob Anhaltspunkte für ein solches unangemessenes Heizverhalten bestehen. Hierzu müsste sie sich näher mit der Beschaffenheit der Wohnung der Antragstellerin im Vergleich zu den anderen Wohnungen im Haus, mit dem Heizbedarf der anderen Hausbewohner und ggf. sonstigen anderen wesentlichen Umständen, die die Aufwendungen für Heizung im Einzelfall beeinflussen können, auseinander setzen. Dazu bedarf es notwendigenfalls auch entsprechender tatsächlicher Erhebungen im Rahmen der Amtsermittlungspflicht der Antragsgegnerin. All diesen notwendigen Aufwand durch Anwendung von Durchschnittswerten zu umgehen, ist jedenfalls solange nicht zulässig, als eine Verordnung im Sinne von § 27 Nr. 1 SGB II nicht existiert; was rechtens wäre, wenn eine solche Verordnung existierte, hat der Senat hier nicht zu entscheiden.
Ggf. sind entsprechende nähere Ermittlungen - z.B. auch durch Einschaltung eines Gutachters - im Hauptsacheverfahren nachzuholen. Dort können etwa auch die Diskrepanzen aufgeklärt werden zwischen der von der Antragsgegnerin behaupteten Zusammensetzung der Bewohnerschaft des von der Antragstellerin bewohnten Hauses und der Zusammensetzung, wie sie die Antragstellerin vorträgt. Einstweilen jedenfalls ist es der Antragsgegnerin in Ansehung der von ihr bislang unterlassenen näheren Ermittlungen zuzumuten, die tatsächlichen Aufwendungen der Antragstellerin für Heizung zu übernehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).